Öffentliche Anhörung zum Thema “Alkoholpräventionsstrategie”
im Deutschen Bundestag am 3. März 2021
Stellungnahme
Dagmar Elsen
Sie kommen mit einem Loch im Herzen auf die Welt, mit Fehlbildungen oder Skoliose. Manche der Neugeborenen krümmen sich schreiend über Wochen hinweg, sind untergewichtig, bindungsgestört oder apathisch. Als heranwachsende Kinder gelten die meisten von ihnen als faul, frech, unerzogen und delinquent. Die “Schlimmsten” unter ihnen prügeln, schreien, quälen, lügen, stehlen, missachten Regeln und rennen davon. Die Schule ist für sie ein Ort des Grauens, sie fühlen sich als Versager, werden gemobbt und verstoßen, sind oft genug Opfer sexueller Übergriffe.
Es folgen Kita- und Schulverweise, Hilfeplangespräche, Androhungen der Heimunterbringung. Das alles zumeist ohne Sinn und Verstand, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es wird lieber geglaubt, dass die Kinder einen schlechten Charakter haben, sich keine Mühe geben wollen und es den Eltern an Erziehungskompetenz mangelt.
Weder die Kinderärzte, Psychiater und Therapeuten, noch die Pädagogen, Erzieher und Sozialarbeiter erkennen oder wollen wahr haben, um was es sich bei all diesen Kindern tatsächlich handelt: um vorgeburtliche Schädigungen, vor allem Hirnschädigungen, irreversibel hervorgerufen durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.
Genau so erleben es vor allem Pflege- und Adoptiveltern landauf landab in Deutschland und müssen erbitterte Kämpfe um Anerkennung, Unterstützung und Hilfeleistungen für ihre Schützlinge führen. Seltener dagegen wird von positiven, reibungslosen Erfahrungen berichtet.
Ist das wirklich so, oder bleiben die negativen Beispiele besser in Erinnerung? Wie ist die Gemengelage im Umgang mit dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS)? Was hat sich seit den 70er Jahren, da Mediziner weltweit begannen, sich mit der Materie intensiver auseinanderzusetzen, verändert?
Ich habe in meiner Eigenschaft als Journalistin und Initiatorin der Aufklärungskampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL in Berlin, wo der Grand Sengieur der FAS-Forschung, Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, anno 2007 an der Charité das erste FAS-Beratungszentrum Deutschlands gründete, eine Lagebesprechung gemacht. Neben dem international renommierten Experten Spohr befragte ich dazu auch die Ärztin Heike Wolter, die in der Charité, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie, in seine Fußstapfen getreten ist, befragte Vertreter von Jugendämtern und Trägervereinen, nicht zuletzt zahlreiche Adoptiv- und Pflegeeltern.
Dazu einige Kernaussagen vorab, die selbstredend belegen, dass sich einiges zum Positiven verändert hat, es aber nicht einmal in Berlin eine einheitliche Marschrichtung gibt, obwohl hier die Dichte der Experten am größten ist:
“Wir werden belächelt von Kollegen für unsere Arbeit.” (Wolter, Charité). “Ich kann es nicht mehr hören, wenn die Ärzte im SPZ sagen, sie haben FAS nicht auf dem Schirm.” (Prof. Spohr)
“Wir haben ja mit dem Thema schon lange zu tun, und trotzdem ist es so, dass es erst JETZT ein Thema ist. Davor sind die Eltern ja für bekloppt gehalten worden, ist es als Modediagnose abgetan worden, das war schwierig.” (Heinßen, Verein für Familien und Kinder)
“Ohne dass ich das mit Zahlen belegen kann, ich finde schon, dass sich die Situation in Berlin deutlich geändert hat. Wir kriegen deutlich mehr Anfragen von Pflege- und Adoptiveltern für Diagnostik als vorher. Das Jugendamt selbst fragt auch an, oder die Vermittlungsstellen der Pflegekinder. Dafür halte ich dann auch Slots frei, weil ich das wichtig und unterstützenswürdig finde, wissen zu wollen, ob das Kind von FAS betroffen ist.” (Wolter, Charité)
“Selbst die eindeutige FAS-Diagnose von Professor Spohr, einer echten Kapazität, wurde vom Jugendamt nicht akzeptiert. Und es wurde damit gedroht, uns das Kind wegzunehmen.” (Andrea*, Pflegemutter)
“Ja, es gibt diese schlechten Verläufe, aber es gibt eben auch Pflegeeltern, die ganz viel positive Unterstützung erfahren. Aber das ist, und das muss man ganz klar sagen, das ist nicht die Regel. Klar, es gibt Eltern, die haben einen vernünftigen Sozialarbeiter und die kriegen auch einen Einzelfallhelfer an die Seite gestellt, aber die meisten sind am Betteln und kriegen es nicht.” (Nitzsche und Heinßen, Verein für Familien und Kinder)
