Sofortige Planänderung war der Durchbruch
Eigentlich hatten sich Charlotte* und Thomas* ein Pflegekind auf Dauer gewünscht. So war es auch mit dem Jugendamt in Nordsachsen vereinbart. “Aber von jetzt auf gleich bekamen wir zwei kleine misshandelte und vernachlässigte Würmchen nur in Obhut”, erinnert sich Charlotte. Der ältere Wurm blieb nur vier Wochen und wurde der leiblichen Mutter übergeben. Der kleine Bruder Kelly* blieb ein ganzes Jahr bei Charlotte und Thomas. Dann wollte die leibliche Mutter auch ihn wiederhaben.
“Ich glaube, das Jugendamt hatte uns testen wollen, und außerdem haben die wohl auch niemand anderen für die Jungs gehabt als uns”, kommentiert die Pflegemutter. Im Anschluss wurde dem Ehepaar ein zehnjähriges Mädchen anvertraut, das sie aber nach drei Wochen ablehnten auf Dauer zu nehmen. Charlotte: “Es war überhaupt keine Nähe zu diesem Kind möglich.” Für das Jugendamt kein Wunder, denn Charlotte und Thomas seien nicht ‘milieunah genug für dieses Klientel’. “Was man sich alles anhören muss”, klagt Charlotte.
Ein Jahr später klingelte das Telefon erneut. “Das Jugendamt suchte dringend nach einer Endlösung für Kelly”, berichtet die ehemalige Investmentbankerin. Das arme Kind, nun fünf Jahre alt, war in der Zwischenzeit in der Psychiatrie gelandet. “Wir sind sofort nach Leipzig gefahren”, so die Pflegemutter, “durch die Glastür hat Kelly mich gleich erkannt.” Bis heute hat Charlotte im Ohr, wie er “Mama” rief und dabei seine Händchen gegen die Scheibe presste. Spätestens jetzt hätte nach Meinung der Pflegeeltern das Jugendamt die Karten auf den Tisch legen müssen. Aber sie erhielten keinerlei Informationen über den Gesundheitszustand und die Familienverhältnisses des Jungen, geschweige denn irgendwelche Arztberichte.
Und das, obwohl dem Jugendamt bekannt gewesen sein muss, dass die leibliche Mutter alkohol- und drogenabhängig war, denn es stellte sich heraus, dass diese schon mehrere Entzugs- und Paartherapien absolviert hatte. Aber so war das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) “kein Thema”, sagt die nunmehr 53 Jahre alte Pflegemutter. Das aggressive delinquente Allgemeinverhalten des Kindes wurde stets mit Traumata erklärt. In der Psychiatrie habe man den Pflegeeltern weiß gemacht, dass alles gut werde mit Kelly, wenn er in ein stabiles soziales Umfeld komme. Blauäugig wie sie damals beide gewesen seien, glaubten die Pflegeeltern dies auch. “Behandelt wurde der Junge dort übrigens mit Neurocil-Tropfen”**, erinnert sich Charlotte, “die haben den einfach nur ruhig gestellt. Das haben wir sofort ausschleichend abgesetzt.” Glücklicherweise hat Charlotte eine Kinderärztin zur Freundin, die sie beriet.
Kelly entwickelte sich zunächst gut. Die Pflegeeltern dachten, mit geordneten, behüteten Lebensverhältnissen und viel Liebe und Engagement sei es zu schaffen, Kelly auf einen guten Weg zu bringen. Dass alle Pflegekinder ein dickes Päckchen mitbringen würden, damit rechneten Charlotte und Thomas sowieso. Sie betrachteten es als positive Herausforderung und es war und ist ihr Wunsch, einem Pflegekind den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen. Neben Platz und Geld hatte das Ehepaar reichlich Ressourcen, sich einer solchen Aufgabe zu stellen. “Meine beiden eigenen Kinder sind völlig problemlos durchgelaufen. Ich musste meine Fähigkeiten als Mutter nie unter Beweis stellen”, sagt Charlotte. Eher schon ihre eigene Resilienzfähigkeit. Charlotte war acht Mal schwanger und musste sechs Kinder zu Grabe tragen. “Das letzte war ein Kindstod mit sechs Wochen”, erzählt sie.
Als dann ihre Tochter und ihr Sohn aus den Kinderschuhen herausgewachsen waren, erlebte sie eine Freundin, die ein Pflegekind aufgenommen hatte und Charlotte wusste schnell: Das möchte ich auch. Auch ihr Mann war sofort dabei. Den erst positiv besetzten Zeiten folgten schwere Probleme im Kindergarten. Kelly galt alsbald als “Abschaum der Gesellschaft”, schlimmes Mobbing wurde dadurch Programm. Die ganze Familie litt. Eines Abends sah Charlotte im Fernsehen eine Sendung über das Fetale Alkoholsyndrom, in der über das Schicksal eines Betroffenen berichtet wurde. “Das genau ist Kelly”, entfuhr es Charlotte sofort. Am nächsten Morgen griff sie zum Telefon und erreichte einen Termin beim FAS-Experten Professor Hans-Ludwig Spohr in Berlin. Nach vier Stunden Untersuchungen und Gesprächen war klar: Kelly hat das Vollbild. “Wir haben aber nicht verinnerlicht, was das bedeutet”, gesteht die Pflegemutter rückblickend. Auch das Jugendamt habe die Diagnose nicht realisiert. Mehr noch, man habe die ausgewiesene Experten-Expertise abglehnt und die Pflegeeltern mussten das Gutachten aus der eigenen Tasche bezahlen. Und so suchten Charlotte und Thomas das Kind zu fördern, wie es nur irgend möglich war.
Rückblickend ist den Pflegeeltern klar: Das war die völlige Überforderung für Kelly. In der Schule eskalierte es in der zweiten Klasse wieder. Denn Kelly machten unter anderem Diskalulie und Legasthenie zu schaffen. Das blieb nicht folgenlos. Charlotte und Thomas wurden wegen Kelly’s dissozialem Verhalten permanent von den Lehrern einbestellt. Zu Hause kam es immer wieder vor, dass er in ohnmächtiger Wut die Wohnung demolierte. Auch in der Freizeit, beim Sport – “ständig mussten wir uns mit anderen über unser Kind auseinandersetzen.” Und nichts habe sich weiterentwickelt. “Wir traten auf der Stelle”, mussten sich Charlotte und ihr Mann eingestehen.
In der 4. Klasse sei endgültig klar gewesen: Ohne Hilfe geht es nicht mehr. Kelly bekam einen Schulbegleiter, Kelly erhielt eine Traumatherapie. Der Schulbegleiter war eine gute Sache, die Therapie weniger und wurde wieder abgebrochen, “weil sie nichts brachte und die Psychologin mir vorwarf, mich nicht genug um Kelly zu kümmern”, regt sich Charlotte bis heute auf. Und weiter: “Wir waren tatsächlich an einem Punkt angekommen, an dem wir uns fragten, ob wir die Pflegschaft nicht besser beenden sollten. Wir konnten einfach nicht mehr.”
Kelly’s darauf folgender zweiwöchiger Aufenthalt in einer kinderpsychiatrischen Klinik brachte die erste Wende für die Familie. Charlotte: “Dort fragten sie uns, wie wir an dieses Kind gekommen seien, das sei nicht familientauglich. Die Verhaltensstörungen seien bleibend.” Oberstes Gebot sei: Druck rausnehmen! Aber, wenn wir ihn jetzt fallen ließen, wäre er lost in space.”Ich habe erst einmal angefangen zu heulen. Nach zwei Stunden habe ich mir die Tränen abgetrocknet und gesagt: Okay, sofortige Planänderung!”, erzählt die ehemalige Leistungssportlerin, “wir sind dann erst einmal ganz relaxed in die Sommerferien gefahren.”
Zur Planänderung zählte ein Schulwechsel zur Klasse 5 auf eine evangelische Privatschule inklusive Schulbegleiter, Hol- und Bringdienst sowie intensivem Austausch zwischen Lehrern und Eltern. Außerdem waren Charlotte und ihr Mann inzwischen besser für das eigentliche Thema sensibilisiert, das Fetale Alkoholsyndrom. “Wir machten einen Termin bei Dr. Heike Hoff-Emden, FAS-Spezialistin am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Leipzig. “Das tat so gut bei ihr”, sagt Charlotte, “wir brauchten uns nicht erklären, sie verstand alles und sie wusste, worauf es ankommt.” Als erstes wurde eine To-Do-Liste angefertigt: Kriegen Sie doppeltes Pflegegeld? Welchen Pflegestatus hat Kelly? Hat er einen Schwerbehindertenausweis? Haben Sie Verhinderungspflege beantragt?
Charlotte und Thomas hatten von all dem keine Ahnung gehabt. Da zählte Kelly schon elf Jahre. Nun endlich wurde vieles besser. Charlotte blieb seitdem mit der FAS-Expertin Hoff-Emden und dem SPZ eng verbunden. Außerdem fing sie an ein Netzwerk zu spinnen. “Das ist so wichtig”, betont sie, “man braucht ein ganzes Dorf, um solche Kinder groß zu ziehen.” Zu dem Netzwerk zählt z. B. eine Elterngruppe, die mit Hoff-Emden auf wissenschaftlicher Basis zusammenarbeitet; aktuell zum Thema “Stressreduktion”. Außerdem hat die engagierte Pflegemutter eine Whatsapp-Gruppe für betroffene Pflege- und Adoptiveltern gegründet, in der sich rege ausgetauscht und gegenseitig informiert und unterstützt wird. Inzwischen ist Charlotte auch Dozentin für Kindeswohlgefährdung und hält Vorträge über FAS.
Damit nicht genug. Eigentlich hatten sich Charlotte und Thomas in die Hand versprochen, dass nach 25 Jahren Ehe Schluss sein sollte mit kleinen Kindern. “Tja, und dann habe ich mich verliebt”, sagt eine strahlende Mama. In die kleine Chiara* – ein Bereitschaftspflegekind, das Charlotte bei einer Freundin kennenlernte. Der Vorstoß bei ihrem Mann ließ nicht auf sich warten. Sie bekochte ihn abends und beichtete ihm “ihre Liebe auf den ersten Blick”. Als sie ihr Handy zückte, um ihrem Mann ein Bild von der Kleinen zu zeigen, rief er sofort: “Wann kann ich sie kennenlernen?” Zwei Stunden saß die Eineinhalbjährige bei diesem Treffen bei ihrem künftigen Pflegepapa auf dem Schoß. Vier Tage später machte das Ehepaar Nägel mit Köpfen und befragte die restlichen Familienmitglieder, wie sie dazu stehen. Sechs Wochen später zog das kleine Mädchen ein. Das war im Oktober 2018.
Chiara hat das partielle FAS. Aber bei ihr wissen die Pflegeeltern um ihre Defizite, sind versiert im Umgang damit, kennen ihre Rechte und können auf ein sicheres Netzwerk zählen. Unter derartigen Voraussetzungen sei es auch nicht mehr blauäugig die Hoffnung zu haben, dass der Schützling zu den 20 Prozent der FAS-Betroffenen zählen wird, die es später schaffen, ein zwar mit Unterstützung, dennoch erfülltes Leben führen zu können. ***
Woran krankt für Euch das soziale Hilfe-System in Deutschland am meisten?
“An den allgemeinen Desinformationen der deutschen Ämter. Es gibt selten Hinweise durch die Ämter, was einem als Pflegefamilie für sich und sein Kind zusteht und welche Anträge man stellen kann bzw. sollte. Außerdem sind die Jugendämter nicht im mindesten über das Fetale Alkoholsyndrom informiert. All das führt dazu, dass die Kinder, sobald sie in die Pubertät kommen, von den Pflegeeltern wieder zurück gegeben werden, weil diese vollkommen überfordert sind, ihnen aber aus Unwissenheit keiner hilft.
Was wünscht Ihr Euch für FAS-Betroffene und die Menschen, die für sie sorgen?
Aufklärung, Aufklärung und noch einmal Aufklärung. Wäre unser Umfeld aufgeklärt, dann wäre das Leben für alle sehr viel leichter.
*Namen auf persönlichen Wunsch geändert
**Neurocil® Tropfen ist ein stark dämpfendes Neuroleptikum und wird angewendet zur Dämpfung psychomotorischer Unruhe- und Erregungszustände im Rahmen psychotischer Störungen, bei akuten Erregungszuständen bei manischen Episoden, bei der Behandlung von schweren und/oder chronischen Schmerzen als Kombinationstherapie. Neurocil darf laut Packungsbeilage nicht verabreicht werden an Kinder unter 16 Jahren.
***80% der FAS-Betroffenen landen laut WHO am Rande der Gesellschaft – im Gefängnis, der Obdachlosigkeit, im Drogen- und Prostitutionsmilieu, in der Psychiatrie oder begehen Suizid.
Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne