“Entweder Du funktionierst, oder Du kannst gehen!”
Es lief so gut. Ich ging gerne arbeiten. Ich habe nie unentschuldigt gefehlt. Ganz selten war ich mal unpünktlich. Ich war stolz. Ich freute mich, dass mir nach einem guten halben Jahr in Aussicht gestellt worden war, dass ich mit Beginn des nächsten Jahres auf dem ersten Arbeitsmarkt eine feste Stelle im Pflegeheim bekommen sollte. Dann wäre ich endlich nicht mehr nur ein kleiner Praktikant. Dann wäre ich ein Kollege wie die anderen auf der Station. Ich würde obendrein Geld verdienen, könnte mich selbst finanzieren. Eine tolle Vorstellung, die mich wirklich glücklich machte.
Und auf einmal – ist alles anders.
Plötzlich beschwert man sich über mich, ich sei überfordert, die Stundenzahl müsse von acht wieder auf sechs reduziert werden. Das verbreitet sogar meine Vertrauensperson über mich, hinter meinem Rücken, sie, mit der ich alles rund um meinen Job besprechen, die mich unterstützen soll. Zu mir aber sagt sie ständig, dass ich tolle Arbeit mache und alles in Ordnung sei. Was für eine falsche Schlange. Plötzlich werden Absprachen, die zwischen der Pflegedienstleitung, der Leiterin der Q+B-Maßnahme*, meinem Bezugsbetreuer, meiner Mutter und mir getroffen worden waren, nicht mehr eingehalten.
Ich habe immer Arbeitsblätter bekommen, auf denen drauf stand, welche Aufgaben ich alle bis zum Mittag machen muss. Die habe ich abgehakt, so dass ein strukturierter Ablauf für mich gut möglich war. Jetzt steht da nur noch drauf: Brille aufsetzen und Schlüssel abgeben. Ich sollte während meiner Tätigkeiten auch nicht ständig von anderen aufgefordert werden, mal eben schnell etwas anderes zu erledigen. Das ist Gift für mich, weil es mich aus dem Rhythmus bringt und ich dann nicht immer gleich wieder weiß, was ich vorher gemacht habe. Für meine Arbeit am Nachmittag war eigentlich vorgesehen, dass ich mehr Freizeitaktivitäten mit den Patienten mache. Statt dessen lassen die mich leer laufen, so dass ich rumgammeln muss, weil keiner da ist und mir sagt, was ich tun soll. Und dann beschweren sie sich über mich, ich sei faul und würde mich vor der Arbeit drücken.
Diese Geschehnisse und einige mehr haben mir mehr und mehr das Gefühl gegeben, dass die nach Gründen suchen mich loszuwerden. Aber warum bloß auf einmal? Inzwischen weiß ich es: Die Pflegedienstleiterin hat gewechselt. Die neue hat im Gegensatz zu der vorher mit FAS nichts am Hut. Die winkt ab und findet die Maßnahmen und Absprachen, damit ich meine Arbeit gut machen kann, völlig überspannt. Ihre Einstellung ist: “Entweder Du funktionierst, oder Du kannst gehen!”
Ich bin traurig. Und ich bin wütend. Das alles macht mir schwer zu schaffen. Meine Motivation ist weg, total. Morgens beim Aufstehen ist es besonders schlimm. Ich fühle mich bleiern. Heute morgen wollte ich nicht arbeiten gehen. Ich wollte überhaupt nie mehr einen Fuß in dieses blöde Pflegeheim setzen. Die wollen mich ja doch nicht mehr. Ich habe mich richtig heftig geweigert, habe auf Tunnel geschaltet. Ich war froh, als ich durch die Tür hörte, dass ich den Bus verpasst habe. Aber meine Mama hat dann mit mir geredet und gesagt, dass sie mich absolut verstehe, dass es ihr in einer solchen Situation nicht anders gehen würde. Aber ich solle doch mal überlegen, dass ich denen in die Hände spielen würde, wenn ich jetzt die Arbeit verweigern würde. Dann hätten sie noch einen Grund mehr mich schlecht zu reden. Besser wäre es, ich würde hoch erhobenen Hauptes und ordentlich meine Arbeit weiter machen, bis wir eine Lösung gefunden haben. Das sei schwer, absolut. Aber dann, dann müssten die mir im Pflegeheim auch ein gutes Zeugnis ausstellen. Ich weiß, das ist wichtig, wenn ich mich woanders bewerben möchte. Das hat mich überzeugt. Ich habe es ihr dann fest versprochen. Ich tue meine Arbeit weiterhin. Aber ich bin nicht mehr fröhlich dabei.
P.S. Es schockiert mich immer wieder, dass so viele Menschen das Fetale Alkoholsyndrom abtun, als wäre es eine eingebildete Macke. Es ist ja nicht so, dass die neue Pflegedienstleiterin nicht darüber aufgeklärt worden wäre. Die vorherige kannte sich damit zunächst auch nicht aus, aber sie war offen dafür und interessiert mich zu unterstützen. Nach einer Anlaufphase mit einigen Schwierigkeiten hat auch alles recht gut geklappt. Bei so wahnsinnig vielen Menschen**, die genau solche oder ähnliche Probleme im Alltag haben wie ich, kann es doch nicht sein, dass es von einer einzelnen Person abhängt, ob es Betroffenen wie mir gut geht oder eben nicht.
Und wenn ich das richtig verstanden habe mit dieser Q+B-Maßnahme, dann nehmen die Unternehmen freiwillig daran teil und übernehmen somit Verantwortung. Ich bin doch nicht einfach nur eine billige Arbeitskraft. Außerdem geht es doch darum, dass ich zwar keine Ausbildung machen kann, aber sehr wohl eine gute Arbeit, wenn man mich ein bisschen anders arbeiten lässt als die anderen.
*Q+B-Maßnahme: In vielen Bundesländern in Deutschland wird die “Förderung der sozialen Inklusion und Bekämpfung der Armut und jeglicher Diskriminierung” (Art. 9 Abs. 1 Nr. 9 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013) in Anspruch genommen. Im Vordergrund steht die Erweiterung des Berufswahlspektrums für eine Ausbildung oder Arbeit. Das heißt im Klartext, dass den Probanden die Möglichkeit gegeben wird, die eigenen Stärken und Fähigkeiten zu erkennen, indem verschiedene Berufsfelder im zumutbaren Modus erprobt werden können. Das Gute ist, dass die Stabilisierung der Persönlichkeit der Q+B-Teilnehmer intensiv sozialpädagogisch begleitet wird. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, die Maßnahme sehr individuell zu gestalten. Dies hinsichtlich der zeitlichen sowie der mentalen Belastbarkeit und auch der Entscheidung, wann und ob ein berufsschulbildender Einsatz Sinn macht.
**Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht von 1,5 Millionen Betroffenen aus
Aufgeschrieben von Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne