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“Wir waren so groß wie ‘ne Zuckertüte”

Berlin-Steglitz. Wir sitzen in einem offenen Eiscafé des Einkaufszentrums “Das Schloss”, einem im Kern historischen Backsteinbau, der um 36.000 qm Handels-, Freizeit- und Gastronomieflächen sowie 12.000 qm Dienstleistungsfläche erweitert wurde. Um uns herum geschäftiges Treiben, die Ohren erfüllt von der üblichen Unterhaltungsmusik und den Stimmen ständig passierender Menschen – eine laute, eine anstrengende Kulisse, schon gar für zwei junge Frauen, die das Vollbild Fetales Alkoholsyndrom haben. Mehr Reizüberflutung geht kaum.

Doch die eineiigen Zwillinge Clara und Luise Andrees sitzen von all dem ungerührt und vollkommen tiefenentspannt am Tisch. “Das macht uns inzwischen überhaupt nichts mehr aus”, verkünden die 26jährigen mit einem Strahlen im Gesicht. So vieles habe sich bei ihnen zum positiven entwickelt, erzählen sie. Bei Clara ist “auch das mit dem Gedächtnis ist viel besser geworden”. Sie müsse zwar immer noch viel länger lernen als ihre zwei Minuten ältere Schwester. “Früher war es ganz oft so, dass plötzlich alles weg war. Das ist jetzt nicht mehr so. Das hat sich mit den Jahren gelegt”, sagt Clara. Auch ihre Fähigkeiten in Deutsch und Englisch sowohl in Wort als auch Schrift sind kein Vergleich mehr zu einst: “Ganz früher konnten nur unsere Eltern verstehen, was wir geschrieben haben.” Und gesprochen haben sie fast gar nichts.

Als die Zwillinge 13 Jahre alt waren, begann sich das Blatt plötzlich zu wenden. “Das haben wir tatsächlich selbst wahrgenommen, das war echt komisch”, erinnern sie sich. Zunächst hätten sie sich gar nicht getraut darüber zu sprechen, so unglaublich sei ihnen das vorgekommen. Nach dem Hauptschulabschluss seien in ihrer ersten Ausbildung beim Oberlin Berufsbildungswerk Potsdam die positiven Veränderungen aber zu offensichtlich geworden. Dort, in diesem geschützen Rahmen, machten die damals verunsicherten Mädchen ihre Ausbildungen in Ernährung und Hauswirtschaft. Das lief so phantastisch, dass Clara und Luise Mut fassten, jenseits des Bildungswerkes eine dritte Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin dranzuhängen – ihr Traumberuf. Und tatsächlich, seit dem 23. Juni hält das Zwillingspaar stolz seine Zeugnisse in den Händen. Und nicht nur das, sie haben beide auch schon einen Job und schon angefangen zu arbeiten – mit FAS auf dem ersten Arbeitsmarkt! Die glücklichen Gesichter der Zwei sprechen Bände.

“Unser Jugendamt hat gesagt, wir sind die ersten, bei denen sie erlebt haben, dass sie so weit gekommen sind und all das geschafft haben. Sie finden das ein Phänomen”, berichten Clara und Luise. Es ist in der Tat ein Phänomen. Denn die Mädchen kamen am 24. Januar 1994 vier Monate zu früh mit nur jeweils 1000 Gramm zur Welt. “Unsere Mutter sagt immer, wir waren so groß wie ‘ne Zuckertüte”, so Luise. Recht schnell nach der Geburt kamen die Frühchen zu ihren Pflegeeltern, die für sie wie leibliche Eltern sind: “Für uns ist es egal, ob wir aus ihrem Bauch sind. Für uns sind das unsere Eltern. Und das ist schön, unsere Bindung ist sehr eng.” Die leibliche Mutter haben die Zwillinge nie kennengelernt und missen das auch nicht. “Wir haben keine Gefühle für sie”, sagen beide unisono. Inzwischen sei sie eh verstorben. Sie wissen nur, dass in der Schwangerschaft Alkohol im Spiel war, weshalb Luise und Clara auch schon als Babys zur Diagnostik zu FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr an die Berliner Charité kamen.

Beide Mädchen hatten die klassischen faszialen Auffälligkeiten, Minderwuchs, waren aber sonst körperlich gesund. Ihre Hirnorganschädigungen waren noch nicht in Gänze zu differenzieren. “Von Anfang an haben Mama und Papa gesagt, wir sind nicht krank, sondern haben nur eine Beeinträchtigung, dass wir zwar anders sind, aber einen normalen Weg gehen sollen”, berichtet Luise. Die Zwillinge besuchten einen Regelkindergarten und im Anschluss eine weiterführende Waldorfschule. Den anthroprosophischen Ansatz hielten die Eltern für elementar und hegten die Hoffnung, dass man sich ihren Kindern sorgsamer widmen würde.

Diese Erwartungen wurden allerdings nicht ganz erfüllt. “Wir wurden immer als frech und faul abgeurteilt. Uns wurde unterstellt, wir würden die Lehrer nicht ernst nehmen, seien delinquent. Und wir würden nicht reden, nicht, weil wir nicht könnten, sondern weil wir nicht wollten”, erinnern sich die Beiden. Außerdem habe keiner verstanden, dass jegliche Lautstärke sie sofort ablenkte, ebenso wie Neues, das sie magnetisch anzog. Luise: “Wir konnten nicht bei uns bleiben, wir konnten uns nicht abschirmen.”

Die Eltern setzten auf das Motto “Durchhalten”, suchten den engen Austausch mit den Lehrern, bestanden auf Logopädie sowie jahrelangem Nachhilfeunterricht in Deutsch und Englisch. “Mathe war nie ein Problem. Ich kann zum Beispiel in fünf Minuten ganz viele Telefonnummern auswendig lernen”, freut sich Luise. Ihr Kurz- und Langzeitgedächtnis ist insgesamt recht gut. Ihre Schwester hingegen hatte ernsthafte Probleme, die sich aber eben zwischenzeitlich relativiert haben. Sie muss nach wie vor deutlich ausdauernder lernen.

Zum Ausgleich wurde Sport groß geschrieben. “Wir sind nicht mal in der Pubertät wie andere feiern gegangen oder so, wir haben immer nur zusammen unseren Sport gemacht”, erzählen sie. Eine zeitlang sind sie als Gast im Zirkus Sonnenstich** Einrad gefahren. Außerdem spielten sie mit großer Leidenschaft Fußball. Clara immer noch, Luise wechselte zu Tischtennis. Taktik, Spielzüge, Punktspiele – alles kein Problem.

Trotz allen Engagements der Eltern – in der siebten Klasse wurde Mobbing zum Riesenthema für die Geschwister. Luise: “Wir wurden immer nur ausgelacht, egal was wir gesagt haben, alle haben immer nur gelacht und wir wussten nicht warum. Das ging bis zur zehnten Klasse. Keiner mehr wollte mit uns Gruppenarbeit machen. Man warf uns vor zu dumm zu sein.” Die Lehrer seien mit der Situation völlig überfordert gewesen. “Sie wussten zwar, dass wir FAS haben, aber sie konnten nicht wirklich etwas damit anfangen. Sie dachten, es ist eine Ausrede”, ist sich Luise sicher. Da es sich um eine Waldorfschule handelte, die nicht daran interessiert war sich einen Skandal einzufangen, ließ man die Zwillinge gewähren, die sich von nun an als Außenseiter positionierten: “Wir haben uns von allem separiert und konzentrierten uns ausschließlich aufeinander. Wenn wir gemobbt wurden, verließen wir wortlos und türenknallend den Unterricht.”

“Übrigens”, ist es Luise wichtig zu erwähnen, “beim Mobbing haben die Eltern der Mitschüler schön mitgemacht. Die wollten auch, dass wir getrennt werden und waren eh der Ansicht, dass wir sowieso nichts auf die Reihe kriegen werden.” Harte Zeiten, die zunächst nachhaltige Spuren hinterließen. Das Selbstbewusstein der Zwillinge ging in den Keller. Nach dem Schulabschluss trauten sie sich nicht zu, irgendeine Ausbildung machen zu können. So landete das Geschwisterpaar beim Bildungswerk. In diesem geschützten Rahmen blühten die Mädchen dann so richtig auf und starteten durch. “Dort hat man uns verstanden und so akzeptiert, wie wir sind. Man hat uns nicht nur wahr, sondern auch ernst genommen”, haben beide die Erfahrung gemacht.” Außerdem reüssierten sie besonders im praktischen Teil der Ausbildung: “Da hatten wir nur Einsen und Zweien.”

Mit dem Erfolg und der Anerkennung in der Ausbildung kam das Selbstbewusstsein. Aber allein das ist in den Augen der Zwillinge nicht der Grund für den Weg ins Glück: “Es hat uns sehr geholfen, dass wir zu zweit waren, das ist bei uns der Schlüssel gewesen.” Zudem habe ihr Ehrgeiz dazu beigetragen, ihr fester Wille, dass sich vieles ändert, nicht zuletzt die gute Unterstützung, die sie von zu Hause bekommen haben.

Mit ihrem gewonnenen Selbstbewusstein änderte sich obendrein die Haltung zu ihren Beeinträchtigungen: “Vorher konnten und wollten wir nicht darüber sprechen, weil es uns peinlich war. Jetzt aber können wir jedem sagen, dass es zu uns gehört.” Mehr noch: “Wir wollen der Welt zeigen, dass es auch anders geht.” Luise und Clara möchten den Menschen die Augen öffnen, was fetale Alkoholschäden bedeuten, wie sie sich auswirken, wie damit umzugehen ist. Sie wollen anderen Betroffenen Mut machen, dass es einen Weg geben kann, ein erfülltes Leben zu führen wie andere Menschen ohne Beeinträchtigungen auch. Und sie wollen, dass es endlich aufhört, dass Menschen mit fetalen Alkoholschäden abgestempelt und ausgegrenzt werden.

*Heilerziehungspfleger begleiten und unterstützen Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder seelischer Behinderung aller Altersstufen, um deren Eigenständigkit zu stärken und sie zu einer möglichst selbständigen Lebensführung im Alltag zu befähigen.

**Der Zirkus Sonnenstich ist ein künstlerisches Projekt mit sozialer Verantwortung für eine inklusive Gesellschaft. Es bietet einer Vielzahl von Menschen mit Trisomie 21 oder anderen Lernschwierigkeiten die Räume und die Plattform, als strahlende Künstlerpersönlichkeiten und kompetente Zirkustrainer im Zentrum der Gesellschaft sichtbar zu sein. www.zbk-berlin.de

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne