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Mit etwas Druck wird schon was aus ihr werden

“Als ich als Verantwortliche im Pflegedienst den Notruf wählen musste, wurde mir selbst schwarz vor Augen.” Für Anne* war das der Moment, nach dem ihr endgültig klar war: “Ich fühle mich hoffnungslos überfordert. Ich bin es. Ich kann nicht mehr.”

Von Kindesbeinen an hatte sich die heute 34jährige immer wieder gestresst gefühlt. Sie sei ein ruhiges Kind gewesen, zurückhaltend, introvertiert und schnell reizüberflutet. Im praktischen Leben merkte Anne, dass sie leicht ablenkbar war. Mitten während einer Tätigkeit vergaß sie, sie zu Ende zu bringen. Überall ließ sie Dinge herumliegen und nahm das nicht wahr. “Abläufe, die mehr als drei verschiedene Tätigkeiten erforderten, à la ‘bring den Müll raus, schau nach Frau B. und schließ danach die Türe vom Haupthaus ab’, konnte ich mir nicht merken”, so Anne.

Ihre Pflegemutter wurde mit diesen Herausforderungen oft ungeduldig. “Meine Eltern waren sehr erfolgsorientiert und arbeiteten viel”, berichtet Anne. Dabei habe ein Arzt in ihrer frühen Kindheit zu den Pflegeeltern, beides Pädagogen, mit auf den Weg gegeben: “Wenn ihre Tochter mal den Hauptschulabschluss schafft, ist das schon okay, erwarten sie nicht zuviel.” Das aus gutem Grund. Wussten sie doch, dass Anne auf Fetales Alkoholsyndrom diagnostiziert war, dokumentiert im Arztbericht. “Das haben meine Eltern aber ignoriert, bzw. gedacht, wenn man sie nur oft genug erinnert und etwas Druck macht, wird aus ihr schon was werden. „Wir können doch stolz sein, was aus unserer Tochter geworden ist“ – bis ich 28 Jahre alt war und der endgültige Zusammenbruch geschah.”

Wieso nur ist dem Jugendamt im Laufe der Jahre nichts aufgefallen? Nicht einmal, als Anne von zu Hause abhaut und sich aus lauter Verzweiflung mit 19 Jahren hilfesuchend ans Jugendamt wendet. O-Ton Anne: Es ist doch schon schräg genug, wenn jemand in dem Alter von zu Hause wegläuft.” Optisch habe man ihr FAS kaum mehr angesehen. “Und ich war ja nicht blöd”, lautet ihre Erklärung. Denn dank einer guten täglichen Struktur schaffte Anne sogar das Fachabitur. Die Pflegeeltern konnten dem Jugendamt also stets vermelden: „Die Anne, ja, die macht sich gut.“

Die auf existentielle Sicherheit bedachten Pflegeeltern suchten mit ihr einen vermeintlich krisensicheren Beruf aus. Anne machte eine Ausbildung zur Altenpflegerin, ohne dass bedacht wurde, welch ein immenses Stresslevel dahintersteckt. Der Zeitdruck in der Altenpflege machte ihr von Beginn an zu schaffen. „Dass ich dort bereits massiv überfordert war, war mir da gar nicht bewusst. So habe ich als zurückhaltende Tochter und Kollegin versucht das zu machen, was von mir erwartet wurde, auch wenn ich nach der Arbeit nur noch schlafen konnte, weil ich für nichts mehr Energie hatte.“ Hinterfragt worden sei das von keiner Seite. Später, in der realen Arbeitswelt, sei die Überforderung immer schlimmer geworden.

Eines Tages zog Anne die Notbremse, flüchtete sich in ein Freiwilliges Soziales Jahr und ging nach Augsburg. Dort arbeitete sie im Museum. Hier passierte das genaue Gegenteil. Anne war unterfordert. Ihr seien keine klaren Aufgaben gestellt worden. Aufgaben, an denen sie Interesse zeigte, seien ihr nicht zugetraut worden, weil sie doch nur eine Praktikantin sei. Die 34jährige rückblickend: “Da habe ich krasse Depressionen gekriegt. Ich fühlte mich so hilflos, so ohnmächtig.” Aber ihr war klar, dass sie dringend etwas unternehmen musste. Sie suchte die Grenzerfahrung: “Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt. Bewegung hat mir gut getan. Ich bin in zwei Tagen mit dem Fahrrad nach Nürnberg gefahren und habe alleine in der Wallachei übernachtet. Danach ging es mir besser. Mir hat auch diese Routine auf dem Fahrrad gut getan. Immer dieses Gleichmäßige, das dauernde Treten der Pedale, das die Räder immer weiter drehen lässt. Es geht immer weiter. Es gibt das Gefühl einer gewissen Zuverlässigkeit. Danach hatte ich richtig viel Energie.”

Anne entschied sich für ein Kulturstudium in Lüneburg. Dort war auch erst einmal alles gut. Es gab klare Vorgaben und eine gute Struktur. “Ich habe zwar immer länger gebraucht als die anderen. Aber das war mir egal”, so Anne. Sie wechselte die Universität nochmal und studierte weiter in Hamburg. Nun stand die Bachelorarbeit an. Und die Katastrophe nahm ihren Lauf. In Hamburg sei alles sehr frei und kreativ gewesen, von wegen ‘sucht euch mal ein Thema, was euch interessiert’; dies sehr oft in Gruppenarbeit. Gift für Anne. Sie drohte zu scheitern. Das Scheitern vor Augen wollte Anne nicht verstehen. Sie machte mit diesem Studium doch endlich das, was sie schon immer gewollt hatte. Warum klappte das nicht? Alle hatten sich doch mit ihr gefreut, dass sie endlich ihren Weg gefunden hatte.

Anne war verzweifelt. Dann kam on top eine Blasenentzündung. Der Arzt verschrieb ihr ein Medikament, von dem sie nur noch kränker wurde, so schlimm, dass sie das Studium kurz vor dem Ziel aufgeben musste. Geldsorgen kamen hinzu, denn sie hatte eine Studienkredit aufgenommen.

Anne: “Ich hatte ein Fachabi in der Tasche, war ausgebildete Altenpflegerin und sehe neben mir eine Hauptschülerin, die mehr auf die Reihe kriegt im praktischen Leben als ich. Man fühlt sich total beschissen. Keiner wusste, was mit mir los ist. Keiner konnte mir helfen. Im Jobcenter sind sie sehr nett gewesen. Aber helfen?”

Anne wusste nicht mehr ein noch aus. Ihre Schwester war schließlich die treibende Kraft, sie zu einem Psychiater zu mitzunehmen und sich mit ihr um ambulant-psychiatrische Unterstützung kümmerte. “Und dann saß ich bei der Psychiaterin, die mir aus meiner Akte vorlas, dass meine leibliche Mutter viel Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat, und mir kamen die Tränen”, erinnert sich Anne noch sehr genau an ihre Fassungslosigkeit und ihren Schmerz. Sie konfrontierte ihre Pflegeeltern mit dem Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom, die ihr daraufhin vorschlugen, sich diagnostizieren zu lassen.

Nun ist es amtlich und “ich habe wenigstens eine Diagnose, die mich schützt”, stellt die 34jährige klar. Aber klar ist auch, dass sie seit der Medikamenteneinnahme chronisch krank und arbeitsunfähig ist. Autoimmunerkrankungen werden die junge Frau ihr Leben lang begleiten, ebenso wie Chronic fatigue – chronische Überforderung.

Ihren kleinen Haushalt führen, Anträge stellen, sich mit der Krankenkasse auseinanderzusetzen, alles Dinge, die ihr früher gut von der Hand gingen. Jetzt nicht mehr. Sie hat sich deshalb um eine gesetzliche Betreuung gekümmert, die außerdem die Grundsicherung für Anne beantragt hat. Zusätzlich wird sie von einer Haushaltshilfe im täglichen Leben unterstützt. “Jetzt kann ich zur Ruhe kommen, auch wenn es schlimm ist, was passiert ist”, sagt sie, und auch: “Trotz allem bin ich stark geblieben.”

Und im Rückblick zieht sie folgendes Fazit: “Für mich sind viele Zusammenhänge deutlich geworden, die mit mehr professioneller Unterstützung, Feingefühl und Rücksicht auf FAS vermeidbar gewesen wären.

*Der Name ist auf Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Betreuerin Lisa: “Meine Arbeit wurde teilweise in Frage gestellt”

Lisa, 31 Jahre alt, hatte zunächst in Augsburg eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Im Anschluss arbeitete sie in Berlin in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen. Hier wurde ihr alsbald angetragen, auch für die Betreuung eines jungen Mannes verantwortlich zu sein, dem im Alter von 18 Jahren fetale Alkoholschäden diagnostiziert wurden. Das war 2014. Seit 2018 studiert sie in Regensburg an der Hochschule soziale Arbeit und schreibt gerade an ihrer Bachelorarbeit zum Thema Fetales Alkoholsyndrom. Lisa möchte sich damit fit machen, noch besser aufklären zu können. Das finden wir großartig und wollten mehr von ihr wissen.

Wird an Deiner Uni das Fetale Alkoholsyndrom thematisiert? Wenn ja, in welcher Form?

Lisa: Meiner Meinung wird es total vernachlässigt. Lediglich bei einem Seminar mit dem Titel „Suchterkrankung“ wurde die Thematik in einer Vorlesung angesprochen. Es handelte sich hierbei nicht einmal um eine Pflichtveranstaltung, sondern um einen Wahlkurs. Das heißt, viele meiner Kommilitonen haben während ihres gesamten Studiums nichts vom Fetalen Alkoholsyndrom gehört.

Wann bist Du mit der Thematik zum ersten Mal in Berührung gekommen?

Lisa: Nach meiner Ausbildung zur Erzieherin in Berlin. Neben meiner Tätigkeit in einer Wohngruppe wurde es zu meiner Aufgabe, im ambulant betreuten Wohnen einen jungen Mann zu begleiten, der die Diagnose FASD hatte. Er sollte zum ersten Mal allein in einer eigenen Wohnung zurechtkommen. Vorher hatte er viele Jahre im betreuten Wohnen gelebt.

Warst Du denn auf diesen Job speziell vorbereitet?

Lisa: Im Vorfeld hatte ich noch nie etwas über dieses Krankheitsbild gehört und mir wenig Gedanken darüber gemacht, ob es spezielle Punkte gibt, die zu beachten sind. Auch für die Einrichtung war es neu, da bisher nur Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung begleitet wurden. Aus diesem Grund konnte ich nicht auf bestehende Erfahrungen zurückgreifen. Wenn ich jetzt an die Zeit zurückdenke, wäre einiges leichter gewesen, wenn ich zum damaligen Zeitpunkt schon mehr über die Diagnose gewusst hätte.

Für mich war die Zusammenarbeit mit dem jungen Mann ein Lernprozess, in dem ich immer wieder erfahren musste, wie weitreichend sich dieses Krankheitsbild auf den gesamten Alltag auswirken kann.

Was genau war Dein Arbeitsauftrag?

Lisa: Wir lernten uns kurz vor dem Einzug in seine neue Wohnung kennen und wir waren beide aufgeregt und gespannt, wie unsere Zusammenarbeit, das Einrichten der Wohnung und das Finden gemeinsamer Abläufe werden würde. Ein großes Ziel war die berufliche Integration des jungen Mannes und das Strukturieren seines Alltags.

Aus heutige Sicht – wie bewertest Du Deinen Umgang mit dem jungen Mann?

Lisa: Im Nachhinein weiß ich, dass ich den jungen Mann, vor allem zu Beginn, häufig überfordert habe mit verschiedenen Ideen und Aufgaben, die ich hatte. Für mich einfache und klare Aufgaben, wie das Aufräumen der Wohnung, waren für den jungen Mann nur schwer zu bewältigen. Mit der Zeit verstand ich, dass Handlungsabläufe einfach nicht strukturiert umgesetzt werden konnten, oder gemeinsame Termine nicht „bewusst“ vergessen wurden, sondern diese Aspekte Teil der Behinderung sind. Die größte Herausforderung war für mich immer wieder, Geschehnisse nicht persönlich zu nehmen und zu verstehen, dass es dem jungen Mann einfach nicht möglich war, bestimmte Dinge zu erledigen.

Zum Glück waren wir beide nicht nachtragend und konnten so nach der Bewältigung einiger Hürden gemeinsam einen professionellen Weg finden, um verschiedene Ziele zu erreichen. Wir hatten uns auch schon von Beginn an gut verstanden.

Wir führten viele Gespräche, die mir geholfen haben, die Lebenswelt und das Krankheitsbild des jungen Mannes besser zu verstehen. Ich bin froh, dass er damals so offen mir gegenüber war, obwohl er in seiner Vergangenheit bereits viele negative Erlebnisse mit Fachkräften gemacht hatte. Die Diagnose hatte er erst nach seinem 18. Lebensjahr bekommen. Er erzählte, dass er in seiner Kindheit und Jugend oft missverstanden wurde, dass sein Verhalten häufig fehlverstanden wurde.

Welche Ziele konntet ihr erreichen, welche nicht?

Lisa: Wir erstellten gemeinsam Pläne für verschiedene Aufgaben, auf denen detailliert die einzelnen Arbeitsschritte aufgelistet waren. Viel Zeit nahm das angeleitete Aufräumen der Wohnung ein. Auf den Plänen waren für jeden Tag verschiedenen Aufgaben aufgelistet, welche in der Wohnung erledigt werden sollten. Diese arbeiteten wir gemeinsam bzw. unter Anleitung ab.

Ein weiterer großer Punkt war die Ernährung. Ich versuchte ihm Abläufe beim Kochen zu erklären und diese aufzuschreiben, da er sich ausschließlich von Fertigprodukten ernährte. Eine gesunde Ernährung war wichtig, da er einen zu hohen Zuckerwert hatte und deshalb genau darauf achten sollte, was er zu sich nimmt, um nicht an Diabetes zu erkranken.

Die berufliche Integration war ein weiterer großer Bereich. Das Arbeitsamt wollte ihn immer wieder auf den ersten Arbeitsmarkt schicken, was ihn aber überforderte. Dort wurde die Überforderung nicht erkannt, sondern sein Verhalten als „faul“ eingestuft. Wir erarbeiteten gemeinsam seine Interessen und organisierten verschiedene Praktika im Seniorenheim oder in einer Fahrradwerkstatt. Im Rahmen der Praktika ist es ihm immer wieder schwer gefallen, den dort herrschenden Anforderungen gerecht zu werden.

Auch Betreuer von Menschen mit fetalen Alkoholschäden merken schnell, dass sie bei anderen auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Welche Erfahrungen hast Du gemacht?

Lisa: Das Unverständnis von außenstehenden Personen hat mich immer wieder wütend gemacht. Bei Themen, wie beispielsweise einer geeigneten Arbeitsplatzsuche, kämpften wir immer wieder mit Rückschlägen. Wie eben kurz angesprochen, verstand das Arbeitsamt nicht, dass ihn viele Dinge überforderten. Ich fand es schwer mit anzusehen, dass er durch die Vorgaben vom Amt immer wieder an seine Grenzen gebracht wurde und frustrierende Erfahrungen machen musste. Selbst bei meinen Kollegen habe ich Unverständnis wahrgenommen.

Meine Arbeit wurde teilweise in Frage gestellt, da zum Beispiel die Wohnung trotz aller Bemühungen nicht dem subjektiven Bild von ordentlich entsprach. Die gesamte Zusammenarbeit kam mir wie ein Hürdenlauf vor. Sobald wir das Gefühl hatten eine Hürde überwunden zu haben, zeigte sich die nächste.

Wie ist Dein Eindruck – sind die Menschen über die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft genug aufgeklärt?

Lisa: Ich finde, dass die Gesellschaft nicht ausreichend aufgeklärt ist, welche Folgen der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft haben kann. Immer wieder hört man Aussagen wie „ein Gläschen Sekt während der Schwangerschaft ist doch nicht so schlimm“ oder „das bisschen Alkohol in der Nachspeise macht doch wohl nichts aus während der Schwangerschaft“. Wenn ich solche Aussagen höre versuche ich immer wieder aufzuklären und ein Verständnis zu schaffen. Durch meine Bachelorarbeit kann ich mich nun noch einmal intensiver mit dem Thema auseinandersetzen und hoffe, dass ich durch mein Wissen andere aufklären und für das Thema sensibilisieren kann.

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Mit 18 bin ich trotz FAS kein Kind mehr

Ich merkte es selbst. Das Rad drehte immer schneller. Ich wurde immer aggressiver, fuhr immer schneller aus der Haut, konnte meine Wutausbrüche kaum mehr regulieren. Ich rastete immer wieder so sehr aus, dass ich mich selbst verletzte, indem ich brutal gegen die Wände schlug bis die Handknöchel aufplatzten, oder zumindest der Handrücken blau anschwoll. Ich hatte keine Lust mehr auf die Arbeit in der Küche des Altenwohnheims, ich hatte keine Lust mehr in der Wohngemeinschaft zu leben. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses verdammte Leben.

Ich war nur noch selten gut gelaunt unterwegs. Im Grunde war ich dauerwütend. Das bekamen vor allem die Betreuer in der WG zu spüren. Ich war verbal ausfallend, behandelte alle wie Dreck, hielt mich nicht mehr an Regeln, manche hatten sogar Angst vor mir. Immer öfter ging ich nicht mehr zur Arbeit. Wenn ich es vermeiden konnte, blieb ich der WG fern, schlief ständig bei irgendwelchen Freunden.

Warum auf einmal dieser Stimmungswandel, da bisher ja eigentlich alles soweit ganz gut gelaufen war?

Ich war inzwischen 18 Jahre alt geworden und ich fühlte mich immer noch behandelt wie ein Kind. Ständig wurde ich bevormundet. 18 Jahre heißt ja schließlich volljährig, selbst bestimmen, was man tun und lassen will, nicht mehr permanent unter Beobachtung stehen. Ich hatte auch keine Lust mehr auf dämliche Spieleabende in der WG, keine Lust auf Gemeinschaftskochen, keine Lust auf gemeinsames Ausgehen am Samstagabend. Ich hatte kein Bock mehr für alles ständig kontrolliert zu werden. Und ich wollte mich nicht mehr für alles und jedes rechtfertigen müssen. Ich wollte behandelt werden als erwachsener Mensch. Ich wollte insgesamt mehr Freiraum im Rahmen der Betreuung.

Dass ich nicht alles alleine konnte, war mir schon klar. Ich schaffe es zum Beispiel nicht, regelmäßig selbständig aufzustehen und pünktlich zur Arbeit zu kommen. Ich komme einfach mit der Zeit nicht klar, weil mir das Gefühl dafür fehlt. Geld muss ich wöchentlich ausgehändigt bekommen, sonst gebe ich alles auf einmal aus. Meine vielen Arztbesuche, Friseurtermine und solche Dinge kann ich nicht alleine organisieren, da brauche ich Hilfe.

Meine Mutter war im alarmierten Dauereinsatz, die WG-Betreuer zu beruhigen und nach einer Lösung zu suchen. Die Idee war: Einzelzimmer-Appartement im gleichen Haus der Wohngemeinschaft. Das gab es, diese waren aber belegt. Ich sollte mich in Geduld üben. Man arbeite daran, hieß es wieder und wieder. Die Wochen verstrichen, die Monate zogen ins Land. Nichts passierte, gar nichts. Mir riss der Geduldsfaden. Ich beschwerte mich bei meiner Mutter, dass sich nichts ändere. Sie bot mir an, dass sie nach anderen Möglichkeiten schauen könne, was aber mit einem Ortswechsel verbunden sei. Das wollte ich nicht. Veränderungen sind anstrengend für mich, im Grunde überfordern sie mich. Außerdem wollte ich meine Freunde nicht verlieren.

In der WG fing ich wieder an zu randalieren. Die Betreuer unterstellten mir, ich sei gewalttätig. Sie glaubten, ich würde mit Kriminellen abhängen. Heimlich durchsuchten sie mein Zimmer, schauten in meine Schränke. Das ist verboten. Das interessierte sie aber nicht. Was sie fanden, brachten sie zur Polizei und wollten mich wegen Waffenbesitzes anzeigen, um mich schon allein aus diesem Grund rausschmeißen zu können. Der Trick funktionierte aber nicht. Denn was sie der Polizei vorlegten, war schlicht ein Brieföffner, dessen Klinge nicht einmal lang genug war, um als Waffe zu gelten. Den hatte ich mal im Sperrmüll gefunden. Dann unterstellten die Betreuer mir noch, im Supermarkt geklaut zu haben. Auch das war Fake.

Trotzdem, eines Tages kam es blitzartig zum Shutdown. Denn wenn ich mich nicht an die Vorgaben und Regeln der WG hielte, passe ich nicht mehr in den vorgegebenen Rahmen. Zwei Betreuer kamen auf mich zu und sagten: “Pack Deine Sachen. Du bist raus. Maßnahme beendet.” In wilder Hast musste ich zwei Taschen packen. Draußen wartete die Polizei. Ich musste mit auf die Polizeistation. Meine Mutter war über die ganze Aktion nicht informiert. Das hatten die Mitarbeiter der Wohngemeinschaft gemeinsam mit dem Jugendamt heimlich abgestimmt. Der Rausschmiss bedeutete aber auch: Da landet ein volljähriger zu 80 Prozent Schwerbehinderter mit den Merkmalen G,B,H quasi obdachlos auf der Straße. Deshalb hatte die Einrichtung die Polizei verständigt. Sollten die doch sehen, was sie mit mir machen. Wow!

Die Polizisten waren sehr nett zu mir. Sie kannten mich. Einer, der Chef, rief meine Mutter an und ich hörte wie er sagte, dass er nichts schlechtes über mich sagen könne. Er kenne mich aus dem Ort nur freundlich und kooperativ. Dass ich gewaltbereit sei, das könne er nicht bestätigen. Meine Mutter jedenfalls fiel aus allen Wolken und war fassungslos über all das Geschehen.

Jetzt war guter Rat teuer. Aber meine Mutter, ja die kann tatsächlich Berge versetzen. Um es kurz zu machen: Ich kam in eine andere Stadt in eine offene Wohngemeinschaft mit ambulanter Betreuung. Über das Bildungswerk wurde ich für Praktika an Altenwohnheime vermittelt, um dort in der Küche zu arbeiten.

Tja, was soll ich sagen. Zunächst ging das alles einigermaßen gut. Ich genoss vor allem meine neu erworbene Freiheit. In den ersten Wochen kümmerte sich meine Mutter sehr intensiv um mich. Für mich war ja alles neu und fremd. Ich musste so viele neue Menschen kennenlernen. Ich musste so viele Wegstrecken erlernen. Wie oft stand ich irgendwo völlig orientierungslos und wusste nicht weiter, war außer mir, wütend über die Situation, über mich, weil ich mir nicht selber helfen konnte, es hasste, unfähig zu sein. Die Betreuer, die ich vor Ort hatte, konnte ich in solchen Situationen nicht anrufen. Die hatten feste Zeiten mit mir. Das machte mich wütend. Das war schwierig für mich einzusehen. Deshalb musste meine Mutter immer am Telefon herhalten. Das war nervenaufreibend – für sie, für mich.

Ich musste lernen, wo ich was einkaufen und wo ich was im Supermarkt finden konnte. Die Supermärkte hier waren um ein vielfaches größer als das, was ich von vorher gewohnt war. Bis ich dann endlich mal die Produkte, die ich gewohnt war, in den Regalen gefunden hatte, dauerte. Ich vergaß vieles wieder. Anfangs begleitete mich meine Mutter, dann wollte ich allein. Das klappte mehr schlecht als recht, so dass ich häufig entnervt war. Meine Mutter weigerte sich, mich dauerhaft so intensiv wie zu Anfang zu unterstützen. Das sollte die Aufgabe der Betreuer sein. Das wollte ich aber nicht. Ich kannte die doch gar nicht. Ich bockte viel und war unfreundlich. Es dauerte, bis ich mich auf fremde Hilfe einließ.

Dann kam die Pandemie und damit der erste Lockdown, der alles verändern sollte.

Niedergeschrieben von Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft – eine Straftat?

Schaut man ins Nachbarland Polen, dann ist es strafbar, wenn die Mutter ihr Kind im Mutterleib durch Alkoholkonum absichtlich gefährdet. Dann drohen ihr bis zu fünf Jahre Gefängnisstrafe.

Im Jahr 2013 sorgte in Polen ein Fall für Aufsehen, als eine hochschwangere Frau in Lodz beim Einkaufen zusammenbrach und von Passanten ins Krankenhaus gebracht wurde. Die Ärzte stellten bei der 24jährigen einen Alkoholwert von 2,6 Promille fest und entschieden: Wir holen das Kind per Notkaiserschnitt. Fassungslos stellten sie fest, dass das Kind gar mit 4,5 Promille Alkoholgehalt im Blut auf die Welt kam.

Am 23. Dezember 2019 waren die Polen wieder in Aufruhr. Eine 44jährige kam betrunken in ein Warschauer Krankenhaus. Ihr Kind bekam sie zwar auf natürlichem Wege, aber mit einem Alkoholpegel von 3,2 Promille. Diesen Wert wies auch der Säugling auf.

Ist das Verhalten der Mütter, wenn sie wider besseres Wissen Alkohol in der Schwangerschaft konsumieren, schwere Körperverletzung oder gar (versuchter) Totschlag?

Darüber wurde auch in Großbritannien anno 2014 diskutiert, bzw. vor Gericht verhandelt. Ein Anwalt war für ein sieben Jahre altes Mädchen mit fetalen Alkoholschäden vor den Kadi gezogen und hatte eine Entschädigung aus dem staatlichen Opferfond für Gewaltverbrechen verlangt.

In erster Instanz hatte man dem Anwalt Recht gegeben. Die Mutter habe dem Kind bösartig Gift verabreicht, hieß es in der Urteilsbegründung. Die zweite Instanz hob das Urteil wieder auf und gab zur Begründung an: Die Mutter habe zwar Alkohol getrunken, damit aber nur den Fötus geschädigt. Und ein Fötus sei kein Wesen mit persönlichkeitsrechtlichem Status. Übersetzt bedeutet das: Das Mädchen war zum Zeitpunkt der Schädigung noch kein Mensch, also ist die Mutter nach juristischen Gesichtspunkten unschuldig.

So ähnlich verhält es sich auch in deutschen Landen. Mit einem Unterschied: Nach einem Alkoholmissbrauch der eigenen Mutter während der Schwangerschaft haben Kinder bei einem versuchten Schwangerschaftsabbruch Anspruch auf Entschädigung. Genauer gesagt: Will die Mutter das Kind sozusagen bewusst “wegtrinken”, dann ist es strafbar.

So geht es aus einem aktuellen Urteil des Bundessozialgerichts hervor. Die Kasseler Richter wiesen jetzt aktuell die Klage eine2005 geborenen Jugendlichen ab. Die Jugendliche, die bei Pflegeeltern lebt, forderte eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz für Kriminalitätsopfer. Das Land Sachsen-Anhalt hatte das abgelehnt.

Eine Entschädigung könne beansprucht werden, wenn die gesundheitliche Schädigung auf einen “vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff” zurückzuführen ist, hieß es in der Begründung – es muss also eine Straftat vorliegen. Die Schädigung eines ungeborenen Kindes wegen Alkoholmissbrauchs sei aber noch nicht strafbar. Eine Straftat und damit ein möglicher Opferentschädigungsanspruch liege dagegen nur dann vor, wenn die Mutter mit dem Alkoholkonsum das ungeborene Kind habe töten wollen. Im vorliegenden Fall sei der Mutter zwar klar gewesen, dass sie ihr Ungeborenes mit dem Alkohol schädige. Nicht belegt sei aber die Tötungsabsicht.

Quellen: Bundessozialgericht AZ: B 9 V 3/1 R, rp-online.de 11/2014, spiegel-online2013

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

 

FAS-Zwillinge: Der Sport ist mein Freund, nicht mein Gegner

Mancher FAS-Betroffene ist mit herausragendem sportlichen Talent gesegnet und zu großen Leistungen fähig – solange, ja solange der Sport ohne Druck ausgeübt werden kann. Aber spätestens dann, wenn es um die Wurst geht bei Wettkämpfen, Turnieren oder Medenspielen, geht plötzlich nichts mehr. Der Druck ist zu groß, die erwartete Leistung zu bringen. Fehler über Fehler passieren, Frust und Wut beginnen das Spiel zu dominieren bis irgendwann Schicht ist. Viele geben dann auf, probieren etwas anderes aus, oder machen gar keinen Sport mehr.

Nicht gut, sagen unsere beiden Botschafterinnen Clara und Luise Andrees aus Berlin, die beide vor 26 Jahren mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf die Welt gekommen sind. Denn jenseits der befreienden Möglichkeiten sich körperlich auszupowern, um die Anforderungen des Alltags auszugleichen, ist Sport natürlich auch gut für die Psyche. “Der Sport gibt mir Selbstbewusstsein und ich kann so sein wie ich bin. Der Sport sagt mir nicht, wie ich sein muss. Der Sport ist mein Freund und nicht mein Gegner”, sagen Luise und Clara übereinstimmend.

Sowohl Clara als auch Luise sind in ihren Disziplinen – Clara beim Fußball, Luise beim Tischtennis – super erfolgreich und haben Medaillen und Pokale abgeräumt. Luise ist nicht nur Deutscher Meister Berlin, nein, sie ist außerdem Deutscher Meister im Betriebssport und dritte bei den deutschen Meisterschaften. Dass die eineiigen Zwillinge so erfolgreich sind, hat natürlich seine Gründe. Denn alles in den Schoß gefallen ist ihnen beileibe nicht. Aber war der richtige Riecher für die eigenen Bedürfnisse, das große Glück mit den Trainern, der starke Wille durchhalten zu wollen, nicht zuletzt viel Mentaltraining hat die Zwei auf ihre Erfolgsspur gebracht.

Wie genau sich ihre sportliche Laufbahn entwickelt hat, das wollten wir natürlich genauer wissen und haben die Zwillinge mit Fragen gelöchert:

 

In welchem Alter habt Ihr mit Fußball angefangen?

Luise: Clara und ich haben schon als Kleinkinder Fußball geliebt. Andere in dem Alter haben mit Puppen gespielt, wir waren immer draußen bolzen. Richtig in den Verein sind wir mit ca. 13 Jahren gekommen und haben es sofort geliebt. Wir galten gleich als Talente und waren dann auch beim Sichtungstraining bei Turbine Potsdam für die U 17. Aber da haben Clara und ich uns dagegen entschieden, da wir gemerkt haben, dass da nur auf Leistung geschaut wird. Wir wollten aber weiterhin Spaß haben bei unserem Sport.

Eines Tages haben sich Eure Wege sportlich getrennt. Wie kam es dazu?

Luise: Neben Fußball hatten wir auch angefangen Tischtennis zu spielen. Ich habe dann mit Fußball aufgehört, weil ich Tischtennis und Fußball zusammen nicht mehr hinbekommen habe. Ich galt auch beim Tischtennis ziemlich schnell als Talent. Da habe ich für mich entschieden, dass, wenn ich wirklich eine Chance habe mit dem Sport etwas zu erreichen, ich das definitiv am besten mit Tischtennis schaffe. Mit 15 Jahren habe ich mit Fußball aufgehört und intensiv angefangen Tischtennis zu spielen.

Clara: Beim Tischtennis spielen habe ich schnell gemerkt, dass es mir keinen Spaß macht. Beim Fußball spielen bin ich mit dem ganzen Herzen dabei. Für mich gibt es nichts besseres, als auf dem Fußballplatz stehen zu dürfen.

Seid Ihr in den Wettkämpfen gleich erfolgreich durchgestartet, oder hattet Ihr auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen?

Clara: Bei mir gab es noch nie Probleme bei Übungen oder Ähnlichem. Ich liebe Übungen und Matches, ich liebe es mich konzentrieren zu müssen. Mein Sport war für mich nie wie Schule oder so. Ich hatte nie Angst, dass ich etwas nicht kann. Das liegt aber auch daran, dass ich immer zu den sehr guten Spielerinnen gehört habe und ich mich nie verstecken musste.

Luise: Früher war ich sehr schüchtern und habe mich ganz schnell aus der Ruhe bringen lassen. Ich hatte auch Angst vor Druck, nicht die Leistung bringen zu können, die ich von mir selbst und andere von mir erwarten. So hatte ich sehr mit mir zu kämpfen.

Was, Luise, hat Dir geholfen, Deine Probleme zu überwinden – Mentaltraining?

Luise: Zum einen habe ich mir mentale Stärke durch viele Turniere und Spiele angeeignet. Dafür bin ich durch viele Tiefs gegangen, sprich Niederlagen. Aber diese Niederlagen haben mir dann die Erfahrungen gegeben, die mir heute die Siege einfahren. Man muss erstmal Niederlagen kassieren, diese auch annehmen und damit lernen umzugehen, um dann neue Möglichkeiten zu bekommen diese dann zu nutzen.

Wenn ich Druck habe und merke, dass ich nervös werde, dann gehe ich einmal kurz zum Handtuch, atme durch und sage mir: Komm, du schaffst das! Wichtig ist, immer daran zu glauben, dass du gewinnen kannst. Versuche nie deine negative Stimmung zuzulassen. So bald du dich unnötig ärgerst, verändert es deine Stimmung und dann auch gleich dein ganzes Körpergefühl. Dann machst du Fehler, die du eventuell, wenn du locker wärest, nicht machen würdest. Außerdem, wenn ich merke, dass ich nicht gut rein gekommen bin ins Match, dann spiele ich einfach Punkt für Punkt und bleibe ganz bei mir. Plötzlich kommt dein Selbstbewusstsein wieder und dann kommen auch wieder die Bälle.

Von welcher Bedeutung sind Eure Trainer?

Luise: Mein jetziger Trainer Stephan Büttner hat mich vor vier Jahren nach Geltow geholt, nachdem er mich bei einem Turnier in Berlin gesehen hatte und wir gegeneinander gespielt haben. Er hatte mir dann angeboten, mich in Geltow zu trainieren. Damals war ich noch sehr schüchtern und wusste nicht wie ich mit der Situation umgehen soll, da ich ja ihn und generell den neuen Verein nicht kannte. Zum Glück hat er nicht locker gelassen und hat um mich gekämpft , dass ich von Berlin nach Geltow zu wechsle.

Nach diesem Wechsel fing für mich ein neuer sportlichen Weg an – ein sehr positiver und erfolgreicher Weg. Aber auch ohne den Sport konnte ich durch Stephan viel lernen. Er hat mich so genommen wie ich bin. Er hat mir gezeigt, dass ich mich für keinen anderen verändern muss und dass ich einfach so sein darf wie ich bin. Und das hat mich so sehr gestärkt und hat mir Selbstvertrauen gegeben. Das macht mich sehr glücklich. Er ist jetzt noch ein ganz großes Vorbild für mich. Und für mich ist klar: Ohne Stephan hätte ich vieles nicht geschafft, was ich jetzt geschafft habe, da er mir so viel Kraft schenkt und immer an mich glaubt. Das ist einfach unfassbar.

Clara: Die Trainer spielen für mich eine große Rolle, ich als Spieler muss das Vertrauen spüren, damit ich meine Leistung auf dem Platz bringen kann.

Wissen die Trainer, dass Ihr FAS habt?

Luise: Mein Trainer weiß Bescheid. Ich hatte ihm das sehr schnell gesagt und auch da hat er gesagt, dass er das super findet, dass ich damit so offen umgehe und dass es so genau richtig ist. Aber mehr nicht – es für mich auch kein Thema, groß darüber zu sprechen.

Clara: Meine Trainer wissen es nicht. Ich möchte das nicht.

Wissen die anderen Spieler, dass Ihr FAS habt?

Luise: Andere Spieler wissen es nicht und das ist auch ganz bewusst so, da es für mich privat ist und nur wirklich enge Freunde und Bekannte darüber Bescheid wissen. Denn: Sport und Privat trenne ich ganz bewusst.

Clara: Für mich gilt das gleiche.

Habt Ihr Freundschaften zu anderen Spielern, oder geht man im Anschluss eher seiner Wege?

Luise: Also ich habe viele freundschaftliche Kontakte und darüber bin ich sehr froh. Ich habe auch meinen Freund Dank meinem Sport gefunden, besser gesagt ER hat mich gefunden. Wir spielen auch in der gleichen Mannschaft und das ist perfekt.

Clara: Ich habe mehrere gute Freundschaften in meinem Fußballumfeld geschlossen und das macht mich sehr glücklich.

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Für den Schulbegleiter – Unaufhörliches Bittstellen und Betteln

Viele Kinder mit fetalen Alkoholschäden benötigen Schulbegleitung. Dabei handelt es sich um eine Leistung nach dem Sozialgesetzbuch, die entweder beim Jugendamt oder beim Sozialamt beantragt werden muss. Diese sogenannte ‘schulische Eingliederungshilfe’ orientiert sich immer am individuellen Bedarf. Und so ist auch die Entscheidung über die Bewilligung genauso individuell. Pflegemama Sandra* aus Thüringen, hinter der eine Odyssee mit einem Happy End liegt, hat uns zu diesem Thema und ihren Erfahrungen einige Fragen beantwortet:

Wie lange habt Ihr gebraucht, bis ein Begleiter vom Jugendamt genehmigt worden ist?

Sandra: Acht Monate – den Antrag gestellt haben wir im Dezember 2018. Auf Initiative der Erziehungsberatungsstelle gab es Ende Januar 2019 einen runden Tisch, an dem auch der Schuldirektor saß, ein Vertreter des Allgemeinen Sozialen Dienstes („ASD“) und eine Vertreterin des Integrationsfachdienstes („IFD“). Ein weiteres Gespräch folgte im Mai. Bis Juli passierte nichts mehr mit der Begründung: “das Amt ist an Verfahrenswege gebunden“, „wir müssen den Personenkreis definieren”, „im Augenblick stehen ohnehin keine Ressourcen zur Verfügung“.

Der IFD ließ dann plötzlich verlauten, „dass jemand hospitieren gewesen sei und den Eindruck gewonnen habe, dass die Schulzeit funktioniere. Außerdem habe man festgestellt, dass das Kind gute kognitive Voraussetzungen mitbringe und seine intellektuellen Fähigkeiten wertvoll seien. Deshalb könne man von Jonas Steuerung erwarten. Im weiteren Resümee des IFD hieß es: „Die Situation ist so, dass kein Handlungsbedarf besteht.“ Dennoch wurden Defizite eingeräumt und angeregt: In einer Tagesgruppe könne der Junge lernen sich zu steuern – vielleicht könne sogar ein gewisses Maß an Empathie erlernt werden. Es liege schließlich keine geistige Behinderung vor.“

Vom ASD bekamen wir zusammenfassend mitgeteilt, dass wir uns einig seien, dass unser Antrag auf Erziehungsbeistand zurückgestellt werde. Man werde noch einmal zu einem Hausbesuch vorbeikommen und im Juni mit dem Team unseren Fall besprechen. Außerdem sei die Tagesgruppe im Augenblick ohnehin voll und hätte allenfalls ab dem neuen Schuljahr – circa August 2019 – einen Platz frei. Daraufhin folgte ein Nachtrag des IFD, dass die Situation bei ihnen nicht anders sei. Bis der Integrationsdienst eine Fachkraft gefunden habe, sprächen wir sicher auch nicht von vor dem neuen Schuljahr 2019/2020. Den Hausbesuch gab es nicht. Dafür gab es die Rückmeldung: Beim Hausbesuch im Februar habe man festgestellt, dass häuslich alles einen sehr guten Eindruck mache, der ASD üblicherweise andere Bedingungen bei hilfebedürftigen Familien antreffe. Und um beispielsweise bei einem Meltdown unterstützend einzugreifen – dafür seien die Mitarbeiter nicht ausgebildet. Das wäre dann doch eher ein Fall für die Psychiatrie.

Über welchen Träger wurde der Begleiter rekrutiert?

Sandra: In unserem Landkreis hat das Jugendamt die Erbringung der „Eingliederungshilfe“ an einen Dritten, einen gemeinnützigen Träger, ausgelagert. Bei der Bestellung von Schulbegleitern, für die regelmäßig Stellen ausschrieben werden, heißt es: „Der Bedarf an Schulbegleitern ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Sowohl gelernte Erzieher, aber auch Quereinsteiger werden als Schulbegleiter in Teil- oder Vollzeitbeschäftigung eingestellt. Bewerbungen werden jederzeit gerne entgegengenommen. Der Verein bietet den Schulbegleitern regelmäßige Fortbildungen an, die sowohl der Erweiterung der Kompetenzen als auch dem Erfahrungsaustausch dienen.“

Hattet Ihr Mitspracherecht beim Aussuchen des Begleiters?

Sandra: Der Schulbegleiter wurde uns zwei Mal jeweils am Vortag des Dienstantritts vorgestellt. Beim dritten und vierten Mal stellte sich die Begleiterin mir nachmittags auf dem Schulhof selbst vor. Über Änderungen von Arbeitsverhältnissen bzw. Kündigungen sind wir nicht bzw. kurzfristig telefonisch in Kenntnis gesetzt worden.

Worauf legt Ihr bei einem Begleiter besonderen Wert?

Sandra: Dass es ihm gelingt, eine Beziehung zum Kind herzustellen, es für sich “aufzuschließen”, um darauf aufbauend ein Partner und Helfer für unseren Sohn sein zu können. Außerdem sollte er sich mit Lehrern und Erziehern an der jeweiligen Schule verbinden und integrieren und von ihnen auf Augenhöhe akzeptiert und ins Team eingebunden werden.

Wie ist der Austausch zwischen Euch und dem Begleiter? Sandra: Von abendlichen Whatsapp-Romanen, über gelegentliche schriftliche Vermerke ins ‚Muttiheft‘ bis hin zu kurzen mündlichen Rückblicken bei Abholung vom Schulhof, war alles dabei.

Welche Probleme mit dem Begleiter hat es gegeben?

Sandra: Den ersten und längsten Helfer im Einsatz hat mein Sohn lange nicht akzeptieren und als Team-Partner annehmen wollen. Dem Begleiter ist es nicht gelungen, eine Verbindung zu meinem Sohn herzustellen. Seitens der Schule genoss der Begleiter kein Ansehen bzw. wurde mangels Kompetenz oder pädagogischen Geschicks (auch bei einem anderen Kind, das vormittags von ihm begleitet wurde) abgelehnt. Als mein Sohn endlich langsam mit ihm ‚warm‘ wurde, hat der Verein ihm außerordentlich gekündigt und uns darüber informiert, dass nach den Winterferien eine neue Begleiterin startet.

Zu den zweiten und dritten Begleitern lässt sich wenig sagen, weil aufgrund der Pandemie ihr Einsatz bald wieder endete. Eine spürbare Verbesserung gegenüber der Zeit ohne Begleitung war jedoch nicht festzustellen. Die vierte Begleiterin im Sommerferienhort schließlich war ein unerwartetes Geschenk, was ich dem Schulbegleiterverein auch so zurückgemeldet habe: „Ich möchte mich sehr gern bei Frau V. bedanken, die Jonas in den vergangenen zwei Sommerferienhortwochen so wundervoll begleitet hat. Es war Seelenbalsam für mich, in ihr auf jemanden zu treffen, die sich zur Begrüßung beim Kennenlernen proaktiv, offen und zugewandt vorstellte, die in kürzester Zeit eine gelingende und verbindliche Kommunikation zu Jonas herstellen konnte und auf die Jonas sich sofort eingelassen und zwei Wochen lang verlassen hat.“

Welchen beruflichen Werdegang hat Euer Begleiter?

Sandra: Dazu wurden uns keine Informationen zur Verfügung gestellt.

Wir kennen allerdings aus Nachbarschaft und Bekanntschaft Quereinsteiger, die im Vorfeld als Landschaftsgärtner, Supermarktverkäufer oder in der Gastronomie gearbeitet haben und in einem Zwei-Wochen-Schnellkurs auf Schulbegleiter umgeschult wurden.

Hattet Ihr schon mal einen Begleiter mit Vorkenntnissen in FAS?

Sandra: Unser erster Begleiter meinte, aus seiner früheren Einrichtung ein FAS-Kind gekannt, es allerdings nicht selbst begleitet zu haben. Die FAS-Verhaltenssymptome meines Sohnes jedoch spiegelte und berichtete er mir tagtäglich minutiös zurück – ganz offenbar ohne zu verstehen, dass dies äußerliche Hinweise auf eine dahinterliegende Schwierigkeit oder Herausforderung waren und dass ihnen mit Strenge und Konsequenz-basierten Ansätzen nicht beizukommen ist.

Wieviele Stunden und für welchen Zeitraum habt Ihr den Begleiter genehmigt bekommen?

Sandra: Circa fünf Stunden täglich für das ganze Schuljahr. Am 26. Juli 2019 kam der Bewilligungsbescheid für die Gewährung der „Aufwendungen für den Einsatz eines Integrationshelfers ab 19. August 2019 bis 17. Juli 2020 für die Begleitung während der Hofpause, des Mittagessens und der Hortzeit am Nachmittag mit einem Umfang von 25,25 Fachleistungsstunden wöchentlich.“

Wer bezahlt den Begleiter?

Sandra: Da kenne ich mich zu wenig mit aus. Wenn ich vom Briefkopf des Bewilligungsschreibens ausgehe, dann das Jugendamt/Soziale Dienste meines Landkreises: Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch gem. § 35a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, Abs 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII

Wie sind Eure Erfahrungen mit dem Jugendamt, wenn es Probleme gibt?

Sandra: Schlicht frustrierend und kräftezehrend. Im Kern ist es ein unaufhörliches Bittstellen und Betteln gegenüber Verwaltungstechnokraten aus einem komplett anderen Kommunikationsuniversum (vermutlich soll das so: „Zeitspiel“). Und immer wieder muss man sich anhören, dass die vorgetragenen Problematiken schließlich auch bei “neuro-normativen” Kindern zu beobachten seien, also alles ganz normal sei. Man solle deshalb dankbar sein, dass trotzdem für die Bereitstellung von Ressourcen gesorgt werde, indem man die Kosten für Integrationshelfer bewillige. Kleine Anmerkung dazu: In drei von vier Fällen haben die nicht gepasst, weil sie offenbar wenig geschult waren und letztlich keine Verbesserung für die Situation meines Sohnes an einer regulären Grundschule Klasse 2 herbeiführen konnten.

*Name auf Wunsch geändert

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

FAS-Entwicklungsland Hessen: Eine fassungslose Pflegemutter macht sich Luft

“Nein, wir haben unsere Kinder nicht bewusst mit FASD aufgenommen. Beide Kinder sind uns als ‘normale’ Pflegekinder vermittelt worden….

Unser erstes Pflegekind, Lukas*, war knapp vier Jahre alt, als er zu uns kam. Nach sechs Monaten fing das Drama mit dem inzwischen Vierjährigen an. Ich bin von Beruf Erzieherin und Heilpädagogin und dachte mir: Hmmm komisch, warum wird das alles nix, was ich da mit dem kleinen Mann mache….?

Und so fing alles an – der Therapiewahn, der Kampf gegen das Jugendamt, der einem Kampf gegen Windmühlen glich. Dann sind wir mit Anwälten vor Gericht gezogen, um die Rechte für Lukas einzuklagen, und, und, und.

Viele Diagnosen sind in der Zwischenzeit gestellt worden. Vieles ist in Therapien behandelt worden, aber irgendwie war das Gefühl immer da, das war es nicht. Und ganz hinten im Kopf immer diese Stimme, die man hört und doch nicht wahrnimmt. Oder nicht wahrnehmen möchte. Wir hatten alle schon lange keine Lust mehr, jedem Arzt immer wieder von vorne alles zu erzählen. Den x-ten Anamnesebogen auszufüllen, die x-te Untersuchung, das x-te Ergebnis, die x-te Meinung.

Einen Versuch noch, einen letzten. Und wenn es wieder nix ist, dann habe ich eben den falschen Beruf gelernt oder bin unfähig. Also sind wir alle Mann nach Berlin ins FASD-Zentrum zu Prof. Dr. Hans-Ludwig Spohr. Wenn etwas herausgefunden wird, dann in der Charité. Es war Nikolaustag 2017 in Berlin und uns war bange – was der Nikolaus wohl in seinem Sack haben wird? Wir sagten uns: Egal, was passiert, wir lieben den kleinen Mann so wie er ist. Was kann er schon dafür? Eine einzige Frage von Professor Spohr klärte zwei Tage andernorts vorausgegangene Untersuchungstermine in zwei Minuten: “Sie wussten doch sowieso schon, dass er es hat. …..!” Und ja, ich hatte es schon lange geahnt. Und trotzdem flossen die Tränen.

Nun, sage und schreibe nach insgesamt neun Jahren, seit Lukas zu uns kam, sind wir nach langen Kämpfen sein Vormund, geht der Junge nach einer Schulodyssee endlich auf eine Förderschule für körperlich motorische Entwicklung, hat er Pflegegrad 3 mit einem GdB (GRad der Behinderung) von 100% und G, B, H** als Merkzeichen. Und er ist sehr glücklich – so der O-Ton unseres Kind.es

Lukas hat seine Hobbys wie die Bücherei, BMX fahren (ohne offizielle Rennen zu fahren), die Pfadfinder und er hilft gerne bei der Hausarbeit. Er hat sehr wenige Freunde, liebt Legos und hört gerne Musik- und Hörgeschichten. Er vergisst jeden Tag, was er vorgestern gemacht hat – wir leben eigentlich mit einem 13jährigen mit Alzheimer. Aber wir lieben ihn so wie er ist.

Mittlerweile wissen wir, dass die leibliche Mutter seit vielen Jahren alkoholabhängig ist, alles an Drogen nimmt (außer Heroin) und sie zwischen Obdachlosigkeit und Psychiatrie hin und her pendelt. Unser kleiner Mann wird groß und fängt an, zickig zu werden. Ein Zeichen dafür, dass es ihm gut geht, und er, so wie er es nennt, in die Vorbubberdäd kommt. Das Kind hat seit sieben Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner leiblichen Mutter oder irgendwelchen leiblichen Verwandten. Wir wissen, dass er noch zwei Halbgeschwister bekommen hat. Beide wurden mit hohen Promillepegeln Alkohol im Blut geboren. Beide Kinder leben, jedoch nicht bei der leiblichen Mutter. Auch diese beiden Kinder werden ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen sein. Seit über einem Jahr kämpfen wir wegen der leiblichen Mutter um Akteneinsicht beim Jugendamt, wir zahlen die Rechnungen für die Anwältin mittlerweile blind.

Das zweite Kind, Niklas*, kam genau an seinem zweiten Geburtstag zu uns. Sechs Wochen später stand ich in der Kinder-und Jugendpsychiatrie und habe dort gesagt: Entweder helft ihr ihm, oder wir geben ihn wieder ab. Schon damals war für uns klar: Da können wir als Pflegeeltern nichts machen – da hilft keine liebevolle und gute Erziehung. Das Kind braucht ganz andere Dinge. Dafür kämpfen wir auch wieder jeden Tag aufs Neue – seit 6 Jahren Niklas hat GdB 90 (Grad der Behinderung) mit den Merkzeichen G, B und H.** Auch er hat einige Diagnosen, und eben auch FASD. Seit Sommer 2019 geht er gegen den Willen des staatlichen Schulamtes, der Kita und der zuständigen Schulleitung in eine private heilpädagogische Waldorfschule. Die Klasse besteht momentan aus acht Schülern, wovon sechs mit zusätzlichem Schulbegleiter kommen. Bis zu den Sommerferien hatte Niklas keinen Schulbegleiter; zwei Jahre haben wir dafür kämpfen müssen Es gab viele Gründe, uns diesen Schulbegleiter zu verwehren. Mal lautete die Begründung, wir hätten als Pflegeeltern nicht das Sorgerecht, mal hieß es, es gebe keine geeigneten Bewerber, mal, dass wir es gar nicht beantragen durften, usw. Vor dem Pandemie-Lockdown steuerte Niklas schnurstracks auf einen Rauswurf aus der Schule zu. Das in der ersten Klasse einer Waldorfschule – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Das Jugendamt lehnte bislang eine Schulbegleitung, einen Busdienst und die Kostenübernahme strikt ab. Aber, Corona macht es möglich: Seit Schulöffnung im Sommer 2020 hat er nun doch einen Schulbegleiter. Die Schule weigerte sich nämlich, ihn ohne Begleitung wieder aufzunehmen.

Niklas hat nur ein Hobby, und das deshalb, weil ich ihm keine Wahl lasse. Alles andere wäre unsinnig, da überfordernd. Er liebt Trommeln. Eine zeitlang bekam er Ergotherapie und Logopädie. Aber das haben wir wieder aufgegeben, weil es ergebnislos war. Im Abschlussbericht der Logopädin steht wortwörtlich: Therapien sind bei ihm generell sinnlos.Wir versuchen es mit Spieltherapie, was allerdings auch mehr Stress nach der Schule nach sich zieht. Im übrigen: Bei dieser Therapie ist er wieder mit einem Erwachsenen in einer entspannten Situation alleine. Er bräuchte eigentlich Kinder dabei, da eben sein Sozialverhalten zu wünschen übrig lässt. Der Junge steckt voller Ängste und Zwänge, was ihn im Sozialverhalten heillos überfordert. Er ist eine tickende Zeitbombe. Endlich bekommt Niklas Medikamente, die kontinuierlich erhöht werden müssen. Aber der kleine Kerl mit den großen Augen ist auch ein Herzensbrecher und zuckersüß.

Seit vergangenem Herbst 2019 haben wir auch für Niklas endlich die offizielle Diagnose Fetales Alkoholsyndrom. Wieder in Berlin, wieder von Professor Spohr. Als er uns sah, lächelte er uns an, und meinte: “Die Jungs werden ihnen noch viele schlaflose Nächte bereiten.” Beim Abschied zeigte unser süßes kleines Lämmchen sich von der besten Seite. So wie er eben ist. Professor Spohr war nicht beeindruckt, er kannte es von seinen Tausenden Kindern vorher.

Die Mutter streitet weiterhin jeglichen Alkoholkonsum ab.”

 

*Die Namen der Kinder sind verändert

**Das Merkzeichen H steht für hilflos. Das ist dann der Fall, wenn die Person im Alltag ständig fremde Hilfe benötigt. Das gilt auch dann, wenn der Betroffene zwar alleine Arbeiten verrichten kann, aber nicht ohne Anleitung oder Überwachung. Das Merkzeichen G wird Personen zuerkannt, die zum Beispiel nicht in der Lage sind, sich alleine im öffentlichen Verkehr zu orientieren, sich gegebenenfalls selbst oder andere gefährden. Das Merkzeichen B wird all jenen zuerkannt, die eine Begleitperson brauchen, um mit dem Bus oder der Bahn zu fahren. Das gilt auch für den Fall, dass der Betroffene durchaus in der Lage ist, einen Routineweg alleine zurückzulegen, aber sofort überfordert ist, wenn Abweichungen der Routine eintreten. Auch die FAS-typische mangelhafte Impulsteuerung ist ein Argument für das Merkmal B.

Aufgezeichnet von Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Botschafterin Silke: Tiergestützte Therapie für kleines Geld

“Ich möchte den Kindern mit fetalen Alkoholschäden, natürlich auch anderen Pflegekindern helfen, ein stärkeres Selbstbewusstsein zu bekommen. Ich merke immer wieder, wie sehr ihnen der Umgang mit den Tieren hilft”, weiß Silke Schweizer aus dem hessischen Bebra aufgrund ihrer Arbeit als Mentaltrainerin am Tier. Diese therapeutische Ausbildung hat die Kinderkrankenschwester sowohl am Hund als auch am Pferd absolviert. Manchmal geht sie auch mit ihrem Therapiehund Muffin an Schulen und macht die Erfahrung, dass selbst Hundeangst besetzte Kinder ihre Zurückhaltung ablegen und mit Silke’s Therapiehund Freundschaft schließen. “Die waren danach so unendlich stolz und glücklich”, erinnert sich Silke und findet: “Diese strahlenden Kinderaugen sind durch kein Gold der Welt zu ersetzen.”

Anders als die Hippotherapie, bei der das Reiten im Vordergrund steht, geht es bei der tiergestützten Therapie vor allem um den Umgang mit dem Tier, seine Versorgung und die Pflege. Das kann im Einzel- wie auch im Gruppensetting stattfinden. Die spezifischen Ziele orientieren sich dabei an den Bedürfnissen, Ressourcen und dem Förderbedarf des Patienten – dies im sozial-emotionalen, im motorischen, kognitiven oder verhaltensfehlgesteuerten Bereich.

Was macht die Arbeit mit dem Tier so besonders? “Ein Tier wertet nicht, es reagiert nicht auf Äußerlichkeiten, die Hemmschwelle, um mit dem Tier Kontakt aufzunehmen, ist viel geringer”, listet die Mutter zweier Pflegekinder mit fetalen Alkoholschäden auf. Das kann sie täglich bei ihnen beobachten. Und eben auch die entspannenden Effekte der Tiere und was sie zur Folge haben: Es steigt die Aufmerksamkeits-, die Konzentrations- und die Gedächtnisleistung der Kinder.

Natürlich ist die tiergestützte Therapie kein Allheilmittel, meint unsere Botschafterin Silke. Aber den Kindern werde Lebensfreude geschenkt, die sie von ihrem vielen Schmerz und der Einsamkeit, die sie erleben, ablenken.

Seit Jahren schon beobachten Mediziner, dass die tiergestützten Therapien Einzug in die westliche Medizin halten. Der Bedarf dafür ist aber noch lange nicht gedeckt. Und auch nicht überall stößt man auf Anerkennung dafür. Das bringt Silke Schweizer auf die Palme: “Das Jugendamt unseres Kreises blockt leider alles an Therapien, was in diese Richtung geht.”

Und weil das so ist, möchte Pflegemama Silke anderen Pflegeeltern die tiergestützte Therapie ermöglichen, ohne dass diese dafür selbst tief in die Tasche greifen müssen. Sie weiß wohl: “Viele Eltern können sich das eben nicht leisten.” Deshalb verzichtet Silke auf einen festgelegten Beitrag. Sie stellt einen Spendentopf auf, in den jeder hineinwerfen kann, was er möchte. “Wenn es für das Futter meines Pferdes reicht, dann freue ich mich”, sagt Silke.

Die engagierte Mutter möchte einfach helfen: “Ich finde das toll, wenn Menschen solche Pflegekinder aufnehmen, ihnen ein Zuhause geben. Diese armen Menschen mit fetalen Alkoholschäden, die haben so ein schweres schweres Leben.”

Bei Interesse: einfach bei Silke anrufen 0152-09 85 28 00 , oder Silke via Facebook schreiben: HUUPF Hund und Pferd

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Luise: Führerschein trotz und mit FAS

Den Führerschein machen trotz und mit dem Fetalen Alkoholsyndrom – das wird von vielen sofort für unmöglich gehalten. Nicht so von unserer Botschafterin Luise Andrees aus Berlin. Die 26 Jahre alte Heilerziehungspflegerin hat es geschafft. In einem Fahrschul-Internat. Wie sie das Ganze erlebt hat, hat sie uns überglücklich erzählt:

“Ich war voller Vorfreude und Energie. Montag, bei der Anreise, war ich sehr nervös und aufgeregt, was mich da jetzt so erwarten wird. Dann war die Begrüßung und die Bekanntmachung mit dem Fahrlehrer. Ab Dienstag ging dann alles los. Die ersten Tage habe ich einfach nur funktioniert und mir gar keine Gedanken gemacht. Ab Mitte der Woche registrierte ich dann schon, welche Eindrücke und Erfahrungen auf mich zukommen. Dann gab es einen Moment bei meiner ersten Nachtfahrt, als ich direkt auf die Autobahn musste. Danach hatte ich ziemlich zu kämpfen mit mir, da diese Fahrt mir Angst gemacht hatte. Der Druck war zu hoch und ich wusste nicht, ob ich dem die weiteren Tage stand halten kann. Dann habe ich mich hingelegt und habe mir gesagt: Du bist bis hierhin gekommen, dann wirst du ja jetzt wohl die nächsten Tage erst recht hinbekommen. Meine Mutter, meine Schwester und mein Freund haben mir in dieser Woche sehr viel Kraft und Mut zugesprochen. Ohne diese Unterstützung hätte ich das nicht geschafft. Aber auch mein unglaublicher Wille war wieder der Weg zum Ziel.”

Wann keimte in Dir der Wunsch auf, den Führerschein zu machen?

Luise: Vor ca. drei Jahren fing es an, dass ich durch meinen Sport viel unterwegs war und immer auf andere angewiesen war mitgenommen zu werden. Das nervte mich sehr. Dann habe ich gesagt, dass ich unbedingt einen Führerschein brauche.

Welche Bedenken hattest Du zunächst es zu tun und welche Schwierigkeiten sahest Du auf Dich zukommen?

Luise: Als allererstes wusste ich nicht, wie ich das finanzieren kann. Deshalb musste ich warten, bis ich mein eigenes Geld verdiene. Und dann kamen die Gedanken: Um Gottes Willen, wie soll ich das mit der Theorie hinbekommen?

Was hat Deine Bedenken aus dem Weg geräumt?

Luise: Meine Bedenken haben sich schnell erledigt. Finanziell haben mich meine Pflegeeltern unterstützt. Mit der Theorie war auch sehr schnell klar, dass ich das schaffe, da ich sehr gut im auswendig lernen bin. Da habe ich gemerkt, dass es genau mein Ding wird. Und wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann schaffe ich das auch

Wie bist Du auf diese Art der Führerscheinausbildung gekommen?

Luise: Ich habe über die Medien von dieser Fahrschule erfahren. Ich war von Anfang an begeistert und habe gesagt: Da möchte ich hin, egal wie.

Was an dem Konzept hat Dich überzeugt?

Luise: Mich hat an dem Konzept überzeugt, dass ich da rund um die Uhr betreut werde, dass ich für die Woche in einem Fahrschul-Internat wohne und mich wirklich voll und ganz nur auf die Ausbildung konzentrieren kann. Und dass ich meinen Fahrlehrer über die ganze Woche habe und er mich individuell unterstützen kann.

Was ist für Dich persönlich das besondere an dieser Form den Führerschein zu machen?

Luise: Dass ich in sieben Tagen meinen Führerschein machen kann und dass ich da rund um die Uhr betreut wurde. Außerdem war für mich überzeugend, dass viele You Tuber und ähnliche Personen, die im öffentlichen Leben stehen, ihren Führerschein dort gemacht haben. Die Tatsache, dass ich mit diesen Freunden, diesen Personen mithalten kann, macht mich stolz.

Hat es Dir sehr geholfen, dass das theoretische Training täglich konzentriert erfolgte und Du täglich Fahrtraining hattest, um das theoretische Wissen gleich anwenden zu können?

Luise: Auf jeden Fall, da man jeden Tag sein Wissen vertiefen konnte und beim Fahren die Fragen, die bei der Theorie aufgetaucht sind, gleich klären konnte. Dadurch konnte ich mir alles viel besser merken. Ich würde wirklich jedem empfehlen, der einen Führerschein machen will, diese Form zu wählen. Es ist zwar sehr anstrengend und ist auch auf einem sehr hohen Niveau, die Anforderungen sind sehr hoch und der Druck, der auf einem lastet, ist auch krass. Aber nur dadurch kann man es schaffen. Die Fahrlehrer sind sehr streng. Aber nur durch diese Strenge kommt man ans Ziel. Das bedeutet aber, dass man den Druck und die Stresssituationen aushalten können muss. Und man sollte keine Prüfungsangst haben

Was war für Dich schwieriger: Theorie oder Praxis?

Luise: Das ist für mich von Anfang an klar gewesen, dass ich mit der Theorie mehr zu kämpfen haben würde, da ich Angst hatte, es einfach nicht hinzubekommen. Die Praxis war für mich kein Problem. Insofern: Die anfängliche Angst musste weg und dann war das Ganze eine Selbstverständlichkeit für mich.

 

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Wer mehr über Luise erfahren möchte – unser Blogbeitrag: https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2020/07/10/wir-waren-so-gross-wie-ne-zuckertuete/

Alkohol hat im Wehencocktail nichts verloren

Die Schwangerschaft vergeht, der Entbindungstermin rückt näher. Und spätestens, wenn sich das Baby zum Geburtstermin noch nicht auf den Weg gemacht hat, oder sogar über eben diesen hinausgeht, wird über die Möglichkeit der Geburtseinleitung nachgedacht.

Dafür besonders favorisiert von den Hebammen ist da eine “natürliche Art der Geburtseinleitung” – der berühmt berüchtigte Wehencocktail

So weit so gut. Schaut man sich die Zusammensetzung eines Wehencocktails an, stellt man schnell fest: Es gibt viele verschiedene Rezepte und jede anwendende Hebamme hat ihr eigenes. Die Hauptbestandteile des Wehenklassikers sind dabei seit vielen Jahrzehnten immer gleich: Rizinusöl, Fruchtsaft und Alkohol – in Form von Sekt, Rotwein oder Schnaps.

Aber Moment: Alkohol? In der Schwangerschaft? Verabreicht durch eine Hebamme? Das heißt verabreicht von Fachpersonal, welches um die schädigende Eigenschaft des Zellgiftes Alkohol Bescheid weiß? Gibt es etwa einen Tag X in jeder Schwangerschaft, ab der um Stunde Null der hochgiftige Alkohol dem Ungeborenen nicht mehr schadet?

Nein. Gibt es nicht. Alkohol schadet dem Baby. Immer! Jeder Schluck! Zu jeder Zeit! Egal wann in der Schwangerschaft und auch nach der Geburt.

Und warum dann der Alkohol?

Schaut man auf die Wirkungsweise des Wehencocktails, ist das darin enthaltene Rizinusöl der Hauptbestandteil. Es regt den Darm an und fördert die Peristaltik, also die Darmtätigkeit. Diese Darmtätigkeit wiederum wirkt wehenanregend, da sie die Muskulatur der Gebärmutter aktiviert.

Dafür ist der Alkohol nicht notwendig. Er dient allerdings als Emulgator. Was ist ein Emulgator? Es ist ein Hilfsstoff, zwei nicht miteinander vermischbare Flüssigkeiten – beim Wehencocktail das Rizinusöl und der Fruchtsaft – doch mischen zu können.

Jeder, der schon einmal zu Hause ein Salatdressing gemacht hat, wird sich jetzt denken: Aber Moment mal … Flüssigkeit mit Öl mischen .. . ohne Alkohol …. geht das nicht auch…? Genau: mit einem Mixer.

Mixt man Öl mit Flüssigkeit, entsteht eine Öl-in-Wasser-Emulsion. Und das ganz ohne Alkohol als Hilfsmittel. Exakt das Gleiche funktioniert so auch bei dem Wehencocktail.

Anstatt also dem ungeborenen Kind grundlos quasi einen ordentlichen Schnaps, Sekt oder Rotwein zu verabreichen und damit das Risiko einzugehen, dass es zu bleibenden, nicht reversiblen Schäden beim Kind führt, kann es nur heißen:

Alkohol hat im Wehencocktail nichts verloren!

Lieber Geld in einen ordentlichen Mixer investiert, einen alkoholfreien Wehencocktail serviert und mit einem ruhigen Gewissen sagen können: Es ist alles getan, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt.

Gastbeitrag unserer Botschafterin, der Hebamme Christine Krutschinski