“Die Jugendämter arbeiten so unterschiedlich. Es ist immer einzelfallabhängig und deshalb ein ewiger Kampf, weil die Zuständigkeiten ja auch dauernd wechseln. Die Behinderung müsste endlich bundesweit anerkannt sein.” (Leonie*, Adoptivmutter)
“Ich mache seit 40 Jahren Fortbildung bei den Jugendämtern. Der ganze Osten muss noch Geld sparen, die sitzen da und sagen: FAS, das kenne ich nicht, so ein bisschen Alkohol, das macht doch nichts. Es ist wirklich so in den Köpfen.” (Prof. Spohr)
“Es haben alle gewusst – die Lehrer, die Eltern in der Schule, das Jugendamt, die Nachbarn, die Ärzte – dass meine Mutter täglich getrunken hat. Aber mir wurde gesagt, dass man nichts für mich tun könne”. (Elvira*, FAS-Betroffene)
Wenn FAS festgestellt ist, “dann muss es auf den Tisch. Dann sehen wir, dass die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden.” (Rüttgers, Jugendamt Mitte)
“Wir vermissen Hilfestellung, dass man uns sagt, was unserem Kind weiterhelfen würde.” (Olaf*, Pflegevater)
Vor zwanzig Jahren, da hatte Berlin den Weg in die richtige Richtung eingeschlagen. “Da haben die Kinder IMMER eine Diagnostik durchlaufen, bevor sie vermittelt wurden”, weiß Peter Heinßen, Geschäftsführer des “Vereins für Familien und Kinder”. Inzwischen ist es noch nicht einmal mehr Usus, dass Kinder, die mit Auffälligkeiten zur Welt kommen, gleich ins Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) überwiesen werden. Mikrozephalie, fasziale Auffälligkeiten, ein Loch im Herzen, Kleinwuchs, verdrehte Ohren, etc. – alles Hinweise, dass es sich um fetale Alkoholschäden handeln könnte.
“Es müsste zur Normalität werden, dass diese Kinder auf FAS untersucht werden”, fordert Heike Wolter, Ärztin in der Charité, Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Doch, allein die Neonatologen haben, wie sie nicht nur Heike Wolter immer wieder gestehen, FAS nicht wirklich auf dem Schirm. Nicht einmal dann, wenn bekannt ist, dass die Mutter drogenabhängig ist und gleichermaßen der Verdacht auf Alkoholkonsum besteht.
“Dabei wäre es schon hilfreich, wenn einfach die Diagnose (für Abusus) auf dem Bericht über das Neugeborene oben drauf steht. Die in der Neonatologie müssen ja gar nicht mehr machen”, erläutert die Charité-Ärztin. Selbst die meisten Ärzte, die in den SPZ arbeiten, haben kein Auge für fetale Alkoholschäden, selbst wenn bekannt sein sollte, dass die Mutter getrunken haben könnte.
Derlei Ausreden mag Professor Hans-Ludwig Spohr nicht mehr hören, denn der springende Punkt ist: “Es hat sich bisher in Deutschland die Ärzteschaft nicht dafür interessiert. Das muss man einfach so sagen.” Einer der Gründe ist sicherlich, dass das Thema Fetale Alkoholschäden in der medizinischen Ausbildung eine sehr untergeordnete Rolle spielt.
Lediglich an der Charité ist das dank Spohr seit 2015 anders. Hier ist FAS für die Zweitsemester Pflicht und sorgt dafür, dass die FAS-Experten künftig nicht mehr von ihren medizinischen Kollegen aus anderen Fachbereichen belächelt werden für ihre Arbeit, so wie auch Heike Wolter immer wieder diese Erfahrung hat machen müssen.
Als nächste in der Pflicht, Fälle von Fetalen Alkoholschäden herauszuarbeiten, stünde die Instanz Jugendhilfe – also die Jugendämter und die freien Träger. Grundsätzlich ist hier Heike Wolter “erstaunt, wie wenig Fälle aus dem Kinderschutzbereich zur Diagnostik kommen.” Des Weiteren lässt sich der Umgang mit dem Thema, auch wenn Berlin einen überschaubaren Rahmen bietet, selbst hier nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen.
“Das ist von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich. Es ist einzelfallrelevant, vielleicht gibt es Mal Fallhäufungen in einzelnen Jugendämtern oder bei einzelnen Mitarbeitern des Jugendamtes”, sagt der Geschäftsführer des Vereins für Familien und Kinder, Peter Heinßen. Es sei alles möglich, im positiven, wie im negativem, pflichtet ihm Angelika Nitzsche bei, die seit 17 Jahren in der Pflegekinderhilfe tätig ist.
So lässt zum Beispiel der Teamleiter Marco Rüttger beim Jugendamt Mitte verlauten: “Das Fetale Alkoholsyndrom ist bekannt bei uns, es steht jedem frei, sich beim Sonnenhof fortzubilden. Wir haben Material vom (Verein) FASD Deutschland ausliegen. Und wenn wir einen Fall von FAS auf dem Tisch haben, dann sehen wir, dass wir die entsprechenden Maßnahmen einleiten.”
Soweit die Theorie.
In der Praxis sieht das leider oft anders aus. Pflegemutter Andrea kann ein trauriges Lied davon singen. Für ihren Sohn fegte das Jugendamt die FAS-Diagnose aus der Charité von Professor Spohr höchstselbst mit einem Handstreich vom Tisch. Die Pflegemutter sei hysterisch und erzieherisch inkompetent. Den Jungen müsse man nur richtig anpacken und ihm seine Delinquenz austreiben. Die leibliche Mutter betont bis heute, sie habe keinen Alkohol getrunken.
Einerseits regt es Psychiater Spohr auf, dass selbst Diagnosen aus renommierter Hand angezweifelt werden. Anderseits zeigt er auch Verständnis: “Das ist das große Problem. Wenn die leiblichen Mütter nein sagen, sie haben nicht getrunken, dann muss das arme Jugendamt in Marzahn, unterbesetzt wie es ist, entscheiden, und dann kommt die Mutter mit einem Rechtsanwalt.” Diese argumentiere dann sogleich, in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt zu werden.
Kollegin Heike Wolter hatte vor einiger Zeit einen solchen Fall. Es habe sogar ein Erziehungsfähigkeitsgutachten über die leibliche Mutter gegeben, in dem von massivem Alkoholkonsum die Rede gewesen sei. Da die Mutter bei ihrer Behauptung geblieben sei, dass sie keinen Tropfen angerührt habe, musste die FAS-Diagnose zurückgenommen werden.
Juristisch steht das Kindesrecht über dem Elternrecht. In der Praxis, so hat es sich in vielen weiteren Fällen schon bewahrheitet, wird dieses Recht umgekehrt.
Das scheint dazu zu führen, dass so manche Einrichtung das Vorkommen des Fetalen Alkoholsyndroms schlicht und ergreifend negiert. Immer wieder gibt es Rückmeldungen vor allem von Pflegeeltern, die berichten, dass nicht wenige Mitarbeiter von Ämtern und Trägervereinen behaupteten, dass FAS kein Thema sei und sie sich deshalb nicht mit dem Krankheitsbild beschäftigten.
Als die Charité-Ärztin Wolter das hört, kann sie es kaum fassen: “Ich finde es schon erstaunlich, mehr noch, es macht mich sprachlos, dass es noch jemanden gibt heutzutage, der einfach sagt, das gibt es nicht.”
Es geht aber auch ganz anders: Das Kind Ben*, mit sechs Monaten an Pflegeeltern vermittelt, wird in der Kita FAS-auffällig, kommt sofort ins Sozialpädiatrische Zentrum und landet bei Heike Wolter, die den Verdacht bestätigt. Sodann übernimmt eine Charité-Kollegin die Aufgabe, die Mitarbeiter in der Kita über FAS, die Beeinträchtigungen und den Umgang damit aufzuklären.
Der Antrag für den Pflegegrad bei der Krankenkasse wird in die Wege geleitet, die zur Entlastung der Pflegeeltern eine Pflegepatenschaft finanziert. Das Jugendamt genehmigt ohne Diskussionen sofort den erweiterten Förderbedarf. Über den Betrag dürfen die Pflegeeltern frei verfügen. Das Kind bekommt Ergotherapie und passgenauen Schwimmunterrricht. Nicht zuletzt wird ihm ein Integrationshelfer in der Kita zur Seite gestellt.
Die Liste positiver wie negativer Beispiele in Berlin lässt sich beliebig fortsetzen. Einig sind sich alle Akteure auf dem FAS-Parkett: Die Situation in Berlin hat sich zugunsten der Bereitschaft zur Aufklärung, Fortbildung, Diagnostik und Unterstützung Betroffener und ihrer Familien vor allem in den vergangenen fünf Jahren deutlich verbessert.
Aber ausreichend?
Noch lange nicht, wenn 44% der Deutschen nicht wissen, um was es sich beim Fetalen Alkoholsyndrom handelt und das berühmte “Gläschen zum Anstoßen” auch für Schwangere gutheißen.
Es ist überfällig, dass das Fetale Alkoholsyndrom endlich bundesweit als Behinderung anerkannt wird.
*Auf Wunsch und zum Schutz sind nur die Vornamen benannt