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Für den Schulbegleiter – Unaufhörliches Bittstellen und Betteln

Viele Kinder mit fetalen Alkoholschäden benötigen Schulbegleitung. Dabei handelt es sich um eine Leistung nach dem Sozialgesetzbuch, die entweder beim Jugendamt oder beim Sozialamt beantragt werden muss. Diese sogenannte ‘schulische Eingliederungshilfe’ orientiert sich immer am individuellen Bedarf. Und so ist auch die Entscheidung über die Bewilligung genauso individuell. Pflegemama Sandra* aus Thüringen, hinter der eine Odyssee mit einem Happy End liegt, hat uns zu diesem Thema und ihren Erfahrungen einige Fragen beantwortet:

Wie lange habt Ihr gebraucht, bis ein Begleiter vom Jugendamt genehmigt worden ist?

Sandra: Acht Monate – den Antrag gestellt haben wir im Dezember 2018. Auf Initiative der Erziehungsberatungsstelle gab es Ende Januar 2019 einen runden Tisch, an dem auch der Schuldirektor saß, ein Vertreter des Allgemeinen Sozialen Dienstes („ASD“) und eine Vertreterin des Integrationsfachdienstes („IFD“). Ein weiteres Gespräch folgte im Mai. Bis Juli passierte nichts mehr mit der Begründung: “das Amt ist an Verfahrenswege gebunden“, „wir müssen den Personenkreis definieren”, „im Augenblick stehen ohnehin keine Ressourcen zur Verfügung“.

Der IFD ließ dann plötzlich verlauten, „dass jemand hospitieren gewesen sei und den Eindruck gewonnen habe, dass die Schulzeit funktioniere. Außerdem habe man festgestellt, dass das Kind gute kognitive Voraussetzungen mitbringe und seine intellektuellen Fähigkeiten wertvoll seien. Deshalb könne man von Jonas Steuerung erwarten. Im weiteren Resümee des IFD hieß es: „Die Situation ist so, dass kein Handlungsbedarf besteht.“ Dennoch wurden Defizite eingeräumt und angeregt: In einer Tagesgruppe könne der Junge lernen sich zu steuern – vielleicht könne sogar ein gewisses Maß an Empathie erlernt werden. Es liege schließlich keine geistige Behinderung vor.“

Vom ASD bekamen wir zusammenfassend mitgeteilt, dass wir uns einig seien, dass unser Antrag auf Erziehungsbeistand zurückgestellt werde. Man werde noch einmal zu einem Hausbesuch vorbeikommen und im Juni mit dem Team unseren Fall besprechen. Außerdem sei die Tagesgruppe im Augenblick ohnehin voll und hätte allenfalls ab dem neuen Schuljahr – circa August 2019 – einen Platz frei. Daraufhin folgte ein Nachtrag des IFD, dass die Situation bei ihnen nicht anders sei. Bis der Integrationsdienst eine Fachkraft gefunden habe, sprächen wir sicher auch nicht von vor dem neuen Schuljahr 2019/2020. Den Hausbesuch gab es nicht. Dafür gab es die Rückmeldung: Beim Hausbesuch im Februar habe man festgestellt, dass häuslich alles einen sehr guten Eindruck mache, der ASD üblicherweise andere Bedingungen bei hilfebedürftigen Familien antreffe. Und um beispielsweise bei einem Meltdown unterstützend einzugreifen – dafür seien die Mitarbeiter nicht ausgebildet. Das wäre dann doch eher ein Fall für die Psychiatrie.

Über welchen Träger wurde der Begleiter rekrutiert?

Sandra: In unserem Landkreis hat das Jugendamt die Erbringung der „Eingliederungshilfe“ an einen Dritten, einen gemeinnützigen Träger, ausgelagert. Bei der Bestellung von Schulbegleitern, für die regelmäßig Stellen ausschrieben werden, heißt es: „Der Bedarf an Schulbegleitern ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Sowohl gelernte Erzieher, aber auch Quereinsteiger werden als Schulbegleiter in Teil- oder Vollzeitbeschäftigung eingestellt. Bewerbungen werden jederzeit gerne entgegengenommen. Der Verein bietet den Schulbegleitern regelmäßige Fortbildungen an, die sowohl der Erweiterung der Kompetenzen als auch dem Erfahrungsaustausch dienen.“

Hattet Ihr Mitspracherecht beim Aussuchen des Begleiters?

Sandra: Der Schulbegleiter wurde uns zwei Mal jeweils am Vortag des Dienstantritts vorgestellt. Beim dritten und vierten Mal stellte sich die Begleiterin mir nachmittags auf dem Schulhof selbst vor. Über Änderungen von Arbeitsverhältnissen bzw. Kündigungen sind wir nicht bzw. kurzfristig telefonisch in Kenntnis gesetzt worden.

Worauf legt Ihr bei einem Begleiter besonderen Wert?

Sandra: Dass es ihm gelingt, eine Beziehung zum Kind herzustellen, es für sich “aufzuschließen”, um darauf aufbauend ein Partner und Helfer für unseren Sohn sein zu können. Außerdem sollte er sich mit Lehrern und Erziehern an der jeweiligen Schule verbinden und integrieren und von ihnen auf Augenhöhe akzeptiert und ins Team eingebunden werden.

Wie ist der Austausch zwischen Euch und dem Begleiter? Sandra: Von abendlichen Whatsapp-Romanen, über gelegentliche schriftliche Vermerke ins ‚Muttiheft‘ bis hin zu kurzen mündlichen Rückblicken bei Abholung vom Schulhof, war alles dabei.

Welche Probleme mit dem Begleiter hat es gegeben?

Sandra: Den ersten und längsten Helfer im Einsatz hat mein Sohn lange nicht akzeptieren und als Team-Partner annehmen wollen. Dem Begleiter ist es nicht gelungen, eine Verbindung zu meinem Sohn herzustellen. Seitens der Schule genoss der Begleiter kein Ansehen bzw. wurde mangels Kompetenz oder pädagogischen Geschicks (auch bei einem anderen Kind, das vormittags von ihm begleitet wurde) abgelehnt. Als mein Sohn endlich langsam mit ihm ‚warm‘ wurde, hat der Verein ihm außerordentlich gekündigt und uns darüber informiert, dass nach den Winterferien eine neue Begleiterin startet.

Zu den zweiten und dritten Begleitern lässt sich wenig sagen, weil aufgrund der Pandemie ihr Einsatz bald wieder endete. Eine spürbare Verbesserung gegenüber der Zeit ohne Begleitung war jedoch nicht festzustellen. Die vierte Begleiterin im Sommerferienhort schließlich war ein unerwartetes Geschenk, was ich dem Schulbegleiterverein auch so zurückgemeldet habe: „Ich möchte mich sehr gern bei Frau V. bedanken, die Jonas in den vergangenen zwei Sommerferienhortwochen so wundervoll begleitet hat. Es war Seelenbalsam für mich, in ihr auf jemanden zu treffen, die sich zur Begrüßung beim Kennenlernen proaktiv, offen und zugewandt vorstellte, die in kürzester Zeit eine gelingende und verbindliche Kommunikation zu Jonas herstellen konnte und auf die Jonas sich sofort eingelassen und zwei Wochen lang verlassen hat.“

Welchen beruflichen Werdegang hat Euer Begleiter?

Sandra: Dazu wurden uns keine Informationen zur Verfügung gestellt.

Wir kennen allerdings aus Nachbarschaft und Bekanntschaft Quereinsteiger, die im Vorfeld als Landschaftsgärtner, Supermarktverkäufer oder in der Gastronomie gearbeitet haben und in einem Zwei-Wochen-Schnellkurs auf Schulbegleiter umgeschult wurden.

Hattet Ihr schon mal einen Begleiter mit Vorkenntnissen in FAS?

Sandra: Unser erster Begleiter meinte, aus seiner früheren Einrichtung ein FAS-Kind gekannt, es allerdings nicht selbst begleitet zu haben. Die FAS-Verhaltenssymptome meines Sohnes jedoch spiegelte und berichtete er mir tagtäglich minutiös zurück – ganz offenbar ohne zu verstehen, dass dies äußerliche Hinweise auf eine dahinterliegende Schwierigkeit oder Herausforderung waren und dass ihnen mit Strenge und Konsequenz-basierten Ansätzen nicht beizukommen ist.

Wieviele Stunden und für welchen Zeitraum habt Ihr den Begleiter genehmigt bekommen?

Sandra: Circa fünf Stunden täglich für das ganze Schuljahr. Am 26. Juli 2019 kam der Bewilligungsbescheid für die Gewährung der „Aufwendungen für den Einsatz eines Integrationshelfers ab 19. August 2019 bis 17. Juli 2020 für die Begleitung während der Hofpause, des Mittagessens und der Hortzeit am Nachmittag mit einem Umfang von 25,25 Fachleistungsstunden wöchentlich.“

Wer bezahlt den Begleiter?

Sandra: Da kenne ich mich zu wenig mit aus. Wenn ich vom Briefkopf des Bewilligungsschreibens ausgehe, dann das Jugendamt/Soziale Dienste meines Landkreises: Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch gem. § 35a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, Abs 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII

Wie sind Eure Erfahrungen mit dem Jugendamt, wenn es Probleme gibt?

Sandra: Schlicht frustrierend und kräftezehrend. Im Kern ist es ein unaufhörliches Bittstellen und Betteln gegenüber Verwaltungstechnokraten aus einem komplett anderen Kommunikationsuniversum (vermutlich soll das so: „Zeitspiel“). Und immer wieder muss man sich anhören, dass die vorgetragenen Problematiken schließlich auch bei “neuro-normativen” Kindern zu beobachten seien, also alles ganz normal sei. Man solle deshalb dankbar sein, dass trotzdem für die Bereitstellung von Ressourcen gesorgt werde, indem man die Kosten für Integrationshelfer bewillige. Kleine Anmerkung dazu: In drei von vier Fällen haben die nicht gepasst, weil sie offenbar wenig geschult waren und letztlich keine Verbesserung für die Situation meines Sohnes an einer regulären Grundschule Klasse 2 herbeiführen konnten.

*Name auf Wunsch geändert

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Sofortige Planänderung war der Durchbruch

Eigentlich hatten sich Charlotte* und Thomas* ein Pflegekind auf Dauer gewünscht. So war es auch mit dem Jugendamt in Nordsachsen vereinbart. “Aber von jetzt auf gleich bekamen wir zwei kleine misshandelte und vernachlässigte Würmchen nur in Obhut”, erinnert sich Charlotte. Der ältere Wurm blieb nur vier Wochen und wurde der leiblichen Mutter übergeben. Der kleine Bruder Kelly* blieb ein ganzes Jahr bei Charlotte und Thomas. Dann wollte die leibliche Mutter auch ihn wiederhaben.

“Ich glaube, das Jugendamt hatte uns testen wollen, und außerdem haben die wohl auch niemand anderen für die Jungs gehabt als uns”, kommentiert die Pflegemutter. Im Anschluss wurde dem Ehepaar ein zehnjähriges Mädchen anvertraut, das sie aber nach drei Wochen ablehnten auf Dauer zu nehmen. Charlotte: “Es war überhaupt keine Nähe zu diesem Kind möglich.” Für das Jugendamt kein Wunder, denn Charlotte und Thomas seien nicht ‘milieunah genug für dieses Klientel’. “Was man sich alles anhören muss”, klagt Charlotte.

Ein Jahr später klingelte das Telefon erneut. “Das Jugendamt suchte dringend nach einer Endlösung für Kelly”, berichtet die ehemalige Investmentbankerin. Das arme Kind, nun fünf Jahre alt, war in der Zwischenzeit in der Psychiatrie gelandet. “Wir sind sofort nach Leipzig gefahren”, so die Pflegemutter, “durch die Glastür hat Kelly mich gleich erkannt.” Bis heute hat Charlotte im Ohr, wie er “Mama” rief und dabei seine Händchen gegen die Scheibe presste. Spätestens jetzt hätte nach Meinung der Pflegeeltern das Jugendamt die Karten auf den Tisch legen müssen. Aber sie erhielten keinerlei Informationen über den Gesundheitszustand und die Familienverhältnisses des Jungen, geschweige denn irgendwelche Arztberichte.

Und das, obwohl dem Jugendamt bekannt gewesen sein muss, dass die leibliche Mutter alkohol- und drogenabhängig war, denn es stellte sich heraus, dass diese schon mehrere Entzugs- und Paartherapien absolviert hatte. Aber so war das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) “kein Thema”, sagt die nunmehr 53 Jahre alte Pflegemutter. Das aggressive delinquente Allgemeinverhalten des Kindes wurde stets mit Traumata erklärt. In der Psychiatrie habe man den Pflegeeltern weiß gemacht, dass alles gut werde mit Kelly, wenn er in ein stabiles soziales Umfeld komme. Blauäugig wie sie damals beide gewesen seien, glaubten die Pflegeeltern dies auch. “Behandelt wurde der Junge dort übrigens mit Neurocil-Tropfen”**, erinnert sich Charlotte, “die haben den einfach nur ruhig gestellt. Das haben wir sofort ausschleichend abgesetzt.” Glücklicherweise hat Charlotte eine Kinderärztin zur Freundin, die sie beriet.

Kelly entwickelte sich zunächst gut. Die Pflegeeltern dachten, mit geordneten, behüteten Lebensverhältnissen und viel Liebe und Engagement sei es zu schaffen, Kelly auf einen guten Weg zu bringen. Dass alle Pflegekinder ein dickes Päckchen mitbringen würden, damit rechneten Charlotte und Thomas sowieso. Sie betrachteten es als positive Herausforderung und es war und ist ihr Wunsch, einem Pflegekind den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen. Neben Platz und Geld hatte das Ehepaar reichlich Ressourcen, sich einer solchen Aufgabe zu stellen. “Meine beiden eigenen Kinder sind völlig problemlos durchgelaufen. Ich musste meine Fähigkeiten als Mutter nie unter Beweis stellen”, sagt Charlotte. Eher schon ihre eigene Resilienzfähigkeit. Charlotte war acht Mal schwanger und musste sechs Kinder zu Grabe tragen. “Das letzte war ein Kindstod mit sechs Wochen”, erzählt sie.

Als dann ihre Tochter und ihr Sohn aus den Kinderschuhen herausgewachsen waren, erlebte sie eine Freundin, die ein Pflegekind aufgenommen hatte und Charlotte wusste schnell: Das möchte ich auch. Auch ihr Mann war sofort dabei. Den erst positiv besetzten Zeiten folgten schwere Probleme im Kindergarten. Kelly galt alsbald als “Abschaum der Gesellschaft”, schlimmes Mobbing wurde dadurch Programm. Die ganze Familie litt. Eines Abends sah Charlotte im Fernsehen eine Sendung über das Fetale Alkoholsyndrom, in der über das Schicksal eines Betroffenen berichtet wurde. “Das genau ist Kelly”, entfuhr es Charlotte sofort. Am nächsten Morgen griff sie zum Telefon und erreichte einen Termin beim FAS-Experten Professor Hans-Ludwig Spohr in Berlin. Nach vier Stunden Untersuchungen und Gesprächen war klar: Kelly hat das Vollbild. “Wir haben aber nicht verinnerlicht, was das bedeutet”, gesteht die Pflegemutter rückblickend. Auch das Jugendamt habe die Diagnose nicht realisiert. Mehr noch, man habe die ausgewiesene Experten-Expertise abglehnt und die Pflegeeltern mussten das Gutachten aus der eigenen Tasche bezahlen. Und so suchten Charlotte und Thomas das Kind zu fördern, wie es nur irgend möglich war.

Rückblickend ist den Pflegeeltern klar: Das war die völlige Überforderung für Kelly. In der Schule eskalierte es in der zweiten Klasse wieder. Denn Kelly machten unter anderem Diskalulie und Legasthenie zu schaffen. Das blieb nicht folgenlos. Charlotte und Thomas wurden wegen Kelly’s dissozialem Verhalten permanent von den Lehrern einbestellt. Zu Hause kam es immer wieder vor, dass er in ohnmächtiger Wut die Wohnung demolierte. Auch in der Freizeit, beim Sport – “ständig mussten wir uns mit anderen über unser Kind auseinandersetzen.” Und nichts habe sich weiterentwickelt. “Wir traten auf der Stelle”, mussten sich Charlotte und ihr Mann eingestehen.

In der 4. Klasse sei endgültig klar gewesen: Ohne Hilfe geht es nicht mehr. Kelly bekam einen Schulbegleiter, Kelly erhielt eine Traumatherapie. Der Schulbegleiter war eine gute Sache, die Therapie weniger und wurde wieder abgebrochen, “weil sie nichts brachte und die Psychologin mir vorwarf, mich nicht genug um Kelly zu kümmern”, regt sich Charlotte bis heute auf. Und weiter: “Wir waren tatsächlich an einem Punkt angekommen, an dem wir uns fragten, ob wir die Pflegschaft nicht besser beenden sollten. Wir konnten einfach nicht mehr.”

Kelly’s darauf folgender zweiwöchiger Aufenthalt in einer kinderpsychiatrischen Klinik brachte die erste Wende für die Familie. Charlotte: “Dort fragten sie uns, wie wir an dieses Kind gekommen seien, das sei nicht familientauglich. Die Verhaltensstörungen seien bleibend.” Oberstes Gebot sei: Druck rausnehmen! Aber, wenn wir ihn jetzt fallen ließen, wäre er lost in space.”Ich habe erst einmal angefangen zu heulen. Nach zwei Stunden habe ich mir die Tränen abgetrocknet und gesagt: Okay, sofortige Planänderung!”, erzählt die ehemalige Leistungssportlerin, “wir sind dann erst einmal ganz relaxed in die Sommerferien gefahren.”

Zur Planänderung zählte ein Schulwechsel zur Klasse 5 auf eine evangelische Privatschule inklusive Schulbegleiter, Hol- und Bringdienst sowie intensivem Austausch zwischen Lehrern und Eltern. Außerdem waren Charlotte und ihr Mann inzwischen besser für das eigentliche Thema sensibilisiert, das Fetale Alkoholsyndrom. “Wir machten einen Termin bei Dr. Heike Hoff-Emden, FAS-Spezialistin am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Leipzig. “Das tat so gut bei ihr”, sagt Charlotte, “wir brauchten uns nicht erklären, sie verstand alles und sie wusste, worauf es ankommt.” Als erstes wurde eine To-Do-Liste angefertigt: Kriegen Sie doppeltes Pflegegeld? Welchen Pflegestatus hat Kelly? Hat er einen Schwerbehindertenausweis? Haben Sie Verhinderungspflege beantragt?

