Beiträge

FAS und überdurchschnittlich intelligent

Eigentlich war Claudia* und Hannes* vom ersten Tag an aufgefallen, dass mit diesem Kind “irgendetwas anders ist”. Der neun Wochen alte Junge war unentwegt “total unruhig”. Mit zwei Jahren erinnerte Niklas* an einen Duracell-Hasen, der nie müde wurde herumzuhüpfen. Aber Niklas entwickelte sich bestens, lernte schnell und viel und war fordernd wissbegierig. “Mit zwei Jahren sprach er Worte wie ‘Umkleidekabine’ fehlerlos aus, kannte alle Tiere sowie Obst- und Gemüsesorten. Mit drei Jahren machte er die Ravensburger Puzzle mit Konturen, die 40-50 Teile haben, wenn man ihm drei gleichzeitig auskippte – und das in kurzer Zeitspanne”, erzählt die Pflegemutter, die mit ihrem Mann schon drei leibliche Kinder groß gezogen und ein weiteres Kind zur Pflege hat. Bevor Niklas eingeschult wurde, konnte er lesen, kannte sämtliche Dinosaurier beim Namen und wusste, wann sie gelebt hatten. Tests ergaben: Der Junge ist überdurchschnittlich intelligent. Außerdem wurde ADHS diagnostiziert. Dank Niklas’ Intelligenz und einer Tandem-Klasse mit zwei Lehrern absolvierte er die ersten drei Grundschuljahre mit Bravour.

Dann jedoch begann der Tanz und die Pflegeeltern waren sich einig: Gegen Niklas sind andere ADHS-Kinder harmlos. Das Kind sich an Regeln halten? – ein Ding der Unmöglichkeit. Wahrheit und Lüge verschwimmen immer häufiger, Besitzverhältnisse sind ihm nicht zu vermitteln, Niklas’ fehlt jegliches Zeitgefühl und die Fähigkeit, sich für längere Zeitspannen zu konzentrieren. “Auch lässt er sich leicht provozieren und ist ein gefundenes Fressen für andere Kinder, die ihn gerne ärgern”, berichtet seine Pflegemama. Besonders belastend ist für alle Niklas’ mangelnde Impulskontrolle. “Täglich beleidigt er uns mit Worten, wird des öfteren handgreiflich, will ständig seinen Willen durchsetzen und demoliert Gegenstände”, erzählt Claudia. Gleichermaßen gebe es Momente, in denen Niklas realisiere, dass er anders sei, “große Reue zeigt und traurig bis verzweifelt darüber ist, dass er nicht anders kann”, sagt seine Pflegemutter.

In der FAS-Fachklinik Walstedde bei Münster gab es schließlich die Diagnose für Niklas: partielles Fetales Alkoholsyndrom. Erleichterung und Schock für Claudia und Hannes gleichermaßen. Wie soll das zusammenpassen? Was tun, um den Wissensdurst und die Lust am Lernen zu stillen, aber auch Bedingungen schaffen, unter denen es für Niklas möglich ist, genau diese Bedürfnisse zu befriedigen? Und das später auch auf einem regulären Gymnasium, denn da soll er hin, so die Empfehlung der Grundschullehrer.

Die Idee eines Schulbegleiters für Niklas wurde aufgeworfen. Die Umsetzung – leichter gesagt als getan, wenn das Jugendamt frohgemut Knüppel zwischen die Beine wirft.

Der Irrsinn:

Sachbearbeiterin X weist die Pflegeeltern an, sich selbst um einen Integrationshelfer zu kümmern. “Nach einem halben Jahr mit Gesprächen und unzähligen Telefonaten erfuhren wir durch eine sozialpädagogische Erziehungshilfe, dass dies Aufgabe des Jugendamtes sei”, berichtet Claudia, “also das, worum uns Frau X gebeten hatte, fiel eigentlich in ihren Zuständigkeitsbereich.” Und was sagt Frau X dazu? Claudia: “Wir als Pflegeeltern könnten gar keinen Integrationshelfer beantragen, da wir nicht das Sorgerecht hätten.” Dies müssten die leiblichen Eltern veranlassen. Wutschnaubend erfahren Claudia und Hannes von diesen, dass sie exakt das bereits vor einem halben Jahr bei einem Hilfeplangespräch veranlasst hatten.

Endlich zum Start ins Gymnasium war es dann soweit. Die Integrationshilfe konnte loslegen. Der Segen dauerte alledings nur drei Monate, die Integrationshelferin kündigte. Neues Spiel mit einem Ersatz-Integrationshelfer, zeitlich limitiert für drei Monate. Und danach? “Sowohl der Kinderpsychiater, bei dem wir seit einigen Jahren sind, als auch die Integrationshelfer sind der Auffassung, dass Ben eine sozialpädagogische Fachkraft benötigt. Aber diese mochte unsere zuständige Sachbearbeiterin X nicht bewilligen”, so die Pflegemutter. Eine solche Fachkraft kostet nämlich fünf Euro mehr die Stunde. Zum Glück zeigte die gemeinnützige Organisation, die die Integrationshelfer gestellt hatte, Erbarmen und stockte den fehlenden Betrag auf. “So kam Ende Januar 2020 endlich die neue, lang ersehnte Hilfe. Leider war diese noch kürzer da, als die vorherige, denn nach zwei Monaten in denen sie immer wieder krank war, stellte sich heraus, dass auch sie aus privaten Gründen aufhört. Für uns ein Desaster”, beklagt Claudia.

Inzwischen war Niklas an der Schule längst zum Mobbing-Opfer geworden. Klassenkameraden mieden ihn, Freunde zu finden ein Unding.

Für die Pflegefamilie aus dem Sauerland kam es indes noch schlimmer: “Durch das Corona bedingte Homeschooling, welches ich am Anfang mit Niklas begleitet habe, da die Schulzeit auf drei Stunden am Tag verpflichtend festgelegt ist, es aber nur zu Ärger und Streit kam, versuchte ich wieder mein Glück beim Jugendamt. Mein Gedanke war, dass im Rahmen der Härtefallregelung eine Integrationshilfe für drei Stunden am Tag nach Hause kommen könnte.” Der Junge braucht jemanden, der unmittelbar neben ihm sitzt und ihn bei allem begleitet, erläutert die Pflegemutter.

Die Antwort vom Jugendamt: Ausgeschlossen! Kontaktsperre!

Daraufhin wandten sich Claudia und Hannes an Niklas sehr engagierte Klassenlehrerin. Diese sagte sofort zu, dass der Junge in der Schule einen gesonderten Raum für sich und die Integrationshilfe bekommen könne.

Bis heute gibt es keine Reaktion dazu vom Jugendamt.

Mit den Problemen alleingelassen, ist die Situation zu Hause fatal. Homeschooling verweigert der Junge inzwischen komplett. Das Kind ist kaum noch zu bändigen, Verzweiflung, Wut, Unglück schrauben die Frequenz seiner Impulskontrollstörungen in die Höhe und bringt alle Familienmitglieder an ihre Grenzen. “Dabei ist Niklas sonst ein sehr freundliches, offenes, aufgewecktes und hilfsbereites Wesen”, sagt seine Pflegeschwester Salomé.

*Namen auf Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen

“Wir waren so groß wie ‘ne Zuckertüte”

Berlin-Steglitz. Wir sitzen in einem offenen Eiscafé des Einkaufszentrums “Das Schloss”, einem im Kern historischen Backsteinbau, der um 36.000 qm Handels-, Freizeit- und Gastronomieflächen sowie 12.000 qm Dienstleistungsfläche erweitert wurde. Um uns herum geschäftiges Treiben, die Ohren erfüllt von der üblichen Unterhaltungsmusik und den Stimmen ständig passierender Menschen – eine laute, eine anstrengende Kulisse, schon gar für zwei junge Frauen, die das Vollbild Fetales Alkoholsyndrom haben. Mehr Reizüberflutung geht kaum.

Doch die eineiigen Zwillinge Clara und Luise Andrees sitzen von all dem ungerührt und vollkommen tiefenentspannt am Tisch. “Das macht uns inzwischen überhaupt nichts mehr aus”, verkünden die 26jährigen mit einem Strahlen im Gesicht. So vieles habe sich bei ihnen zum positiven entwickelt, erzählen sie. Bei Clara ist “auch das mit dem Gedächtnis ist viel besser geworden”. Sie müsse zwar immer noch viel länger lernen als ihre zwei Minuten ältere Schwester. “Früher war es ganz oft so, dass plötzlich alles weg war. Das ist jetzt nicht mehr so. Das hat sich mit den Jahren gelegt”, sagt Clara. Auch ihre Fähigkeiten in Deutsch und Englisch sowohl in Wort als auch Schrift sind kein Vergleich mehr zu einst: “Ganz früher konnten nur unsere Eltern verstehen, was wir geschrieben haben.” Und gesprochen haben sie fast gar nichts.

Als die Zwillinge 13 Jahre alt waren, begann sich das Blatt plötzlich zu wenden. “Das haben wir tatsächlich selbst wahrgenommen, das war echt komisch”, erinnern sie sich. Zunächst hätten sie sich gar nicht getraut darüber zu sprechen, so unglaublich sei ihnen das vorgekommen. Nach dem Hauptschulabschluss seien in ihrer ersten Ausbildung beim Oberlin Berufsbildungswerk Potsdam die positiven Veränderungen aber zu offensichtlich geworden. Dort, in diesem geschützen Rahmen, machten die damals verunsicherten Mädchen ihre Ausbildungen in Ernährung und Hauswirtschaft. Das lief so phantastisch, dass Clara und Luise Mut fassten, jenseits des Bildungswerkes eine dritte Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin dranzuhängen – ihr Traumberuf. Und tatsächlich, seit dem 23. Juni hält das Zwillingspaar stolz seine Zeugnisse in den Händen. Und nicht nur das, sie haben beide auch schon einen Job und schon angefangen zu arbeiten – mit FAS auf dem ersten Arbeitsmarkt! Die glücklichen Gesichter der Zwei sprechen Bände.

“Unser Jugendamt hat gesagt, wir sind die ersten, bei denen sie erlebt haben, dass sie so weit gekommen sind und all das geschafft haben. Sie finden das ein Phänomen”, berichten Clara und Luise. Es ist in der Tat ein Phänomen. Denn die Mädchen kamen am 24. Januar 1994 vier Monate zu früh mit nur jeweils 1000 Gramm zur Welt. “Unsere Mutter sagt immer, wir waren so groß wie ‘ne Zuckertüte”, so Luise. Recht schnell nach der Geburt kamen die Frühchen zu ihren Pflegeeltern, die für sie wie leibliche Eltern sind: “Für uns ist es egal, ob wir aus ihrem Bauch sind. Für uns sind das unsere Eltern. Und das ist schön, unsere Bindung ist sehr eng.” Die leibliche Mutter haben die Zwillinge nie kennengelernt und missen das auch nicht. “Wir haben keine Gefühle für sie”, sagen beide unisono. Inzwischen sei sie eh verstorben. Sie wissen nur, dass in der Schwangerschaft Alkohol im Spiel war, weshalb Luise und Clara auch schon als Babys zur Diagnostik zu FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr an die Berliner Charité kamen.

Beide Mädchen hatten die klassischen faszialen Auffälligkeiten, Minderwuchs, waren aber sonst körperlich gesund. Ihre Hirnorganschädigungen waren noch nicht in Gänze zu differenzieren. “Von Anfang an haben Mama und Papa gesagt, wir sind nicht krank, sondern haben nur eine Beeinträchtigung, dass wir zwar anders sind, aber einen normalen Weg gehen sollen”, berichtet Luise. Die Zwillinge besuchten einen Regelkindergarten und im Anschluss eine weiterführende Waldorfschule. Den anthroprosophischen Ansatz hielten die Eltern für elementar und hegten die Hoffnung, dass man sich ihren Kindern sorgsamer widmen würde.

Diese Erwartungen wurden allerdings nicht ganz erfüllt. “Wir wurden immer als frech und faul abgeurteilt. Uns wurde unterstellt, wir würden die Lehrer nicht ernst nehmen, seien delinquent. Und wir würden nicht reden, nicht, weil wir nicht könnten, sondern weil wir nicht wollten”, erinnern sich die Beiden. Außerdem habe keiner verstanden, dass jegliche Lautstärke sie sofort ablenkte, ebenso wie Neues, das sie magnetisch anzog. Luise: “Wir konnten nicht bei uns bleiben, wir konnten uns nicht abschirmen.”

Die Eltern setzten auf das Motto “Durchhalten”, suchten den engen Austausch mit den Lehrern, bestanden auf Logopädie sowie jahrelangem Nachhilfeunterricht in Deutsch und Englisch. “Mathe war nie ein Problem. Ich kann zum Beispiel in fünf Minuten ganz viele Telefonnummern auswendig lernen”, freut sich Luise. Ihr Kurz- und Langzeitgedächtnis ist insgesamt recht gut. Ihre Schwester hingegen hatte ernsthafte Probleme, die sich aber eben zwischenzeitlich relativiert haben. Sie muss nach wie vor deutlich ausdauernder lernen.

Zum Ausgleich wurde Sport groß geschrieben. “Wir sind nicht mal in der Pubertät wie andere feiern gegangen oder so, wir haben immer nur zusammen unseren Sport gemacht”, erzählen sie. Eine zeitlang sind sie als Gast im Zirkus Sonnenstich** Einrad gefahren. Außerdem spielten sie mit großer Leidenschaft Fußball. Clara immer noch, Luise wechselte zu Tischtennis. Taktik, Spielzüge, Punktspiele – alles kein Problem.

Trotz allen Engagements der Eltern – in der siebten Klasse wurde Mobbing zum Riesenthema für die Geschwister. Luise: “Wir wurden immer nur ausgelacht, egal was wir gesagt haben, alle haben immer nur gelacht und wir wussten nicht warum. Das ging bis zur zehnten Klasse. Keiner mehr wollte mit uns Gruppenarbeit machen. Man warf uns vor zu dumm zu sein.” Die Lehrer seien mit der Situation völlig überfordert gewesen. “Sie wussten zwar, dass wir FAS haben, aber sie konnten nicht wirklich etwas damit anfangen. Sie dachten, es ist eine Ausrede”, ist sich Luise sicher. Da es sich um eine Waldorfschule handelte, die nicht daran interessiert war sich einen Skandal einzufangen, ließ man die Zwillinge gewähren, die sich von nun an als Außenseiter positionierten: “Wir haben uns von allem separiert und konzentrierten uns ausschließlich aufeinander. Wenn wir gemobbt wurden, verließen wir wortlos und türenknallend den Unterricht.”

“Übrigens”, ist es Luise wichtig zu erwähnen, “beim Mobbing haben die Eltern der Mitschüler schön mitgemacht. Die wollten auch, dass wir getrennt werden und waren eh der Ansicht, dass wir sowieso nichts auf die Reihe kriegen werden.” Harte Zeiten, die zunächst nachhaltige Spuren hinterließen. Das Selbstbewusstein der Zwillinge ging in den Keller. Nach dem Schulabschluss trauten sie sich nicht zu, irgendeine Ausbildung machen zu können. So landete das Geschwisterpaar beim Bildungswerk. In diesem geschützten Rahmen blühten die Mädchen dann so richtig auf und starteten durch. “Dort hat man uns verstanden und so akzeptiert, wie wir sind. Man hat uns nicht nur wahr, sondern auch ernst genommen”, haben beide die Erfahrung gemacht.” Außerdem reüssierten sie besonders im praktischen Teil der Ausbildung: “Da hatten wir nur Einsen und Zweien.”

Mit dem Erfolg und der Anerkennung in der Ausbildung kam das Selbstbewusstsein. Aber allein das ist in den Augen der Zwillinge nicht der Grund für den Weg ins Glück: “Es hat uns sehr geholfen, dass wir zu zweit waren, das ist bei uns der Schlüssel gewesen.” Zudem habe ihr Ehrgeiz dazu beigetragen, ihr fester Wille, dass sich vieles ändert, nicht zuletzt die gute Unterstützung, die sie von zu Hause bekommen haben.

Mit ihrem gewonnenen Selbstbewusstein änderte sich obendrein die Haltung zu ihren Beeinträchtigungen: “Vorher konnten und wollten wir nicht darüber sprechen, weil es uns peinlich war. Jetzt aber können wir jedem sagen, dass es zu uns gehört.” Mehr noch: “Wir wollen der Welt zeigen, dass es auch anders geht.” Luise und Clara möchten den Menschen die Augen öffnen, was fetale Alkoholschäden bedeuten, wie sie sich auswirken, wie damit umzugehen ist. Sie wollen anderen Betroffenen Mut machen, dass es einen Weg geben kann, ein erfülltes Leben zu führen wie andere Menschen ohne Beeinträchtigungen auch. Und sie wollen, dass es endlich aufhört, dass Menschen mit fetalen Alkoholschäden abgestempelt und ausgegrenzt werden.

*Heilerziehungspfleger begleiten und unterstützen Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder seelischer Behinderung aller Altersstufen, um deren Eigenständigkit zu stärken und sie zu einer möglichst selbständigen Lebensführung im Alltag zu befähigen.

**Der Zirkus Sonnenstich ist ein künstlerisches Projekt mit sozialer Verantwortung für eine inklusive Gesellschaft. Es bietet einer Vielzahl von Menschen mit Trisomie 21 oder anderen Lernschwierigkeiten die Räume und die Plattform, als strahlende Künstlerpersönlichkeiten und kompetente Zirkustrainer im Zentrum der Gesellschaft sichtbar zu sein. www.zbk-berlin.de

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

 

FAS und überdurchschnittlich intelligent

Eigentlich war Claudia* und Hannes* vom ersten Tag an aufgefallen, dass mit diesem Kind “irgendetwas anders ist”. Der neun Wochen alte Junge war unentwegt “total unruhig”. Mit zwei Jahren erinnerte Niklas* an einen Duracell-Hasen, der nie müde wurde herumzuhüpfen. Aber Niklas entwickelte sich bestens, lernte schnell und viel und war fordernd wissbegierig. “Mit zwei Jahren sprach er Worte wie ‘Umkleidekabine’ fehlerlos aus, kannte alle Tiere sowie Obst- und Gemüsesorten. Mit drei Jahren machte er die Ravensburger Puzzle mit Konturen, die 40-50 Teile haben, wenn man ihm drei gleichzeitig auskippte – und das in kurzer Zeitspanne”, erzählt die Pflegemutter, die mit ihrem Mann schon drei leibliche Kinder groß gezogen und ein weiteres Kind zur Pflege hat. Bevor Niklas eingeschult wurde, konnte er lesen, kannte sämtliche Dinosaurier beim Namen und wusste, wann sie gelebt hatten. Tests ergaben: Der Junge ist überdurchschnittlich intelligent. Außerdem wurde ADHS diagnostiziert. Dank Niklas’ Intelligenz und einer Tandem-Klasse mit zwei Lehrern absolvierte er die ersten drei Grundschuljahre mit Bravour.

Dann jedoch begann der Tanz und die Pflegeeltern waren sich einig: Gegen Niklas sind andere ADHS-Kinder harmlos. Das Kind sich an Regeln halten? – ein Ding der Unmöglichkeit. Wahrheit und Lüge verschwimmen immer häufiger, Besitzverhältnisse sind ihm nicht zu vermitteln, Niklas’ fehlt jegliches Zeitgefühl und die Fähigkeit, sich für längere Zeitspannen zu konzentrieren. “Auch lässt er sich leicht provozieren und ist ein gefundenes Fressen für andere Kinder, die ihn gerne ärgern”, berichtet seine Pflegemama. Besonders belastend ist für alle Niklas’ mangelnde Impulskontrolle. “Täglich beleidigt er uns mit Worten, wird des öfteren handgreiflich, will ständig seinen Willen durchsetzen und demoliert Gegenstände”, erzählt Claudia. Gleichermaßen gebe es Momente, in denen Niklas realisiere, dass er anders sei, “große Reue zeigt und traurig bis verzweifelt darüber ist, dass er nicht anders kann”, sagt seine Pflegemutter.

In der FAS-Fachklinik Walstedde bei Münster gab es schließlich die Diagnose für Niklas: partielles Fetales Alkoholsyndrom. Erleichterung und Schock für Claudia und Hannes gleichermaßen. Wie soll das zusammenpassen? Was tun, um den Wissensdurst und die Lust am Lernen zu stillen, aber auch Bedingungen schaffen, unter denen es für Niklas möglich ist, genau diese Bedürfnisse zu befriedigen? Und das später auch auf einem regulären Gymnasium, denn da soll er hin, so die Empfehlung der Grundschullehrer.

Die Idee eines Schulbegleiters für Niklas wurde aufgeworfen. Die Umsetzung – leichter gesagt als getan, wenn das Jugendamt frohgemut Knüppel zwischen die Beine wirft.

Der Irrsinn:

Sachbearbeiterin X weist die Pflegeeltern an, sich selbst um einen Integrationshelfer zu kümmern. “Nach einem halben Jahr mit Gesprächen und unzähligen Telefonaten erfuhren wir durch eine sozialpädagogische Erziehungshilfe, dass dies Aufgabe des Jugendamtes sei”, berichtet Claudia, “also das, worum uns Frau X gebeten hatte, fiel eigentlich in ihren Zuständigkeitsbereich.” Und was sagt Frau X dazu? Claudia: “Wir als Pflegeeltern könnten gar keinen Integrationshelfer beantragen, da wir nicht das Sorgerecht hätten.” Dies müssten die leiblichen Eltern veranlassen. Wutschnaubend erfahren Claudia und Hannes von diesen, dass sie exakt das bereits vor einem halben Jahr bei einem Hilfeplangespräch veranlasst hatten.

Endlich zum Start ins Gymnasium war es dann soweit. Die Integrationshilfe konnte loslegen. Der Segen dauerte alledings nur drei Monate, die Integrationshelferin kündigte. Neues Spiel mit einem Ersatz-Integrationshelfer, zeitlich limitiert für drei Monate. Und danach? “Sowohl der Kinderpsychiater, bei dem wir seit einigen Jahren sind, als auch die Integrationshelfer sind der Auffassung, dass Niklas eine sozialpädagogische Fachkraft benötigt. Aber diese mochte unsere zuständige Sachbearbeiterin X nicht bewilligen”, so die Pflegemutter. Eine solche Fachkraft kostet nämlich fünf Euro mehr die Stunde. Zum Glück zeigte die gemeinnützige Organisation, die die Integrationshelfer gestellt hatte, Erbarmen und stockte den fehlenden Betrag auf. “So kam Ende Januar 2020 endlich die neue, lang ersehnte Hilfe. Leider war diese noch kürzer da, als die vorherige, denn nach zwei Monaten in denen sie immer wieder krank war, stellte sich heraus, dass auch sie aus privaten Gründen aufhört. Für uns ein Desaster”, beklagt Claudia.

Inzwischen war Niklas an der Schule längst zum Mobbing-Opfer geworden. Klassenkameraden mieden ihn, Freunde zu finden ein Unding.

Für die Pflegefamilie aus dem Sauerland kam es indes noch schlimmer: “Durch das Corona bedingte Homeschooling, welches ich am Anfang mit Niklas begleitet habe, da die Schulzeit auf drei Stunden am Tag verpflichtend festgelegt ist, es aber nur zu Ärger und Streit kam, versuchte ich wieder mein Glück beim Jugendamt. Mein Gedanke war, dass im Rahmen der Härtefallregelung eine Integrationshilfe für drei Stunden am Tag nach Hause kommen könnte.” Der Junge braucht jemanden, der unmittelbar neben ihm sitzt und ihn bei allem begleitet, erläutert die Pflegemutter.

Die Antwort vom Jugendamt: Ausgeschlossen! Kontaktsperre!

Daraufhin wandten sich Claudia und Hannes an Niklas sehr engagierte Klassenlehrerin. Diese sagte sofort zu, dass der Junge in der Schule einen gesonderten Raum für sich und die Integrationshilfe bekommen könne.

Bis heute gibt es keine Reaktion dazu vom Jugendamt.

Mit den Problemen alleingelassen, ist die Situation zu Hause fatal. Homeschooling verweigert der Junge inzwischen komplett. Das Kind ist kaum noch zu bändigen, Verzweiflung, Wut, Unglück schrauben die Frequenz seiner Impulskontrollstörungen in die Höhe und bringt alle Familienmitglieder an ihre Grenzen. “Dabei ist Niklas sonst ein sehr freundliches, offenes, aufgewecktes und hilfsbereites Wesen”, sagt seine Pflegeschwester Salomé.

*Namen zu Schutz der Familie geändert

Autorin: Dagmar Elsen

Sofortige Planänderung war der Durchbruch

Eigentlich hatten sich Charlotte* und Thomas* ein Pflegekind auf Dauer gewünscht. So war es auch mit dem Jugendamt in Nordsachsen vereinbart. “Aber von jetzt auf gleich bekamen wir zwei kleine misshandelte und vernachlässigte Würmchen nur in Obhut”, erinnert sich Charlotte. Der ältere Wurm blieb nur vier Wochen und wurde der leiblichen Mutter übergeben. Der kleine Bruder Kelly* blieb ein ganzes Jahr bei Charlotte und Thomas. Dann wollte die leibliche Mutter auch ihn wiederhaben.

“Ich glaube, das Jugendamt hatte uns testen wollen, und außerdem haben die wohl auch niemand anderen für die Jungs gehabt als uns”, kommentiert die Pflegemutter. Im Anschluss wurde dem Ehepaar ein zehnjähriges Mädchen anvertraut, das sie aber nach drei Wochen ablehnten auf Dauer zu nehmen. Charlotte: “Es war überhaupt keine Nähe zu diesem Kind möglich.” Für das Jugendamt kein Wunder, denn Charlotte und Thomas seien nicht ‘milieunah genug für dieses Klientel’. “Was man sich alles anhören muss”, klagt Charlotte.

Ein Jahr später klingelte das Telefon erneut. “Das Jugendamt suchte dringend nach einer Endlösung für Kelly”, berichtet die ehemalige Investmentbankerin. Das arme Kind, nun fünf Jahre alt, war in der Zwischenzeit in der Psychiatrie gelandet. “Wir sind sofort nach Leipzig gefahren”, so die Pflegemutter, “durch die Glastür hat Kelly mich gleich erkannt.” Bis heute hat Charlotte im Ohr, wie er “Mama” rief und dabei seine Händchen gegen die Scheibe presste. Spätestens jetzt hätte nach Meinung der Pflegeeltern das Jugendamt die Karten auf den Tisch legen müssen. Aber sie erhielten keinerlei Informationen über den Gesundheitszustand und die Familienverhältnisses des Jungen, geschweige denn irgendwelche Arztberichte.

Und das, obwohl dem Jugendamt bekannt gewesen sein muss, dass die leibliche Mutter alkohol- und drogenabhängig war, denn es stellte sich heraus, dass diese schon mehrere Entzugs- und Paartherapien absolviert hatte. Aber so war das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) “kein Thema”, sagt die nunmehr 53 Jahre alte Pflegemutter. Das aggressive delinquente Allgemeinverhalten des Kindes wurde stets mit Traumata erklärt. In der Psychiatrie habe man den Pflegeeltern weiß gemacht, dass alles gut werde mit Kelly, wenn er in ein stabiles soziales Umfeld komme. Blauäugig wie sie damals beide gewesen seien, glaubten die Pflegeeltern dies auch. “Behandelt wurde der Junge dort übrigens mit Neurocil-Tropfen”**, erinnert sich Charlotte, “die haben den einfach nur ruhig gestellt. Das haben wir sofort ausschleichend abgesetzt.” Glücklicherweise hat Charlotte eine Kinderärztin zur Freundin, die sie beriet.

Kelly entwickelte sich zunächst gut. Die Pflegeeltern dachten, mit geordneten, behüteten Lebensverhältnissen und viel Liebe und Engagement sei es zu schaffen, Kelly auf einen guten Weg zu bringen. Dass alle Pflegekinder ein dickes Päckchen mitbringen würden, damit rechneten Charlotte und Thomas sowieso. Sie betrachteten es als positive Herausforderung und es war und ist ihr Wunsch, einem Pflegekind den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen. Neben Platz und Geld hatte das Ehepaar reichlich Ressourcen, sich einer solchen Aufgabe zu stellen. “Meine beiden eigenen Kinder sind völlig problemlos durchgelaufen. Ich musste meine Fähigkeiten als Mutter nie unter Beweis stellen”, sagt Charlotte. Eher schon ihre eigene Resilienzfähigkeit. Charlotte war acht Mal schwanger und musste sechs Kinder zu Grabe tragen. “Das letzte war ein Kindstod mit sechs Wochen”, erzählt sie.

Als dann ihre Tochter und ihr Sohn aus den Kinderschuhen herausgewachsen waren, erlebte sie eine Freundin, die ein Pflegekind aufgenommen hatte und Charlotte wusste schnell: Das möchte ich auch. Auch ihr Mann war sofort dabei. Den erst positiv besetzten Zeiten folgten schwere Probleme im Kindergarten. Kelly galt alsbald als “Abschaum der Gesellschaft”, schlimmes Mobbing wurde dadurch Programm. Die ganze Familie litt. Eines Abends sah Charlotte im Fernsehen eine Sendung über das Fetale Alkoholsyndrom, in der über das Schicksal eines Betroffenen berichtet wurde. “Das genau ist Kelly”, entfuhr es Charlotte sofort. Am nächsten Morgen griff sie zum Telefon und erreichte einen Termin beim FAS-Experten Professor Hans-Ludwig Spohr in Berlin. Nach vier Stunden Untersuchungen und Gesprächen war klar: Kelly hat das Vollbild. “Wir haben aber nicht verinnerlicht, was das bedeutet”, gesteht die Pflegemutter rückblickend. Auch das Jugendamt habe die Diagnose nicht realisiert. Mehr noch, man habe die ausgewiesene Experten-Expertise abglehnt und die Pflegeeltern mussten das Gutachten aus der eigenen Tasche bezahlen. Und so suchten Charlotte und Thomas das Kind zu fördern, wie es nur irgend möglich war.

Rückblickend ist den Pflegeeltern klar: Das war die völlige Überforderung für Kelly. In der Schule eskalierte es in der zweiten Klasse wieder. Denn Kelly machten unter anderem Diskalulie und Legasthenie zu schaffen. Das blieb nicht folgenlos. Charlotte und Thomas wurden wegen Kelly’s dissozialem Verhalten permanent von den Lehrern einbestellt. Zu Hause kam es immer wieder vor, dass er in ohnmächtiger Wut die Wohnung demolierte. Auch in der Freizeit, beim Sport – “ständig mussten wir uns mit anderen über unser Kind auseinandersetzen.” Und nichts habe sich weiterentwickelt. “Wir traten auf der Stelle”, mussten sich Charlotte und ihr Mann eingestehen.

In der 4. Klasse sei endgültig klar gewesen: Ohne Hilfe geht es nicht mehr. Kelly bekam einen Schulbegleiter, Kelly erhielt eine Traumatherapie. Der Schulbegleiter war eine gute Sache, die Therapie weniger und wurde wieder abgebrochen, “weil sie nichts brachte und die Psychologin mir vorwarf, mich nicht genug um Kelly zu kümmern”, regt sich Charlotte bis heute auf. Und weiter: “Wir waren tatsächlich an einem Punkt angekommen, an dem wir uns fragten, ob wir die Pflegschaft nicht besser beenden sollten. Wir konnten einfach nicht mehr.”

Kelly’s darauf folgender zweiwöchiger Aufenthalt in einer kinderpsychiatrischen Klinik brachte die erste Wende für die Familie. Charlotte: “Dort fragten sie uns, wie wir an dieses Kind gekommen seien, das sei nicht familientauglich. Die Verhaltensstörungen seien bleibend.” Oberstes Gebot sei: Druck rausnehmen! Aber, wenn wir ihn jetzt fallen ließen, wäre er lost in space.”Ich habe erst einmal angefangen zu heulen. Nach zwei Stunden habe ich mir die Tränen abgetrocknet und gesagt: Okay, sofortige Planänderung!”, erzählt die ehemalige Leistungssportlerin, “wir sind dann erst einmal ganz relaxed in die Sommerferien gefahren.”

Zur Planänderung zählte ein Schulwechsel zur Klasse 5 auf eine evangelische Privatschule inklusive Schulbegleiter, Hol- und Bringdienst sowie intensivem Austausch zwischen Lehrern und Eltern. Außerdem waren Charlotte und ihr Mann inzwischen besser für das eigentliche Thema sensibilisiert, das Fetale Alkoholsyndrom. “Wir machten einen Termin bei Dr. Heike Hoff-Emden, FAS-Spezialistin am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Leipzig. “Das tat so gut bei ihr”, sagt Charlotte, “wir brauchten uns nicht erklären, sie verstand alles und sie wusste, worauf es ankommt.” Als erstes wurde eine To-Do-Liste angefertigt: Kriegen Sie doppeltes Pflegegeld? Welchen Pflegestatus hat Kelly? Hat er einen Schwerbehindertenausweis? Haben Sie Verhinderungspflege beantragt?

Charlotte und Thomas hatten von all dem keine Ahnung gehabt. Da zählte Kelly schon elf Jahre. Nun endlich wurde vieles besser. Charlotte blieb seitdem mit der FAS-Expertin Hoff-Emden und dem SPZ eng verbunden. Außerdem fing sie an ein Netzwerk zu spinnen. “Das ist so wichtig”, betont sie, “man braucht ein ganzes Dorf, um solche Kinder groß zu ziehen.” Zu dem Netzwerk zählt z. B. eine Elterngruppe, die mit Hoff-Emden auf wissenschaftlicher Basis zusammenarbeitet; aktuell zum Thema “Stressreduktion”. Außerdem hat die engagierte Pflegemutter eine Whatsapp-Gruppe für betroffene Pflege- und Adoptiveltern gegründet, in der sich rege ausgetauscht und gegenseitig informiert und unterstützt wird. Inzwischen ist Charlotte auch Dozentin für Kindeswohlgefährdung und hält Vorträge über FAS.

Damit nicht genug. Eigentlich hatten sich Charlotte und Thomas in die Hand versprochen, dass nach 25 Jahren Ehe Schluss sein sollte mit kleinen Kindern. “Tja, und dann habe ich mich verliebt”, sagt eine strahlende Mama. In die kleine Chiara* – ein Bereitschaftspflegekind, das Charlotte bei einer Freundin kennenlernte. Der Vorstoß bei ihrem Mann ließ nicht auf sich warten. Sie bekochte ihn abends und beichtete ihm “ihre Liebe auf den ersten Blick”. Als sie ihr Handy zückte, um ihrem Mann ein Bild von der Kleinen zu zeigen, rief er sofort: “Wann kann ich sie kennenlernen?” Zwei Stunden saß die Eineinhalbjährige bei diesem Treffen bei ihrem künftigen Pflegepapa auf dem Schoß. Vier Tage später machte das Ehepaar Nägel mit Köpfen und befragte die restlichen Familienmitglieder, wie sie dazu stehen. Sechs Wochen später zog das kleine Mädchen ein. Das war im Oktober 2018.

Chiara hat das partielle FAS. Aber bei ihr wissen die Pflegeeltern um ihre Defizite, sind versiert im Umgang damit, kennen ihre Rechte und können auf ein sicheres Netzwerk zählen. Unter derartigen Voraussetzungen sei es auch nicht mehr blauäugig die Hoffnung zu haben, dass der Schützling zu den 20 Prozent der FAS-Betroffenen zählen wird, die es später schaffen, ein zwar mit Unterstützung, dennoch erfülltes Leben führen zu können. ***

 

Woran krankt für Euch das soziale Hilfe-System in Deutschland am meisten?

“An den allgemeinen Desinformationen der deutschen Ämter. Es gibt selten Hinweise durch die Ämter, was einem als Pflegefamilie für sich und sein Kind zusteht und welche Anträge man stellen kann bzw. sollte. Außerdem sind die Jugendämter nicht im mindesten über das Fetale Alkoholsyndrom informiert. All das führt dazu, dass die Kinder, sobald sie in die Pubertät kommen, von den Pflegeeltern wieder zurück gegeben werden, weil diese vollkommen überfordert sind, ihnen aber aus Unwissenheit keiner hilft.

Was wünscht Ihr Euch für FAS-Betroffene und die Menschen, die für sie sorgen?

Aufklärung, Aufklärung und noch einmal Aufklärung. Wäre unser Umfeld aufgeklärt, dann wäre das Leben für alle sehr viel leichter.

*Namen auf persönlichen Wunsch geändert

**Neurocil® Tropfen ist ein stark dämpfendes Neuroleptikum und wird angewendet zur Dämpfung psychomotorischer Unruhe- und Erregungszustände im Rahmen psychotischer Störungen, bei akuten Erregungszuständen bei manischen Episoden, bei der Behandlung von schweren und/oder chronischen Schmerzen als Kombinationstherapie. Neurocil darf laut Packungsbeilage nicht verabreicht werden an Kinder unter 16 Jahren.

***80% der FAS-Betroffenen landen laut WHO am Rande der Gesellschaft – im Gefängnis, der Obdachlosigkeit, im Drogen- und Prostitutionsmilieu, in der Psychiatrie oder begehen Suizid.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Wenn ich sage, was ich habe, gucken mich alle an und denken, ich spinne”

Alexia, heute 17 Jahre alt, hat das Fetale Alkoholsyndrom. Als sie 10 Jahre alt war, wurde das schwere Handicap bei ihr diagnosdiziert. Im Interview begegne ich einem fröhlichen, selbstbewussten und aufgeschlossen Menschen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Zu Recht. Denn sie hat viel erlebt und ertragen müssen. Am wenigsten erträgt sie, dass unentwegt neue Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf die Welt kommen, obwohl das durch Aufklärung vermeidbar wäre. Deshalb unterstützt sie mit herausragendem Einsatz unsere Kampagne.

Wann ist Dir das erste Mal bewusst gewesen, dass Du anders bist als die anderen?

Alexia: Als ich andere Mädels in der Stadt gesehen habe, die ohne ihre Mutter unterwegs waren. Das ging ja für mich aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht.

Welche Beeinträchtigungen durch FAS hast Du, welche stören Dich am meisten?

Alexia: Am meisten nervt und frustriert mich, dass ich Gefühle nicht richtig kontrollieren kann. Freude kann ganz schnell in Wut umkippen und Wut in Traurigkeit. Und all das von einer auf die andere Sekunde, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ich kann auch schlecht mit Aufregung umgehen. Das kann auch sehr schnell in Wut umschwenken.

Das Vergessen ist auch sehr schlimm. Ich lerne etwas in der Schule, kann es wirklich richtig gut, komme nach Hause und möchte es meiner Mutter erzählen – ich weiß nichts mehr, es ist wie ausradiert.

Ich habe kein Gefühl für Zeit, ich kann sie nicht greifen. Die Uhr kann ich nur digital.

Und auch Orientierung habe ich nicht. Ständig Wiederholtes, Gewohntes – das geht. Aber wehe es passieren Abweichungen. Und ich alleine in der Fremde? Da habe ich keine Chance.

Wenn Du mich quälen willst, gib’ mir Matheaufgaben.

Meine Konzentrationsfähigkeit reicht nur für eine Stunde.

Druck kann ich nicht aushalten. Innerlich läuft alles Sturm. Ganz schlimm.

An manchen Tagen spüre ich keine Schmerzen. Da kann ich mir beispielsweise Blasen laufen bis die Schuhe voller Blut sind und merke es nicht. Und morgen kann es dann wieder ganz anders sein. Das macht mir auch Angst.

Ach ja, mit Geld umgehen, das kann ich gar nicht. Erst gebe ich ganz lange gar nichst aus, dann ist plötzlich alles auf einmal weg und ich weiß nicht mehr wofür.

Wie versuchst Du, Deine Schwierigkeiten etwas in den Griff zu bekommen?

Alexia: Ich muss immer meine Kopfhörer dabei haben. Wenn ich in Not bin und meine Umwelt ausschalten muss, dann drehe ich die Musik extrem laut, dass ich nichts anderes mehr wahrnehmen muss und kann.

Gegen innere Unruhe, Anspannung, Nervosität habe ich zwei Igelbälle – einen weichen und einen harten. Den harten, den brauche ich, um zu merken, dass ich noch da bin. Den weichen Ball nehme ich zum Beruhigen.

Außerdem bekomme ich Medikamente, die mir helfen.

Welche besonderen Talente hast Du?

Alexia: Ich kann sehr gut reflektieren und mich in andere hineinfühlen. Ich ahne oft Dinge, die dann tatsächlich eintreten.

Ich kann sehr gut mit Tieren umgehen und mit kleinen Kindern.

Wie begegnen Dir Menschen, die keine Ahnung von FAS haben?

Alexia: Da man mir nichts ansieht, denken sie, ich sei “normal”. Selbst wenn ich es Erwachsenen erkläre, dann wollen die mir das nicht glauben. Die denken immer, ich sei nur frech und man könne mein dummes Verhalten weg-erziehen. Selbst Lehrer behaupten, dass man FAS weg-erziehen kann. Eine Leiterin hat meiner Mutter mal gesagt, dass ich mir die Krankheit ja nur ausgedacht habe als Ausrede für mein Benehmen. Ich dachte, ich höre nicht richtig, als ich das erfahren habe.

Hast Du Schwierigkeiten Freunde zu finden? Wenn ja, warum?

Alexia: Das macht mir sehr zu schaffen, dass es schwierig ist, Freunde zu finden. Die meisten sehen nicht, dass ich FAS habe und denken alle, dass ich normal bin. Wenn ich ihnen das dann sage, dann gucken die mich an, als ob ich spinne. Die wollen das dann gar nicht glauben.

Ich hatte mal eine Freundin, die hat mich ganz so gemocht wie ich war. Die hat mich richtig verstanden. Leider sind die dann weggezogen.

Jetzt habe ich einen festen Freund. Der hat auch so seine Probleme. Er kann zum Beispiel auch nicht gut Druck aushalten. Ich kann das ja gut verstehen. Wir ergänzen uns super. Das sagen auch meine Eltern.

Hast Du Ausgrenzung erlebt, wenn ja, in welcher Form?

Alexia: Es sind immer wieder Leute über whatsapp auf mich losgegangen. Als ich mal in einer Reha war, habe ich richtiges Mobbing erlebt.

Die verstehen alle nicht, dass FAS eine Krankheit ist und werden böse. Teilweise bin ich richtiggehend bedroht worden. Ich kann eigentlich gar nicht genau sagen, warum die nichts mit mir zu tun haben wollen. Das ist doof. Es macht mich traurig und wütend zugleich.

Welche Unterstützung hast Du bisher bekommen und was hat Dir besonders gut getan?

Alexia: Ich reite, seit ich drei Jahre alt bin. Meine Mama hat mich das erste Mal auf der Lochmühle auf ein Pferd gesetzt. Seitdem bin ich einmal die Woche beim therapeutischen Reiten.

Sprachtherapie und auch Ergotherapie haben mir gut getan.

Es ist schön, Hunde und Katzen zu haben so wie wir.

Was wünschst Du Dir, was Dein Leben leichter machen würde?

Alexia: Ich wünsche mir mehr Hilfe, vor allem in der Schule. Ich wünsche mir, dass die Lehrer besser geschult werden, mehr Fortbildung bekommen, damit sie FAS verstehen und besser auf uns eingehen können. Es ist doch ein Unding, dass sich die Lehrer einfach ihr eigenes Bild machen und versuchen, uns umzuerziehen. Das geht doch sowieso nicht.

Ich hatte mal eine Lehrerin, die sprach mit mir, als ob ich drei Jahre alt wäre. Als ich mal eine Pause von ihr brauchte und weggehen wollte, hat sie mich am Genick und den Händen festgehalten und mir befohlen dazubleiben. Meiner Mutter hat sie gesagt, ich sei nicht beschulbar. Ich finde, sie hat den falschen Beruf.

Welchen Berufswunsch hast Du?

Alexia: Ich würde gerne mit Tieren arbeiten. Vielleicht kann ich ja Tierarzthelferin werden. Was mich auch interessiert, ist die Umwelt. Ich mache mir viel Gedanken über die Umweltverschmutzung. Ich kann nicht verstehen, dass die Menschen die Umwelt allein schon dadurch verschmutzen, dass sie ständig Plastik, Flaschen und andere Sachen einfach in die Gegend schmeißen.

Kennst Du Deine biologische Mutter? Welche Gefühle hast Du, wenn Du an sie denkst?

Alexia: Ich kenne sie nur vom Foto. Ich will sie gar nicht kennen lernen. Ich habe so ein schönes Leben und stehe mit beiden Beinen im Leben. Das haut mich dann nur weg, wenn ich ihr begegnen würde und das will ich nicht.

Ich habe Wut und bin sehr traurig, wenn ich darüber nachdenke. Sie leugnet, dass sie getrunken hat. Meine biologische Mutter sehe ich lediglich als eine Erzeugerin.

Meine Mutter ist die, die mich groß gezogen hat, die, die immer für mich da war und ist und mich immer unterstützt. Alles andere zählt für mich nicht.

Hast Du Dich schon immer so mutig dazu bekannt FAS zu haben?

Alexia: Nein, überhaupt nicht. Der Mut kam erst durch die Feuerwehr. Mein Bruder ist da hingegangen. Eines Tages hat er mich mitgenommen. Sechs Jahre bin ich dabei geblieben. Daher habe ich mein sicheres Auftreten bekommen.

Ich habe dann aber aufgehört, als ich bei einer Mannschaftsprüfung mitmachen sollte. Allein die Vorstellung, ich mache bei der Prüfung einen Fehler, der dann der ganzen Mannschaft angerechnet wird und sie deshalb durch die Prüfung fällt – das war mir zu viel Druck. Das habe ich nicht ausgehalten. Ich kann mit Druck einfach nicht umgehen.

Warum unterstützt Du die Kampagne?

Alexia: Mit FAS zu leben ist einfach nur Scheiße. Ich träume schon so lange davon, dass es endlich eine Kampagne gibt, die das Thema Alkohol in der Schwangerschaft öffentlich macht. Es sollen nicht noch mehr Kinder geboren werden, die das Fetale Alkoholsyndrom haben.

Ich möchte dazu beitragen, dass die Menschen wissen, dass FAS vermeidbar ist. Es ist doch so einfach.

Die Frauenärzte sagen einfach immer noch zu oft, dass es okay sei, wenn man während der Schwangerschaft mal ein Gläschen Sekt trinkt. Aber das stimmt nicht! Ich fände es wichtig, dass die Frauenärzte mal eine Aufklärung bekommen.

Zum Hintergrund:

Gerade mal acht Monate war die kleine Alexia alt, als sie zu ihren Adoptiveltern kam. “Ein sehr süßes und fröhliches Baby”, erinnert sich ihre Mutter Gabriele Schwinn. Es sei zwar bekannt gewesen, dass die biologische Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe. Aber es habe lediglich ein Verdacht bestanden, dass eine Alkoholschädigung vorliegen könnte.

Aus heutiger Sicht kaum zu glauben. Denn Alexia hatte ein Loch im Herzen, schrie extrem viel, konnte erst mit viereinhalb Jahren sprechen und sie schielte – alles typische Anzeichen für das Fetale Alkoholsyndrom (FAS).

Alexia wurde operiert und therapiert. FAS war kein Thema.

Im Kindergarten dann die ersten Verhaltensauffälligkeiten, besonders gravierend ihre unkontrollierten Wutanfälle. Erziehungsmaßnahmen – Fehlanzeige. Mütter von Kindergartenfreunden gingen auf Distanz. Die Probleme waren in nicht in den Griff zu kriegen. Ein Antrag auf sonderpädagogische Förderung wurde gestellt.

Aktuell besucht Alexia eine Schule für geistige Entwicklung. “Eigentlich ist sie dafür zu fit”, sagt ihre Mutter, “aber sie benötigt den Schonraum.”

Autorin: Dagmar Elsen