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“Es berührt mich zutiefst”

Für junge Erwachsene mit fetalen Alkoholschäden ist der Weg in die Arbeitswelt in aller Regel eine Tortur. Sofern sie keinen verminderten Intelligenzquotienten haben, wird von ihnen grundsätzlich erwartet, dass sie eine Ausbildung absolvieren. Stellen sie sich beim Arbeitsamt vor, machen sie stets einen guten Eindruck, sind eloquent, freundlich und zeigen sich willig. Auf den ersten Blick scheint es für den Mitarbeiter des Arbeitsamtes so, als habe der Kandidat ausreichend Fähigkeiten und keine Verständnisprobleme. Das Fetale Alkoholsyndrom, sofern in einem Gutachten ausgeführt, stößt leider oft auf Unverständnis, weil nicht bekannt. Auch dann, wenn die begleitenden Eltern oder Betreuer die unsichtbare Behinderung erläutern. Konzentrationsprobleme? Überforderung? Geringe Aufmerksamkeitsspanne? Kein Zeitgefühl? “Ach, so schlimm kann das nicht sein. Das wird schon”, wird da abgewunken und beruhigt, “andere schaffen das auch und die haben viel schlimmere Handicaps.” Aha! Und so beginnt der Leidensweg. Ausbildungen werden begonnen und wieder abgebrochen, einmal, zweimal, dreimal. Arbeitgeber beenden immer wieder das Arbeitsverhältnis wegen untragbaren Benehmens. So geht das über Jahre, oft viele Jahre. 

Nicht so bei Luca. Luca hatte Glück und eine ganz wunderbare persönliche Ansprechpartnerin. Es war ihr ein persönliches Bedürfnis, darüber zu schreiben:

Mein Name ist Kathrin Weißberg. Ich bin die persönliche Ansprechpartnerin für Jugendliche (U25 – unter 25-jährige) im Kommunalen Job Center Lahn-Dill. Meine Aufgabe ist es, Jugendliche Arbeitslosengeld II – Bezieher*innen auf Ihrem Weg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu unterstützen und ihnen beratend zur Seite zu stehen. 

Es ist Sommer im Jahr 2020. Ich bekomme einen neuen Kunden namens Luca. Luca ist 19 Jahre und in diesem jungen Alter bereits zu 80 Prozent schwerbehindert mit dem Merkmalen G und B und bis zum 18. Lebensjahr auch „H“, welches für „hilflos“ steht. Dies kommt in der U25-Betreuung zwar vor, aber dennoch ist es zum Glück eher selten. 

Was steckt hinter Lucas Behinderung? Was sind seine Ziele, seine Pläne? Ich versende eine Einladung zur telefonischen Beratung an die Adoptivmutter von Luca, die auch gleichzeitig seine gesetzliche Betreuerin ist, um mehr zu erfahren. Eine persönliche Begegnung ist derzeit wegen der Covid-19- Pandemie leider nicht möglich. 

Luca’s Adoptivmutter berichtet, dass Luca an dem FAS-Syndrom leidet. FAS… schon mal gehört, aber für was steht die Abkürzung nochmal? Was hat Luca genau? Was sind die Folgen des FAS? Hat er Chancen, mit meiner Unterstützung eine Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt zu finden? Fragen über Fragen, die mich beschäftigen. 

Luca’s Mutter berichtet, dass ihr Sohn aufgrund des Fetalen Alkoholsyndroms leider nicht in der Lage sein wird, eine Ausbildung zu absolvieren. Aufgrund seiner Behinderung werde er auch den Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes wahrscheinlich nicht im üblichen Rahmen standhalten können. Luca komme aufgrund des FAS mit zu viel Druck nicht klar, seine Aufmerksamkeitsfähigkeit nehme im Laufe des Tages ab. Nach der Schule habe er in Q+B-Maßnahmen aber schon bis zu sechs Arbeitsstunden gut geschafft. Aktuell nimmt Luca an einer Maßnahme der Reha-Berufsberatung der Agentur für Arbeit teil, welche speziell für Menschen mit einer Behinderung konzipiert wurde. Sie nennt sich „unterstützende Beschäftigung“ und kann bis zu zwei Jahre dauern. In dieser Zeit kann Luca verschiedene Betriebspraktika absolvieren und wird währenddessen vollumfänglich unterstützt, damit er in einer regulären Arbeitsstelle Anschluss finden kann. 

Im ersten Moment bin ich schon einmal froh, dass Luca bei der Reha-Berufsberatung der Agentur für Arbeit angedockt ist, denn hier ist er genau an der richtigen Stelle. Man nimmt Rücksicht auf seine gesundheitlichen Einschränkungen und es wird versucht, eine für ihn geeignete Arbeitsstelle zu finden, bei der er auch mit seinen Handicaps gut klarkommt und auf die man Rücksicht nimmt. In der U25-Arbeitsvermittlung des Jobcenters hätte Luca vermutlich keiner der Maßnahmen Stand halten können. In der Vergangenheit kam es schon zum Abbruch von Maßnahmen oder auch „Sprengung von Gruppen“. Jedoch kann Luca nichts dafür. Grund war jedes Mal Überforderung, weil er falsch eingeschätzt worden war. Es sind die Hirnschädigungen, die seine Reaktionen hervorrufen, erklärt mir seine Mutter. Dies war mir nicht bewusst, denn vorher hatte ich noch nie einen Kunden, der an FAS gelitten hat, beziehungsweise dies diagnostiziert wurde. 

Jedoch klärt mich Luca’s Adoptivmutter auf. Dafür bin ich sehr dankbar, denn es ist ein so wichtiges Thema, das anscheinend immer noch nicht publik genug ist. Deshalb kommt es immer wieder dazu, dass Babys zur Welt kommen, die an FAS leiden. Dabei kann es doch so einfach sein: Hände weg vom Alkohol in der Schwangerschaft und das Baby entgeht ganz einfach den Folgen des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft. Welche Einschränkungen sich für das Kind aus dem Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft ergeben, wird erst später klar. Warum sind weiterhin nicht alle Frauen für dieses Thema sensibilisiert? Das macht mich sehr betroffen. Anscheinend ist eine noch größere Aufklärung hierfür notwendig, am Besten bereits an Schulen, um die Schüler und Schülerinnen für dieses Thema und dessen verheerende Folgen zu sensibilisieren oder vielleicht sogar bis zu Warnhinweisen auf alkoholischen Getränken , die auf die Gefahren bzw. Folgen bei 

Alkoholkonsum während der Schwangerschaft explizit hinweisen? Ungefähr so wie die Warnhinweise auf Zigarettenschachteln? 

Der Fall von Luca berührt mich zutiefst, denn er hat es nicht leicht – auch seine Adoptivmutter nicht. Sie kümmert sich mit vollem Einsatz und Herzblut um Luca’s Zukunft. Luca hat großes Glück mit ihr. Ich bewundere sie für ihre Kraft, Stärke und Liebe, die sie an ihr Kind weitergibt. 

Angedacht ist nun ein Übergang in das „Betreute Wohnen“. Allein dies kann bis zu mehreren Monaten dauern, bis ein Platz frei wird und eine Unterbringung gefunden wurde, die sich mit FAS auskennt. Es ist wichtig, dass sich die Betreuungseinrichtung mit FAS auskennt, damit Luca adäquat unterstützt wird und das betreute Wohnen nicht gefährdet wird und es zu einem Abbruch kommt. Nur leider gibt es bislang sehr wenige Betreuungseinrichtungen, die auf FAS spezialisiert sind. Luca wird weiterhin sein Leben lang spezielle Hilfen benötigen, um in einem geschützten Rahmen eine Tätigkeit zu finden und ausüben zu können. Er braucht starke Betreuer an seiner Seite, die ihm helfen und Rückhalt geben, wenn die FAS-Symptomatik wieder zu heftig wird. 

Ich wünsche Luca alles nur erdenklich Gute und bin dankbar, dass ich zu dieser so „einfach vermeidbaren“ Krankheit so viel (Persönliches) erfahren durfte. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass FAS noch mehr an Präsenz gewinnt und mehr Aufklärung erfolgt.