Charlotte und Thomas hatten von all dem keine Ahnung gehabt. Da zählte Kelly schon elf Jahre. Nun endlich wurde vieles besser. Charlotte blieb seitdem mit der FAS-Expertin Hoff-Emden und dem SPZ eng verbunden. Außerdem fing sie an ein Netzwerk zu spinnen. “Das ist so wichtig”, betont sie, “man braucht ein ganzes Dorf, um solche Kinder groß zu ziehen.” Zu dem Netzwerk zählt z. B. eine Elterngruppe, die mit Hoff-Emden auf wissenschaftlicher Basis zusammenarbeitet; aktuell zum Thema “Stressreduktion”. Außerdem hat die engagierte Pflegemutter eine Whatsapp-Gruppe für betroffene Pflege- und Adoptiveltern gegründet, in der sich rege ausgetauscht und gegenseitig informiert und unterstützt wird. Inzwischen ist Charlotte auch Dozentin für Kindeswohlgefährdung und hält Vorträge über FAS.

Damit nicht genug. Eigentlich hatten sich Charlotte und Thomas in die Hand versprochen, dass nach 25 Jahren Ehe Schluss sein sollte mit kleinen Kindern. “Tja, und dann habe ich mich verliebt”, sagt eine strahlende Mama. In die kleine Chiara* – ein Bereitschaftspflegekind, das Charlotte bei einer Freundin kennenlernte. Der Vorstoß bei ihrem Mann ließ nicht auf sich warten. Sie bekochte ihn abends und beichtete ihm “ihre Liebe auf den ersten Blick”. Als sie ihr Handy zückte, um ihrem Mann ein Bild von der Kleinen zu zeigen, rief er sofort: “Wann kann ich sie kennenlernen?” Zwei Stunden saß die Eineinhalbjährige bei diesem Treffen bei ihrem künftigen Pflegepapa auf dem Schoß. Vier Tage später machte das Ehepaar Nägel mit Köpfen und befragte die restlichen Familienmitglieder, wie sie dazu stehen. Sechs Wochen später zog das kleine Mädchen ein. Das war im Oktober 2018.

Chiara hat das partielle FAS. Aber bei ihr wissen die Pflegeeltern um ihre Defizite, sind versiert im Umgang damit, kennen ihre Rechte und können auf ein sicheres Netzwerk zählen. Unter derartigen Voraussetzungen sei es auch nicht mehr blauäugig die Hoffnung zu haben, dass der Schützling zu den 20 Prozent der FAS-Betroffenen zählen wird, die es später schaffen, ein zwar mit Unterstützung, dennoch erfülltes Leben führen zu können. ***

 

Woran krankt für Euch das soziale Hilfe-System in Deutschland am meisten?

“An den allgemeinen Desinformationen der deutschen Ämter. Es gibt selten Hinweise durch die Ämter, was einem als Pflegefamilie für sich und sein Kind zusteht und welche Anträge man stellen kann bzw. sollte. Außerdem sind die Jugendämter nicht im mindesten über das Fetale Alkoholsyndrom informiert. All das führt dazu, dass die Kinder, sobald sie in die Pubertät kommen, von den Pflegeeltern wieder zurück gegeben werden, weil diese vollkommen überfordert sind, ihnen aber aus Unwissenheit keiner hilft.

Was wünscht Ihr Euch für FAS-Betroffene und die Menschen, die für sie sorgen?

Aufklärung, Aufklärung und noch einmal Aufklärung. Wäre unser Umfeld aufgeklärt, dann wäre das Leben für alle sehr viel leichter.

*Namen auf persönlichen Wunsch geändert

**Neurocil® Tropfen ist ein stark dämpfendes Neuroleptikum und wird angewendet zur Dämpfung psychomotorischer Unruhe- und Erregungszustände im Rahmen psychotischer Störungen, bei akuten Erregungszuständen bei manischen Episoden, bei der Behandlung von schweren und/oder chronischen Schmerzen als Kombinationstherapie. Neurocil darf laut Packungsbeilage nicht verabreicht werden an Kinder unter 16 Jahren.

***80% der FAS-Betroffenen landen laut WHO am Rande der Gesellschaft – im Gefängnis, der Obdachlosigkeit, im Drogen- und Prostitutionsmilieu, in der Psychiatrie oder begehen Suizid.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne