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“Ich durfte Schmiere stehen”

Als Dörte K., Mutter von drei Söhnen im Alter von 27, 25 und 14 Jahren, im Jahr 2016 mit ihrem Jüngsten zu einer Untersuchung in die Berliner Charité ging, wurde sie sofort gefragt, ob sie Alkohol in der Schwangerschaft getrunken habe. Ihrem Sohn fehlt nämlich ein Gehörgang, klassisches Indiz für fetale Alkoholschäden. Völlig überrascht wehrte Dörte, die in keiner ihrer Schwangerschaften Alkohol konsumiert hatte, die Vermutung ab. Und völlig überrascht ging sie anschließend mit Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom für sich selbst nach Hause.

Einige Zeit später sollte der Berliner FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr diesen Verdacht bestätigen. Da war die Brandenburgerin schon 44 Jahre alt und hatte bis dato immer nur gedacht, dass sie “eben dumm” sei. “Wie soll man sich seine Defizite denn auch sonst erklären?”, fragt sie. Ihrer Seele habe das nicht gut getan, konstatiert Dörte: “Ich habe wenig Selbstwertgefühl. Immer noch. Nicht mehr so schlimm. Es ist besser geworden.”

Was hat die Ärzte veranlasst, den Verdacht auf FAS zu äußern?

Dörte: Sie fragten mich über meine Vergangenheit aus. Ich erzählte ihnen von meinen Gefühlsausbrüchen, meinen Ängsten und Depressionen, von meiner Vergesslichkeit, der Unordentlichkeit und meiner Überforderung. Und ich erzählte von dem Alkoholproblem meiner Mutter.

In welcher Form hatte sie ein Alkoholproblem?

Dörte: Sie hat heimlich getrunken. Sie war unauffällig, weil sie ja alles geschafft hat – den Haushalt, alles familiäre, sich gut um mich zu kümmern.

Wie hast Du es gemerkt?

Dörte: Da war ich zwölf Jahre alt. Eine Freundin hat mich darauf gebracht, als sie sagte, dass meine Mutter immer nach Alkohol rieche. Und dann habe ich zufällig mitbekommen, dass sie Alkohol in Schraubgläser und andere Gefäße in der Küche abgefüllt hat. Als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie. Das ist jetzt unser großes Geheimnis. Auch der Papa darf davon nichts wissen.

Wie war Deine Reaktion?

Dörte: Meine erste Reaktion war positiv. Wie toll, ich habe ein Geheimnis mit meiner Mutter. Im Urlaub durfte ich dann Schmiere stehen auf der Toilette, wo sie Alkohol abgefüllt hat.

Dein Vater muss das doch mitbekommen haben?

Dörte: Ja schon, aber er war Musiker und sehr viel unterwegs. Ich erinnere mich aber, dass er viel mit ihr geschimpft hat. Und er hat mich geschimpft. Er meinte, ich hätte mich zur Co-Alkoholikerin gemacht.

Wann hast Du gemerkt, dass der Alkoholkonsum Deiner Mutter ein großes Problem ist?

Dörte: Sie war morgens, wenn sie nüchtern war, ganz anders als am Abend. Das war eine völlige Wesensveränderung. Das hat mir Angst gemacht.

Trotz Deiner persönlichen Schwierigkeiten und der Situation zu Hause hast Du die Schule geschafft und eine Ausbildung zur Wirtschaftspflegerin gemacht.

Dörte: Weil meine Mutter mich bei allem immer unterstützt hat. Und dann gab es noch meinen Großvater. Da hatte ich immer einen festen Halt.

Wie hast Du die Diagnose aufgenommen?

Dörte: Ich war erst einmal erleichtert. Aha, jetzt weiß ich wenigstens, warum ich so bin. Jetzt weiß ich, dass ich nicht einfach nur dumm bin. Es war gleichzeitig aber auch beschämend. Eine zeitlang hatte ich große Wut auf meine Mutter. Jetzt habe ich ihr aber vergeben. Ich habe meine Mutter ja auch geliebt. Ich hatte einen Jenseitskontakt und das war sehr schön und da kam viel Liebe rüber. Außerdem ist Alkoholsucht eine Krankheit. Noch dazu herrschte in den 70er Jahren noch große Unwissenheit über die Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.

Wie hat Dein persönliches Umfeld auf die Diagnose reagiert?

Dörte: Meine Eltern sind beide schon verstorben. Meine Söhne haben total unterschiedlich reagiert. Am liebevollsten war der Jüngste. Der interessiert sich sehr dafür. Mama, wenn das so ist, ich hätte Dir früher schon viel mehr geholfen und helfe Dir jetzt auf jeden Fall mehr. Mein Ex-Mann, der Vater von den drei Söhnen, sagte: Ach deshalb warst Du so.

Zu meinem jetzigen Mann war ich ganz ehrlich gewesen als wir uns kennen lernten. Er hatte nichts besseres zu tun, als es allen seinen Freunden zu erzählen. Ich habe mich dann gewundert, als eine Frau auf mich zukam und sagte, ich solle doch mal meine Lippen zeigen. Mein Mann und ich hatten daraufhin einen Riesenkrach, weil ich ihm vorwarf, dass er mich doch nicht als behinderte Anschauungspuppe darstellen könne. Für ihn bin ich abgestempelt. Wenn ich mal wütend bin, dann sagt er immer, na siehste, bist halt bekloppt.

Wirst Du ärztlich versorgt?

Dörte: Ich habe eine Neurologin. Die hat auch die Diagnose von Spohr. Aber die glaubt mir nicht. Sie sagt immer, Sie können mehr – weil ich ja auch die Rente beantragt habe. Sie sagt immer, Sie trauen sich zu wenig zu, sie sehen immer so gut und gesund aus. Das kann nicht sein, dass sie krank sind. Ich denke mir, das hat doch nichts mit dem Aussehen zu tun. Das Problem liegt doch innen.

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Alkohol in der Schwangerschaft: Jeder Tropfen kann schaden

Anlässlich des Tages des alkoholgeschädigten Kindes hat unser Kampagnenpartner dm-glückskind um ein Interview mit unserem Supporter und Berater im HAPPY BABY-Online-Team, dem Arzt Philipp Wenzel aus dem FAS-Fachzentrum Walstedde, gebeten. Seit 2019 unterstützt das Team von dm-glückskind die HAPPY BABY-Aufklärungskampagne und nutzt seine Reichweite, Menschen allerorten über die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und vor dem Fetalen Alkoholsyndrom zu warnen: https://www.dm.de/tipps-und-trends/schwangerschaft/ernaehrung/alkohol-in-der-schwangerschaft-52176

glückskind: Herr Wenzel, sind manche Kinder besonders von Schädigungen durch Alkohol in der Schwangerschaft betroffen? 

Philipp Wenzel: Bei mir in der Klinikambulanz werden Säuglinge, Kleinkinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr vorgestellt. Sie kommen aus allen Gesellschaftsbereichen. Alkohol während der Schwangerschaft ist nicht nur in unaufgeklärten, bildungsfernen Schichten ein Thema, sondern auch in bessergestellten Familien. Neben typischen Verläufen bei ganz jungen Schwangeren, die Partys feiern und dabei nicht auf das Wohl des Kindes achten, gibt es zum Beispiel wohlsituierte werdende Mütter, die sich während der Schwangerschaft zum Sektfrühstück treffen.

glückskind: Wie sehen die Schäden aus, die beim Ungeborenen durch Alkohol verursacht werden?

Philipp Wenzel: Wir unterscheiden drei verschiedene Unterdiagnosen: Bei der Alkohol-Spektrum-Störung weisen die Betroffenen keine körperlichen Auffälligkeiten auf. Beim Partiellen Fetalen-Alkohol-Syndrom zeigen sich Auffälligkeiten im Gesicht: ein verschmälertes Oberlippenrot, schmalere Lidspalten – die Augen sind schmaler – oder ein ebenes Filtrum, das ist die Rinne zwischen Nasenspitze und Oberlippe. Beim Vollbild des Fetalen-Alkohol-Syndroms (FAS) gibt es zudem Auffälligkeiten bei der Längen- und Gewichtsentwicklung. Die Kinder sind kleiner und leichter als 90 Prozent der Gleichaltrigen. Wir sehen bei FAS auch oft Herzentwicklungsstörungen, etwa Löcher in der Herzscheidewand, Entwicklungsstörungen im Uro-Genitaltrakt, dass etwa bei Jungen die Hoden vom Bauchraum nicht in die Hodensäcke wandern, und verkleinerte Organe.

glückskind: Gibt es etwas, das Betroffene aller drei Formen/Unterdiagnosen von Alkoholschädigungen gemeinsam haben?

Philipp Wenzel: Ja, was sie alle eint sind sehr vielfältige seelische Auffälligkeiten und ein verändertes Verhalten. Wir beobachten eine verminderte Intelligenz (IQ von unter 70), eine verzögerte Entwicklung, Störungen im Bereich Sprache und Feinmotorik, Probleme mit der räumlichen Wahrnehmung und Orientierung, fehlende Aufmerksamkeit, Probleme der Lern- und Merkfähigkeit sowie Schwierigkeiten komplexe Probleme und Handlungsabfolgen zu bewältigen. Soziale Fähigkeiten sind eingeschränkt. Psycho-soziale Problematiken und Defizite sind an der Tagesordnung. 

glückskind: Welche Verhaltensauffälligkeiten sind für das Vollbild von FAS typisch, bei dem die Alkoholschädigung am meisten ausgeprägt ist?

Philipp Wenzel: FAS-Betroffene kann man quasi als trockene Alkoholiker ansehen. Sie haben eine starke, massive Neigung zu Suchtmitteln: Drogen, Alkohol, aber auch Spiel- und Mediensucht. Betroffene können Gefahren nicht gut einschätzen, zeigen ein hohes Risikoverhalten, sind sehr draufgängerisch und dadurch als junge Erwachsene nicht selten in Straftaten involviert wie etwa Diebstahl. Sie sagen dann als Begründung etwa: „Ich finde das interessant, ich nehme das mit, das steht ja da“ – nicht nachvollziehbar für jemanden, der die Problematiken dieser von Alkohol geschädigten Menschen nicht kennt. 

glückskind: Es gibt immer wieder Mütter, die erzählen, sie hätten in der Schwangerschaft hin und wieder Alkohol getrunken. Aber ihre Kinder sind vollkommen gesund. Wie kann das sein? 

Philipp Wenzel: Es gibt keine sichere Menge an Alkohol für Schwangere. Wir können nicht sagen, ab wann beim ungeborenen Kind eine Schädigung auftritt. FAS kann ein Phänomen von Schwangeren sein, die Alkoholikerinnen sind, aber auch eines von „drei Tropfen zum falschen Zeitpunkt“. Das ist ganz unterschiedlich. In meiner Arbeit sehe ich Kinder, deren Mütter sagen: „Ich habe aber nur einmal getrunken“ – deren Kinder sind aber massiv betroffen, und dies ist dann auch wirklich nicht anders zu erklären. Und es kommen Kinder zu mir, deren leibliche Mütter angeben: „Ich habe fast jeden Tag Alkohol getrunken, auch in höheren Mengen“ – und die Kinder haben davon keine so starken Schäden davon getragen, wie ich es erwarten würde. Es kann auch sein, dass eine Schwangere einen Schluck trinkt und ihr ungeborenes Kind bekommt glücklicherweise keine Schädigung. Das Risiko ist aber sehr hoch, dass das Kind eine Schädigung bekommt, wenn eine werdende Mutter Alkohol trinkt. 

glückskind: Gibt es eine Phase in der Schwangerschaft, in der Alkohol ungefährlich ist? 

Philipp Wenzel: In der Frühphase der Schwangerschaft treffen Samen und Eizelle aufeinander und sind erst mal nicht mit dem mütterlichen Organismus verbunden. Wer also zum Zeitpunkt der Zeugung getrunken hat, muss keine Alkoholschädigung befürchten. Und dann gibt es eine lange Phase in den ersten zwei Wochen der Schwangerschaft, in denen sich die Zellen teilen, bevor sich die Eizelle einnistet. Tritt dann eine Schädigung auf, kommt es nicht zur Einnistung oder der Körper bricht die Schwangerschaft sehr früh ab. 

glückskind: Wen sehen Sie außer der Mutter in der Verantwortung, ob ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt? 

Philipp Wenzel: Der Alkoholkonsum der Mutter ist das, was das Kind am Ende schädigt. Sagen wir: „Klar, es liegt nur an der Mutter“, machen wir es uns aber viel zu einfach. Wenn eine Schwangere zum Beispiel auf eine Geburtstagsfeier geht und sagt: „Ich bin schwanger und möchte nur Wasser trinken, Cola oder Saft“, gibt es immer wieder Leute, die sagen: „Ach komm, ich habe gehört, das ist doch gar nicht so schlimm, nur ein Schluck macht nichts.“ Oder eine werdende Mutter ist auf einer großen Familienfeier – alle haben ein Sektglas in der Hand und sie fühlt sich ausgeschlossen. 

Da lassen sich manche Mütter durch die Gruppendynamik davon überzeugen, Alkohol zu trinken. Es liegt immer in der Verantwortung von allen, die im sozialen Gefüge näher an der Schwangeren dran sind, ihr den Verzicht einfacher zu machen und ihr zu helfen, diese neun Monate zu überbrücken. Gibt es einen Partner oder eine Partnerin, finde ich wichtig, dass diese enge Bezugsperson der Schwangeren ebenfalls keinen Alkohol trinkt.

glückskind: Was ist eigentlich in der Stillzeit in puncto Alkohol zu beachten?

Philipp Wenzel: Alkohol, der von stillenden Müttern getrunken wird, geht in die Muttermilch über. Er wird aber von der Mutter abgebaut und geht nicht wie in der Schwangerschaft sofort auf das Kind über, da die beiden Organismen nun getrennt sind. Alkohol in der Stillzeit ist daher möglich aber nicht ungefährlich: Es muss nach dem Konsum zwingend eine Zeit abgewartet werden, bis der Alkohol den mütterlichen Körper verlassen hat beziehungsweise abgebaut ist. Diese Zeit richtet sich unter anderem nach dem Gewicht der Mutter und der konsumierten Alkoholmenge, aber auch nach individuellen Gegebenheiten. Zur Berechnung gibt es Faustregeln – die sind aber meistens sehr unsicher. Alkohol in der Stillzeit richtet nicht so schwere Schäden an, wie in der Schwangerschaft. Da die meisten Organe des Kindes vollständig entwickelt sind. Trotzdem ist Alkohol in der Stillzeit gefährlich. Die Leber der neugeborenen Kinder braucht doppelt so lange zum Abbau von Alkohol. Der Alkohol kann also länger wirken und als Giftstoff die empfindlichen Nervenzellen des Kindes schädigen. Alkohol bei Neugeborenen führt oft zuIntelligenzminderungen und Entwicklungsstörungen.
Daher ist auch in der Stillzeit meine Empfehlung, auf Alkohol vollständig zu verzichten.

glückskind: Wird unsere Gesellschaft und Politik der Verantwortung, das Ungeborene vor Alkohol zu schützen, gerecht?

Philipp Wenzel: Da stellt sich die Frage, ab wann ein Lebensmittel alkoholfrei heißen darf oder ab wann Alkohol deklariert werden muss. In Deutschland ist das nicht bei 0,0. Es dürfen auch alkoholfreie Biere am Markt sein, die 0,5 Volumenprozent Alkohol enthalten, was für das ungeborene Kind genauso schädlich ist. Schwangere sollten also auf die 0,0 achten, die manche Hersteller angeben. Es gibt keine sichere Menge Alkohol, auch zum Beispiel nicht in Tropfen gegen Übelkeit in der Frühschwangerschaft oder anderen pflanzlichen Medikamenten, die manchmal unbedacht eingenommen werden. 

Was mir fehlt ist Aufklärung. Das schockiert mich immer wieder, dass es zum Beispiel Frauenarztkolleginnen und -kollegen gibt, die Schwangeren raten: „Wenn Sie mal abends nicht schlafen können, dann trinken Sie doch mal ein Glas Rotwein.“ Oder: „Wenn Sie morgens nicht aus dem Quark kommen, lassen Sie doch mal den Kaffee weg und trinken ein Gläschen Sekt, das hilft Ihnen auch.“ Viele wissen gar nichts über die ganzen Alltagsrisiken, wie: Was ist alkoholfrei? Was darf man eigentlich wirklich in der Schwangerschaft? Und so „ein Schlückchen in Ehren, da wird schon nichts passieren“ – so viele Trugschlüsse und in Folge vermeidbare, ärgerliche, tragische Schicksale. Wir reden hier über eine vermeidbare Erkrankung oder ein Störungsbild. Auch wenn es meine Arbeit ist, ethisch betrachtet und aus meiner beruflichen Überzeugung heraus, wäre ich gerne arbeitslos und würde gerne sagen: „Es gibt keine alkoholgeschädigten Kinder, weil wir es endlich hingekriegt haben, gesamtgesellschaftlich und politisch und medizinisch dem einen Riegel vorzuschieben.“

glückskind: Wenn ein Kind körperlich unauffällig ist, aber hirnorganische Schäden davongetragen hat, wie stellen Sie fest, dass es sich um fetale Alkoholschäden handelt?

Philipp Wenzel: Eine Fetale Alkohol Spektrum Störung, bei der keine körperlichen Auffälligkeiten vorliegen, darf ich immer nur dann diagnostizieren, wenn es gesicherte Informationen darüber gibt, dass die leibliche Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Wir schicken im Rahmen unserer Diagnostik auch ein Schreiben an die Mutter, in dem sie Fragen zum Alkoholkonsum ankreuzen kann. Je weniger körperliche Auffälligkeiten vorliegen, desto sicherer müssen wir bei den Verhaltensauffälligkeiten sein und diese auch etwa von einer kindlichen Depression oder ADHS abgrenzen. Da bin ich als Diagnostiker, im Rahmen meiner Wahrnehmung, im Rahmen diagnostischer Leitlinien und normierten Tests (Intelligenztest, Tests dazu, wie schnell ein Kind etwas verarbeitet, Aufmerksamkeitstest etc.) gefragt.

glückskind: Wie viele Kinder werden überhaupt als alkoholgeschädigt erkannt?

Philipp Wenzel: Eines von sieben betroffenen Kindern wird diagnostiziert. Die Dunkelziffer ist hoch. Wir wissen, dass wir zu wenige Diagnostiker sind. Es gibt in Deutschland keine zwei Handvoll Zentren, die das leitliniengerecht und wirklich zuverlässig tun. Manche Kollegen agieren nach Gutdünken und nicht nach den Leitlinien. Sie sagen, „Zeigt das Kind keine Auffälligkeiten im Gesicht und am Körper, ist es auch kein FAS.“ Es gibt aber wie gesagt die Fetale-Alkohol-Spektrum-Störung – da sehen betroffene Kinder normal aus. Wir brauchen mehr Diagnostiker. Wie gut ist die Trennschärfe zwischen ADHS und FAS? Bei wie vielen Kindern wurde ADHS diagnostiziert, sie leiden aber (auch) an einer Fetale-Alkohol- Spektrum-Störung? Welche Kinder sind aufgrund der fehlenden Bekanntheit von FAS auch in der Fachwelt nicht hinreichend diagnostiziert und laufen unter anderen Diagnosen, die hirnorganische Schädigungen gar nicht berücksichtigen? Auf all diese Fragen habe ich keine Antwort. 

glückskind: Wie wichtig ist die Früherkennung und welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es für Betroffene?

Philipp Wenzel: Wenn eine Alkoholschädigung früh erkannt wird, können wir früh einschreiten und das betroffene Kind früh bestmöglich fördern. Wichtig ist, das Kind als Ganzes im Familien- oder seinem Bezugssystem zu betrachten und dann die notwendige Behandlung auf den Weg bringen, die nicht nur medikamentös, sondern auch strukturell und therapeutisch ist. Wir wissen, dass Frühförderung, Ergotherapie, Logopädie, therapeutisches Reiten, also die nicht klassische Psychotherapie, sondern gerade die Zusatztherapien, den Übergang in das junge Erwachsenenalter deutlich verbessern. Wichtig ist, dass die Therapieansätze individuell angepasst sind. Oftmals brauchen Betroffene im Kindes- und Jugendalter ständige Begleitung und Aufsicht, damit sie keine Fehlverhaltensweisen zeigen, von aggressiven Impulsausbrüchen, über Zündeln bis hin zu Diebstahl usw. 

glückskind: Was hilft betroffenen Kindern darüber hinaus?

Philipp Wenzel: Dass sie in ein liebevolles familiäres System eingebunden sind ist superwichtig, aber das kann leider sehr oft nicht geboten werden. Die Kinder brauchen einen ganz stabilen Rahmen und wenig Veränderungen – und wenn, dann nur solche, die lange vorher angekündigt sind, sodass es zu wenig Irritation kommt. Dann ist hier der liebevoll stützende Rahmen wichtig: „Du bist hier, du bist hier sicher, du bleibst, alles bleibt so bestehen wie es ist und alle kümmern sich auch so um dich, wie sie es versprechen.“

… Bis man an den Punkt kommt, die Betroffenen zum Profi für die eigene Erkrankung zu machen, sodass sie die eigenen Defizite verstehen, aber auch im positiven Sinne sagen: „Ich kann aufgrund meiner Ressourcen meine Defizite ein Stück weit kompensieren.“ Es geht auch darum, dass sie akzeptieren, „Ich bin an der Stelle nicht gut aufgestellt, ich werde weiter Hilfe brauchen.“ Sodass wir später gemeinsam überlegen können, wie kann es im Berufsleben weitergehen. Viele Betroffene brauchen erfahrungsgemäß Zeit ihres Lebens Unterstützung – manche im Rahmen der Hilfe für schwerstbehinderte Menschen, manche aber auch nur im Rahmen von betreuerischer Unterstützung und juristische Betreuung. Fest steht: Wer von FAS betroffen ist, hat eine Schädigung fürs Leben. 

glückskind: Apropos „Experte für die eigene Erkrankung sein“, wie und wann können die Kinder die Diagnose Alkohlschädigung begreifen?

Philipp Wenzel: Man muss bedenken, FAS ist immer eine Diagnose für zwei, also auch für die Mutter. Die Diagnose ändert nichts mehr, erklärt aber, wo die Erkrankung herkommt. Man muss sehen, wie gut ist das Kind aufgestellt, versteht es das überhaupt? Können die Betroffenen die Tragweite verstehen? Das ist total unterschiedlich. Oft ist es auch ein Prozess. Manchmal sitze ich hier in drei, vier Terminen mit den Betroffenen, und wir reden darüber: „Warum ist das eigentlich bei mir so? Welche Erkrankung ist das? Ist das wirklich FAS? Habe ich noch etwas anderes? Ist jetzt meine Mutter schuld? Warum hat sie das gemacht?“ Es ist eben ein komplexes Thema. Was folgt ist die „Psychoedukation“, das heißt, Wege zu finden, wie die Betroffenen ihre Probleme meistern und kompensieren können und aus dieser schlechten Nachricht heraus, ich habe FAS, dennoch einen konstruktiven Weg gehen können. Die meisten Betroffenen müssen aus meiner Perspektive bis in ihre 30er-Jahre Medikamente nehmen. Allein, um sich konzentrieren und sich selbst regulieren zu können, nicht auszurasten, keine intensiven Stimmungsschwankungen zu erleiden, nicht zu klauen und Anforderungen annehmen zu können. Viele Betroffene brauchen dauerhaft Medikation.

glückskind: Wie steinig ist dieser Weg, den die Betroffenen gehen müssen?

Philipp Wenzel: Die Kinder tun mir wirklich leid. Auf der einen Seite zeigen sie sich – durch ihre intensiven Stimmungsschwankungen, aggressiven Verhaltensweisen und gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten – so igelig, stachelig nach außen. Und diese Kinder so zu akzeptieren, anzunehmen und wirklich zu mögen und zu lieben ist für Menschen, die FAS nicht verstehen, total schwer. Die sagen: „Ich komme an das Kind nicht heran, es verhält sich so oft fehl und es ändert sich nicht.“ Das Kind beteuert, etwas nie wieder zu tun, dreht sich um und macht dasselbe wieder. Es gibt wenige Erwachsene, wenige Eltern, die sagen: „Ich kann das, ich kann diesem Kind mit Liebe und Achtung begegnen.“ Die Kinder haben ja auch trotzdem ihre emotionalen Bedürfnisse wie andere Kinder auch. Im späteren Leben können FAS-Betroffene übrigens selbst gesunde Kinder zur Welt bringen – danach werde ich oft gefragt.

glückskind: Was brennt Ihnen noch auf den Nägeln zu sagen?

Philipp Wenzel: Einmal in der Schwangerschaft Alkohol getrunken und zehn Jahre später stehen wir in unserer Klinik und brauchen so viele Hilfesysteme, müssen mit allen Risiken ein Kind auch medikamentös behandeln, und müssen so viele Defizite auffüllen. Das ist teilweise unglaublich! Aus diesem einmaligen Alkoholkonsum wird ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es ist auch ein riesiges finanzielles Thema. Es sollte auch unserem Gesundheitssystem Wunsch und Wille sein, Präventionsarbeit zu betreiben und aufzuklären. 

glückskind: Danke, Herr Wenzel, für dieses Gespräch! 

Das Entsetzen war größer als die Scham

Es war extrem hart für mich zu realisieren, dass ich FAS habe. Denn FAS haben heißt, es gibt kein Mittel dagegen. Das bedeutet, dass ich ein Leben lang damit klar kommen muss, dass ich sehr sehr viele Dinge nicht kann und nicht werde lernen können. Und selbst wenn ich etwas erlernt habe, dass es urplötzlich wieder verschwindet. Es ist so schwer zu akzeptieren, dass ich deshalb viele meiner Träume begraben muss. Und besonders schlimm ist, dass ich nie komplett selbständig werde leben können.

Was mich obendrein schmerzt, ist die Tatsache, dass ich das alles klar vor Augen habe. Ich verstehe, fühle und weiß ganz genau, was mit mir ist. Ich kann das alles reflektieren.

Das macht das Leben für mich nicht leichter – weil ich fühle, wie es anders ist und anders sein könnte. Das macht mich wütend, das macht mich traurig. Ich frage mich, warum nur? Warum ich? Tja, das fragt sich wohl jeder, der ein Handicap oder eine schlimme Krankheit hat. Manchmal, wenn so vieles schief läuft, dann will ich auch nicht mehr.

Gut ist, dass diese Gefühle auch wieder aufhören und ich mir selber sagen kann: Es macht keinen Sinn, zu sehr darüber nachzudenken, weil man es ja nicht ändern kann und weil man, wenn man die ganze Zeit grübelt, es einem nur noch schlechter geht. Es ist besser, die Sache anzunehmen und irgendwie das Beste daraus zu machen.

Es ist ja auch nicht so, dass ich keine Talente hätte und nichts Schönes erleben würde. Und ich glaube, dass es auch viel ausmacht, wenn man ein schönes Zuhause hat und eine Familie, auf die man sich verlassen kann, so wie ich. Das gibt mir viel Sicherheit.

Trotzdem habe ich mich so lange geschämt für mich, geschämt dafür, dass ich FAS habe. Deshalb hätte ich mir auch niemals vorstellen können, dass ich eines Tages anderen gegenüber mal über die Lippen bringen würde: Ich habe FAS.

Bis, ja, bis der Tag kam, als mein Entsetzen über das, was ich da sah, größer war als meine Scham. Ein Mädchen, das ich kenne, hochschwanger, saß fröhlich auf der Bank und trank Bier. Ich dachte: Was macht sie da bloß? Das geht doch nicht.

Ich bin zu ihr hin und habe zu ihr gesagt: “Hey, lass’ das, Du darfst keinen Alkohol trinken, sonst passiert Deinem Baby, was mir passiert ist.” Das Mädchen sah mich mit großen Augen an und fragte: “Wieso? Was denn? Was meinst Du?” Zum ersten Mal kam über meine Lippen: “Ich habe FAS, meine biologische Mutter hat Alkohol getrunken, als sie mit mir schwanger war. Jetzt habe ich ganz viele Probleme und muss starke Medikamente nehmen.”

Das Mädchen ließ die Bierflasche sinken und wollte wissen: “Was denn für Probleme?” Ich erwiderte: “Ich kann mich ganz schlecht konzentrieren, ich vergesse furchtbar viel, ich bin oft unruhig und ich kann mich schlecht kontrollieren, wenn ich wütend bin und ich werde leider ganz schön schnell wütend. Und Mathe kann ich fast gar nicht.” Außerdem gestand ich ihr, dass ich manchmal blöde Sachen anstelle, weil ich meistens gar nicht so wirklich weiß, was ich da eigentlich mache. Erst hinterher wird mir das klar, wenn ich Ärger kriege und wir darüber reden.

Ich habe das Mädchen dann gar nicht mehr gesehen. Später habe gehört, dass sie kein Alkohol mehr angerührt und ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat. Das hat mich wahnsinnig gefreut.