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Dann heißt es immer, dass ich nur bockig bin


Ich möchte so gerne meine Geschichte erzählen, weil ich dazu beitragen möchte, dass die Gesellschaft endlich aufgeklärt wird, wie gefährlich Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist, selbst wenn es „nur“ ein Glas ist. Ich möchte erklären, wie es ist, wenn man mit fetalen Alkoholschäden (FASD) auf die Welt kommt, die nie mehr weggehen. Ich möchte erzählen, wie es ist, wenn das Hirn wegen der toxischen Wirkung des Alkohols zerlöchert ist. Ich habe lange Jahre epileptische Anfälle gehabt, habe mich permanent übergeben. Meine Pflegemutter erinnert sich gut an die vielen Male, an denen wir vom Kaffeetisch direkt in den Hubschrauber zur Notaufnahme sind. Da war ich noch klein. Inzwischen hat sich die Epilepsie glücklicherweise ausgewachsen. Auch meine Augen konnten operiert werden. Aber alle anderen Behinderungen sind geblieben.


Ich bin jetzt 18 Jahre alt geworden und kann nirgends einfach so alleine hingehen oder hinfahren wie andere Jugendliche in meinem Alter. Ich habe ein schrecklich schlechtes Gedächtnis und Null Orientierung. Nur wenige Wege, die ich gefühlt 1000 Mal abgelaufen bin, kann ich abspeichern und alleine bewältigen. Für alles andere brauche ich Begleitung, egal für was. Ich komme mit dem Straßenverkehr nicht zurecht, kann auch nicht rechts und links unterscheiden. Es geht alles so schnell und ist laut und die vielen Menschen überall. Da werde ich sofort kopflos. Ich fühle mich überflutet von Eindrücken und Geschehnissen. Hinzu kommt, dass ich Gleichgewichtsstörungen habe. Früher war das ganz schlimm. Da bin ich ständig hingefallen. Am heftigsten war das in der Grundschulzeit.

Deshalb, und weil ich auch sonst anders war, bin ich schrecklich gemobbt worden. Am schlimmsten war das, als sie mich als Missgeburt beschimpft und einen engen Kreis um mich gebildet haben, aus dem ich nicht herauskam. Niemand hat mir geholfen. Niemand. Ich hatte keine Freunde in der Schule. Ich bin nie zu einem Geburtstag eingeladen worden. Und wenn ich eingeladen habe, ist keiner gekommen.
Ich bin so froh, dass ich meine Pflegefamilie habe. Die sind wie eine Schutzburg für mich. In die bin ich gekommen, da war ich fünf Monate alt. Wir sind acht Kinder (drei davon sind Pflegekinder mit FASD). Ohne meine Mama und meine Pflegefamilie wäre ich lost. Ich bin so froh sie zu haben. Ohne sie wäre ich einsam. Ich habe nur eine einzige Freundin. Ich habe Angst, auf fremde Menschen zuzugehen.

Ich bin die meiste Zeit zu Hause. Ich lese alles, was mir unter die Finger kommt. Deshalb hab ich ein gutes Allgemeinwissen und kann mich gut artikulieren. Aber sonst intellektuell habe ich enorme Defizite und ich verliere schnell den Faden. Das glaubt man mir dann nicht, wenn ich sage, dass ich dies und jenes nicht kann. Dann heißt es immer, dass ich nur bockig sei. Aber das stimmt nicht. Ich bin ja auch schnell überfordert, kann mich nicht lange konzentrieren, brauche viele Pausen. Ich hasse es, wenn man mir nicht glaubt.
Zur Zeit arbeite ich in Behindertenwerkstätten. Selbst hierfür bin ich nicht belastbar genug. Wir haben meine Arbeitszeit jetzt auf 4 1/2 Stunden reduziert. Die Arbeit ist okay. Aber auch hier finde ich keinen Anschluss zu den anderen. Für die bin ich zu klar im Kopf. Die sind ganz anders behindert und leben in ihrer Welt.


Meine Erzeugermutter habe ich kennengelernt, aber ich will nichts mit ihr zu tun haben. Ich bin wütend auf sie, weil sie darauf scheißt, was sie uns – ich habe noch zwei Brüder – angetan hat. Ich werde nie alleine leben können. Ich brauche immer 1:1-Betreuung. Deshalb habe ich Angst vor der Zukunft. Das ist für mich wie eine schwarze Wand.
Ich möchte meine Geschichte auch deshalb erzählen, weil so viele Menschen FASD haben. Jede Stunde kommt in Deutschland ein Baby mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt. Das ist Wahnsinn. Das muss aufhören. Das geht nur mit Aufklärung. Deshalb engagiere ich mich für die Kampagne Happy Baby No Alcohol.

Aufgeschrieben von Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Ich dachte – nur noch Wahnsinnige um mich herum

“Im Grunde habe ich zunächst alles illegal gemacht. Ich habe das Pflegekind einfach so behandelt wie ein zweites leibliches Kind”, sagt Maren Kroeske. Erst zwei Jahre später habe ihr völlig überraschend eine Mitarbeiterin des Jugendamtes triumphal eine Vollmacht unter die Nase gehalten mit den Worten: “Das habe ich der leiblichen Mutter aus den Rippen geleiert.” Es war das erste Mal, dass das Jugendamt tätig geworden war. Bis dato hatte es kaum persönliche Kontakte gegeben, keine Auflagen, geschweige denn Fortbildungs- oder Unterstützungsangebote oder gar eine Überprüfung der Pflegefamilie. “Heute weiß ich, dass das schon mit dem ersten Kennenlernen schief gelaufen ist. Aber hinterher ist man immer schlauer. Ich bin da echt naiv reingelaufen”, gesteht die 55jährige.

Und das kam so:

Am 6. Januar 2011, als Maren Kroeske mit ihrem leiblichen Sohn um 13 Uhr nach Hause gekommen war, hatte sie eine Nachricht vom Jugendamt auf dem Anrufbeantworter vorgefunden. Die habe in etwa so gelautet – “wenn Sie wollen, können Sie heute Nachmittag um 15 Uhr einen kleinen Jungen angucken.” Erst dachte die Lehrerin, wie irre das denn sei so aus dem Off. Schließlich hatten sie und ihr Mann vor sage und schreibe sechs Jahren einen Adoptionsantrag gestellt, weil sie dachten keine Kinder mehr bekommen zu können. Seitdem habe sich nie etwas getan. Jedenfalls nicht in Sachen Adoption. Dafür zu Hause bei den Kroeskes. Hier hatte sich nun doch Nachwuchs eingestellt und eine Adoption war gedanklich in den Hintergrund geraten.

Dann, im Sommer 2010, ihr kleiner Sohn war noch nicht ganz drei Jahre alt, kam der erste Anruf des Jugendamtes mit der Frage – ob man sich auch eine Pflegschaft vorstellen könne. An besagtem 6. Januar packte die Lehrerin also ihren Sohn ins Auto, informierte ihren Mann und fuhr zur genannten Adresse der Bereitschaftspflege. Vom Jugendamt vor Ort weit und breit keine Spur. Am nächsten Tag dann wieder nur ein Anruf mit der Nachfrage: Na, hat Ihnen der Junge gefallen? Das hatte er. Obendrein hatte der Kroeske-Mini Lust auf einen kleinen Bruder als Kumpel. Damit war die Sache besiegelt. Schon drei Wochen später zog der 13 Monate alte Jeremie bei den Kroeskes ein.

Die Lehrerin: “Ich bin dorthin gefahren, wieder war kein Jugendamt da. Ich saß danach im Auto, das fremde Kind neben mir, ich guckte es an und dachte, wie irre ist das eigentlich hier? Eine wildfremde Person hat dir gerade ein Kind mitgegeben, überhaupt nichts ist dokumentiert. Wenn Du zu Ikea fährst und holst dir einen Schrank, musst du drei Mal unterschreiben, bis du ihn ausgehändigt bekommst. Ich saß da eine Viertelstunde vor dem Haus der Bereitschaftspflege und konnte nicht losfahren.”

Informationen über die Herkunft des Kindes? Maren Kroeske rekapituliert: “Fünf Monate war Jeremie bei der Bereitschaftspflege gewesen. Das einzige, was ich mal gesagt bekommen hatte, war, die Mutter sei harmlos. Die Mutter sei alleine, käme mit der Lebenssituation nicht klar, sei noch sehr jung, sei im Mutter-Kind-Heim gewesen. Dort habe sie das Kind fast verhungern lassen, denn es sei 17 Stunden ohne Nahrung gewesen. In Tränen aufgelöst hatte die Mutter geglaubt, ihr Kind sei tot. Man sei ins Krankenhaus, weil das Kind völlig dehydriert gewesen sei. Darauf folgte die Entscheidung, das Kind solle besser in Pflege gegeben werden.

Die erste Zeit mit dem Jungen sei vergleichsweise unkompliziert verlaufen, berichtet die Pflegemutter. Im Kindergarten sei er lediglich auffällig gewesen, weil äußerst aktiv. Auch Maren Kroeske erlebte an ihm eine stete Unruhe. Und ungewöhnlich fand sie: “Er konnte durch einen durch gucken.” Die Lehrerin dachte, dass sei die erlittene Traumatisierung. Ja, und die Füße, “die stachen mir von Anfang an ins Auge, die waren quadratisch. Aber ich dachte, naja, es gibt eben Familien, die haben halt solche Füße. Erst später habe ich erfahren, woher das kommt.”

Das FASD-klassische Drama begann, als Jeremie eingeschult wurde. Kroeske: “Er konnte nicht sitzen wie andere Kinder. Er konnte keine Regeln befolgen. Er saß oft unter dem Tisch, kletterte in Spinte, um sich zu verstecken. Mein und Dein kann er bis heute schlecht unterscheiden. Nach dem Stuhlgang auf der Toilette hat er sich entweder mit dem Ärmel abgeputzt, oder die Hose einfach hochgezogen.”Weil immer mehr Auffälligkeiten hinzukamen, begann Maren Kroeske eine Liste zu führen. Die Liste wurde länger und länger – schlechtes Orientierungsvermögen, mangelndes Zeitempfinden, hohe Vergesslichkeit, kognitiv defizitär, heftige Impulsdurchbrüche, wozu gehörte, dass der Junge locker eineinhalb Stunden am Stück “brüllte wie ein Irrer”. Aber keiner kam auf die Idee, was die Ursache für all diese Auffälligkeiten sein könnte. Maren Kroeske machte sich also im Internet auf die Suche. Schnell wurde sie fündig.

Die Zweifachmutter wandte sich sofort ans Jugendamt und forderte eine Diagnose. “Dort bin ich so richtig zurechtgefaltet worden. Es hieß, die leibliche Mutter habe ganz klar gesagt, dass sie nicht getrunken habe und deshalb würde hier gar nichts unternommen.” Besser noch: “Die Mutter und das Jugendamt wollten mir das Kind wegnehmen und in eine Wohngruppe stecken.” Maren Kroeske lässt sich das nicht gefallen. Sie stellt bei Gericht einen Verbleibensantrag. In einem Gutachten wurde festgestellt: Die Herausnahme des Jungen bei der Pflegemutter bedeute eine Kindeswohlgefährdung. Die Retourkutsche des Jugendamtes lässt nicht auf sich warten: Entzug der Vollmacht für Jeremie.

Im Zuge der gerichtlichen Auseinandersetzung kommt es denn aber doch zur Diagnose. Dr. Reinhold Feldmann stellt in der FASD-Ambulanz in Walstedde fest: partielles FASD, reaktive Bindungsstörung, Entwicklungsverzögerung, stark verminderte Merkfähigkeit, Dyskalkulie und einen Gendefekt, dessen Art aber noch nicht geklärt ist. Dadurch, dass Jeremies Intelligenzquotient bei 94 liegt, “merkt er, welche Defizite er hat und sagt immer – mein dummer, dummer Kopf – und ist ganz verzweifelt. Er tut mir so wahnsinnig leid”, sagt seine Pflegemutter. Fünf Dienstaufsichtsbeschwerden muss Maren Kroeske losjagen. Dann erst erkennt das Jugendamt die Diagnose an.

Eine weitere Kampfansage musste die Lehrerin machen, als es um die Wahl der weiterführenden Schule geht – Realschule, Gesamtschule oder Förderschule. Das Jugendamt verfügte, dass die Entscheidung bei der leiblichen Mutter zu liegen habe. Im Schulterschluss mit dem Jugendamt plädiert diese ohne Gespräche mit der Pflegemutter für die Realschule; und zwar ohne Schulbegleiter. Was folgte, ist nicht schwer zu erraten: “Ich musste Jeremie permanent abholen oder ihn suchen gehen, da er das Schulgelände immer wieder einfach verlassen hatte.”

Für die meisten Menschen der Horror, für manche auch ein Segen: Corona! “Mir spielte Corona in die Hände”, sagt Maren Kroeske, “denn es gab den Erlass, dass den Kindern nicht zur Last gelegt werden darf, wenn die Eltern sich weigern das Kind testen zu lassen. Die leibliche Mutter, mit der die Pflegemutter in der Zwischenzeit entgegen den Bestrebungen des Jugendamtes einen freundschaftlichen Kontakt hat aufbauen können, unterschreibt: Ich will nicht, dass mein Kind ständig getestet wird. Maren Kroeske triumphiert: “Daraufhin musste Jeremie zu Hause bleiben.”

Die Lehrerin legt aber keineswegs die Hände in den Schoß. Sie schreibt eine Dienstaufsichtbeschwerde nach der anderen. An das Jugendamt Schwelm, an das Landesjugendamt, an den Bürgermeister, an die Landesbehindertenbeauftragte – keiner der Beteiligten bleibt verschont, sieben werden es insgesamt. Die hartnäckige Aktion zeigt Wirkung. Der Leiter des Jugendamtes winkt die Finanzierung einer Privatschule durch. Und ein Transfer mit dem Taxi wird auch noch obendrauf gepackt. “Übrigens flatterte mir zeitgleich von einer Sachbearbeiterin eine Anzeige über Kindeswohlgefährdung ins Haus”, merkt eine enervierte Pflegemutter an, “man hielt mich beim Jugendamt über Jahre für persönlichkeitsgestört.”

Ah, und nun? Kroeske berichtet atemlos: “Man schickte mir Familienbegleiter. Die erste war schon eine Katastrophe. Die schrie mich an. Der zweite kam hier rein, sagte als erstes, ich hätte keine Ahnung von Pflegekindern, aber er, und außerdem könne er Lehrer nicht ausstehen. Das ich meinem Sohn erlaube, dass er sich mit Stiften Tatoos auf die Haut male, sei Körperverletzung. Ebenso die Tatsache, dass ich ihm die Haare extrem kurz hatte abschneiden lassen, weil Jeremie selbst an sich herumgeschnippelt hatte. Die Friseurin hatte gemeint, da sei leider gar nichts mehr zu machen als ganz kurz zu schneiden. Übrigens: Der Typ hatte einen langen Zopf bis zum Popo.

Ich habe gedacht, ich habe nur noch Wahnsinnige um mich herum. Nun, jedenfalls, als der Typ mir die Körperverletzung nachweisen wollte, hat er Jeremie, als er mit ihm alleine war, ungefragt das T-Shirt über den Kopf gezogen. Jeremie hat mir das aber erzählt. Ich dies dem Jugendamt. Das wiederum behauptete, ich erfände Geschichten, um die Mitarbeiter zu diskreditieren. Zum Glück hatte Jeremie in einer Befragung in der Schule erzählt, was dieser Typ mit ihm gemacht hatte. Das wurde ans Jugendamt weitergeleitet. Ich habe beantragt ihn abzuziehen. Das tat sie dann auch.

Zur Krönung wurde dann ein Psychologe geschickt. Während des Gesprächs mit mir, das ich mit seinem Einverständnis aufzeichnete, erzählte er, dass er den Auftrag bekommen habe: Finden sie das Haar in der Suppe, damit wir das Kind da herausnehmen können. Als ich ihn fragte, warum er das mache, antwortete er, Sie wissen doch – wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing.” Nun, dieses sein Lied kam jedenfalls nicht zustande. Und damit Ende der Kindeswohlgefährdung. Das Spiel mit den Dienstaufsichtbeschwerden allerdings geht weiter seinen Gang. Und fährt tatsächlich wieder einen Erfolg ein. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat sich jetzt des Falles angenommen und möchte diesen endlich und endgültig regeln.

Was steht sonst noch so an? Maren Kroeske: “Anhängige Klage vor dem Verwaltungsgericht, dass mir der 3,5-fache Satz für ein behindertes Pflegekind zusteht. Anhängige Klage beim Sozialgericht um die Anerkennung der Schwerbehinderung und der Merkzeichen.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

FDP-MdB Kristina Lütke: Wir alle sind verantwortlich!

Die bundesweite Aktionswoche Alkohol, initiiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, nehmen wir von Happy Baby No Alcohol und die Bundestagsabgeordnete der FDP, Kristina Lütke, zum Anlass, den Fokus auch auf das Thema “Alkohol in der Schwangerschaft und fetale Alkoholschäden” zu richten. Im Schulterschluss mit der Journalistin und Autorin des Buches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, prangert die Sprecherin der FDP für Sucht- und Drogenpolitik an, dass Aufklärungsarbeit, und damit die Eindämmung von FASD, bislang verschlafen worden sind. Kristina Lütke erkennt in ihrem heutigen Blogbeitrag zum Auftakt der “Aktionswoche Alkohol” die Vorreiterrolle Norwegens, die Dagmar Elsen in ihrem Buch beschreibt, und fordert Präventionsarbeit nach norwegischem Vorbild:

In Deutschland wird jede Stunde mindestens ein Kind mit Schäden geboren, die auf Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Die Schäden reichen dabei von Fehlbildungen über Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu körperlichen und geistigen Behinderungen – zusammengefasst als FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder). Doch FASD ist vermeidbar – die Verantwortung dafür liegt bei jedem und jeder Einzelnen von uns und darf nicht auf die Schwangeren abgeschoben werden.

Schwangere Frauen sollten keinen Alkohol konsumieren – vollkommen klar, oder? Nein, leider nicht! Die Gefahr wird oftmals unterschätzt. Bislang wissen 44 Prozent der Menschen in Deutschland nicht, dass Alkohol in der Schwangerschaft zu schweren Schäden bei ungeborenen Kindern führen kann. Etwa jede fünfte Schwangere konsumiert Alkohol in moderaten Mengen. Diese alarmierenden Zahlen gehen aus dem Drogen- und Suchtbericht aus dem Jahr 2018 mit Schwerpunktthema Alkohol hervor. Dabei ist längst wissenschaftlich belegt: Schon geringe Alkoholmengen können schwere Schäden an ungeborenen Kindern hervorrufen – es reicht schon das eine Gläschen zum Anstoßen. Und genau hier müssen wir ansetzen: Mit breit angelegten Präventions- und Aufklärungskampagnen wollen wir ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein schaffen und FASD eindämmen, weil klar ist auch: Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

Prävention nach norwegischem Vorbild

Norwegen hat bei der Bekämpfung von FASD eine Vorreiterrolle übernommen. In einer beispiellosen Aufklärungskampagne wurden sämtliche Medien genutzt: Flugblätter, Plakate, Kurzfilme für Kino und Fernsehen, Anzeigen in Zeitungen, Zeitschriften und bei Google, man inspirierte Journalisten, Artikel zu platzieren und Experten, entsprechende wissenschaftliche Texte zu veröffentlichen. Im Anschluss an die Kampagne kamen Umfragen in der norwegischen Bevölkerung zum Ergebnis: Das Bewusstsein über die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist gestiegen.

Auch Fortbildungen und Schulungen zu FASD wurden in Norwegen intensiviert und gehörten fortan zum Standard für alle, die in den relevanten Berufen tätig sind, also Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer und viele mehr. Spezielle Diagnostikkurse hatten das Ziel, ausreichend Ärztinnen und Ärzte fortzubilden, die dann in der Lage sind, FASD zu erkennen.

All das wurde in Deutschland viel zu lange verschlafen – aufgrund von Versäumnissen der Vorgängerregierung. Denn trotz der erschreckenden Zahlen aus den Sucht- und Drogenberichten der vergangenen Jahre wurde von Seiten der letzten Bundesregierung kaum etwas gegen FASD unternommen.

Gesellschaft sensibilisieren & Mütter entstigmatisieren

1,6 Millionen Menschen sind deutschlandweit von fetalen Alkoholschäden betroffen – so die Berechnungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher ausfallen. FASD ist also kein Randphänomen unserer Gesellschaft. Umso notwendiger ist es, Bürgerinnen und Bürger zu sensibilisieren. Zum einen brauchen wir dafür Präventionsangebote für werdende Mütter, um diese gezielt innerhalb der Schwangerschaft zu erreichen. Zum anderen muss auch die breite Mitte der Gesellschaft mit Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft informiert werden. So kann ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein geschaffen und FASD gezielt bekämpft werden.

Dabei geht es auch darum, in den Köpfen verankerte Falschinformationen faktenbasiert zu widerlegen. Denn es ist schlicht die Unwissenheit von jedem und jeder Einzelnen von uns, die dann zu Alkoholkonsum während der Schwangerschaft führen kann. Häufig hört man verharmlosende Sätze wie: „Ein Gläschen zum Anstoßen? Das schadet doch nicht!“ – selbst einige Hebammen und Gynäkologen behaupten beispielsweise auch heutzutage noch, dass ein Glas Rotwein in der Badewanne wehen fördernd sei – was schlicht falsch und höchst gefährlich für ungeborene Kinder ist.

Es ist ein Leichtes, die Schuld für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft alleine auf die werdenden Mütter abzuschieben. Das ist aber nicht nur realitätsfern, sondern auch zynisch. Denn solange kein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein geschaffen wurde und selbst unter Geburtsexperten noch viele Falschinformationen über FASD kursieren, sind wir alle verantwortlich – solange bis endlich jedem und jeder die Risiken von Alkohol in der Schwangerschaft bekannt sind. Dann wird es auch viel öfter heißen: Ein Gläschen zum Anstoßen? Lassen wir lieber sein!

Quelle: Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr, Dagmar Elsen, Schultz-Kirchner-Verlag

Blaues Nest – Elterngerechte Hilfe zur Selbsthilfe

Es war ein harter Weg, den sie hat gehen müssen. Sie hat gelitten, gekämpft, ist aber nie verzweifelt. Anja Bielenberg, Mutter von acht Kindern, fünf leiblichen, und drei Pflegekindern mit fetalen Alkoholschäden, blickt inzwischen auf zwanzig Jahre Erfahrung mit FASD zurück, in der sie außerdem eine Wohngruppe gegründet hat. Diese Erfahrungen mit viel Freud und Leid haben sie angetrieben, sich in ungezählten Seminaren und Workshops zur FASD-Fachberaterin fortzubilden. Da sie außerdem Schwangerschaftsbegleiterin ist, weiß sie um den Bedarf an Aufklärung. Schon in ihrer Ausbildung hierzu musste sie sich anhören, dass zu einem guten Wehencocktail Alkohol gehört. Bitte?

All ihre Erlebnisse haben die Idee für das “blaue Nest” entstehen lassen – Weiterbildungsangebote für Eltern mit Kindern, die FASD haben, die ihr besonders am Herzen liegen, und Fachvorträge mit Grundlagenwissen auf den Punkt gebracht. Journalistin und Autorin Dagmar Elsen hat mit ihr darüber ein Gespräch geführt.

Was ist das besondere am blauen Nest?

Anja:

Das blaue Nest ist von Eltern für Eltern gemacht. Es ist Eltern-Wissen, damit Eltern es wissen. Und zwar einfach, verständlich, nachvollziehbar. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es Eltern mit FASD-Kindern geht. Ich habe im Laufe der Jahre so ziemlich alle Hürden überwunden, die sich mir in den Weg gestellt haben. Angefangen mit der Antragstellung und der Berechtigung dies zu tun, über Kontakte zu den leiblichen Eltern, Streitigkeiten mit den Ämtern vor Gericht, bis hin zu spontanen Aktionen wie Notfälle.

Oder auch die vielen Auseinandersetzungen in der Schule, die allgemeinen Anfeindungen gegen die Kinder aufgrund ihres Benehmens, die fehlenden Spielkameraden. Auch ich selbst bin deswegen gesellschaftlich viel ausgegrenzt worden. Wie oft habe ich falsche Wege eingeschlagen, weil ich nicht wusste, wo der richtige sich befand. Woher auch? Es gab ja nirgendwo eine entsprechende Unterstützung.

Das blaue Nest soll als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden. Die Module finden ausschließlich im kleinen Rahmen statt. Dies elterngerecht in kurzen Einheiten und mit viel Wertschätzung und Respekt dem anderen gegenüber. Jenseits des Erwerbs von Fach- und praktischem Wissen spielen Achtsamkeit, Tipps für den Alltag und die richtige Positionierung des eigenen Tuns eine wichtige Rolle. Ich bin ja selbst Mutter, jeden Tag präsent, und so weiß ich, wovon ich spreche, was man fühlt und was man braucht. Die abschließende Zertifizierung zur Fachkraft für das FASD-Kind soll den Eltern die Anerkennung ihres erworbenen Wissens bestätigen.

Übrigens sage ich bewusst FASD-Kinder, – weil diese Kinder etwas besonderes sind: tiefgründig, elementar sensibel und gleichzeitig teilweise so brutal in der Umsetzung ihrer Wünsche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich diese besonderen Kinder besondere Menschen aussuchen. Menschen, die bereit sind, mit ihnen an ihrem Schicksal zu wachsen – egal von welcher Dauer diese Beziehung sein wird. Auch das möchte ich vermitteln.

Gab es eine Initialzündung das blaue Nest ins Leben zu rufen?

Anja:

Es gab verschiedene Initialzündungen, aus denen ich die Idee zum blauen Nest entwickelt habe. In einer meiner Ausbildungen zur Geburtsvorbereiterin kam im Vorkurs eine Hebamme zu Wort, die tatsächlich den Wehencocktail mit Alkohol empfahl. Ich habe das seinerzeit scharf kritisiert, aber es ist immer noch Gang und Gäbe diesen zur Weheneinleitung als probates Mittel anzupreisen.

Immer wieder fiel mir während meiner beruflichen Tätigkeiten auf, dass das Thema Alkohol in der Schwangerschaft nie wirklich jemanden interessierte. Irgendwie war das immer ein Thema der anderen, und fälschlicherweise immer einer bestimmten Milieuschicht zugeordnet.

Ich selbst habe das Thema von Anfang an sowohl in meinen Kursen platziert, als auch bei meinen Ausbildungskursen zur Geburtsbegleiterin. Bald werde ich eine Fachausbildung zu dem Thema für Geburtsvorbereiterinnen, Doulas, Mütter- und Familienpflegerinnen unnd Hebammen markenrechtlich geschützt anbieten können.

Nicht ein Tag ist bislang vergangen, an dem Eltern von FASD-Kindern nicht an mich herangetreten sind mit Fragen, Ängsten, Traurigkeit und Empörung über das allgemeine Unwissen über fetale Alkoholschäden.

Welche Angebote beinhaltet blaues Nest?

Anja:

Es gibt drei Online-Module. Modul 1 ist ein Fachvortrag mit Grundlagenwissen auf den Punkt gebracht – die Geschichte, FASD-Ausprägungen, die Entstehung, die Auswirkungen, die Diagnostik und das Leben mit FASD für die Betroffenen und ihre Familien.

In Modul 2 können die Teilnehmer ihr Wissen über FASD erweitern. Themen werden hier sein: die rechtliche Situation der Elternschaft, der Schwerbehindertenausweis, die Pflegestufe, usw. Für die Hausaufgaben und die gemeinsame Gruppenarbeit werden wir mit dem FASD-Sachbuch von Dagmar Elsen “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” arbeiten. Insgesamt geht es hier vor allem um den gemeinsamen Austausch, die Wertschätzung und die Stärkung der Eltern. Denn leider erlebe ich es immer wieder, dass Eltern mit FASD-Kindern verzweifeln, weil jeder Tag ein anderer ist, man auf Gelerntes nicht vertrauen kann, immer neue Herausforderungen zu meistern sind. Am Ende sind alle nur noch ausgebrannt. Das gilt es unbedingt zu verhindern.

Das Modul 3 ist mein Lieblingsmodul. Dieses Modul dürfen nur Eltern mit FASD-Kindern buchen. Denn die Elternschaft von FASD-Kindern bedeutet mehr Fachkraft, als es irgendjemand von außen den Eltern beibringen könnte. Hier wird sehr ins Detail gegangen, was das Leben mit FASD-Kindern alles mit sich bringt.

Man kann natürlich auch individuelle Beratung bei mir buchen. Ich biete zwar in allen Kursen ein Grundwissen. Aber es muss jedem klar sein, dass die rechtlichen Grundlagen je nach Bundesland unterschiedlich sind. Das beachte ich dann entsprechend.

Geplant sind übrigens Präsenz-Kurse für Kinder in Achtsamkeit und Yoga für kommenden Herbst.

Was möchtest Du ganz persönlich den Eltern, die zu Dir kommen, mit auf den Weg geben?

Anja:

Klarheit, Klarheit und nochmal Klarheit!

Natürlich wissen wir als Eltern nicht alles und können auch nicht alles. Unser FASD-Kind auch nicht. Damit unterscheidet es sich zunächst nicht von anderen Kindern. Und wir uns nicht von anderen Eltern. Aber. Unser Alltag hat durch die Beeinträchtigungen unserer FASD-Kinder eine andere Qualität bekommen. Hier gilt es ehrlich zu sein: Was kann ich leisten? Was will ich leisten? Es sollte sich nicht die Frage gestellt werden: Leiste ich genug? Man sollte auch nicht dastehen und sagen: Ich leiste doch schon so viel und es ist immer noch nicht genug. Es muss ehrlich und klar gegenüber seinen Kindern formuliert und gelebt werden, was man will und kann und wo die Grenzen liegen. Die Kinder müssen wissen, woran sie sind. Sie müssen nicht nur einen klaren Alltag, sondern auch klare Lebensvorgaben haben. Im Grunde heißt das, dass du dich einfach traust, der zu sein, der du bist. So unglaublich das klingt, aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht: Ein Kind mit FASD erkennt nur dieses an und damit dich im Ganzen.

Was ist Dein Background, der Dich zur Fachfrau für FASD hat werden lassen?

Anja:

Ich bin Pflegemutter seit rund 20 Jahren und habe mir fast alles autodidaktisch erarbeitet, mir aber auch teure Hilfe geholt, und mich später in unzähligen Seminaren und Workshops weitergebildet. Ich habe gelitten, gekämpft, aber ich bin nie verzweifelt. Es war ein harter Weg. Wirklich. Aber mit jedem noch so kleinen Erfolg wuchs mein Mut. Und damit der Erfolg der Durchsetzungskraft für meine Kinder. Natürlich habe ich durch und mit meinen Kindern immer noch Baustellen. Dies zum Beispiel in der Schule. Aber heute nehme ich das nicht mehr als persönliche Niederlage. Nein, ich weiß, es ist die Unwissenheit meines Gegenübers, wofür ich nicht verantwortlich bin. Deshalb ärgere ich mich nicht mehr so sehr. Erkennen, am kürzeren Hebel zu sitzen, ist auch eine entspannende Erkenntnis, mit der man dann anders umgehen kann, um andere Ideen zu entwickeln.

Außerdem kommt mir zugute, dass ich Schwangerschaftsbegleiterin bin und fünf leibliche Kinder habe, so dass ich das Leben rund um Kinder in all seinen Facetten kenne.

Wie lebst Du mit Deinen Kindern?

Anja:

Wir leben in Nordfriesland an der Küste ganz oben in Schleswig-Holstein. Idealerweise leben wir ganz ländlich, sehr behütet und beschaulich. Eben sehr reizarm, was wichtig ist. Wir haben ein großes Haus mit einem kleinen eingezäunten Garten. Die gemeinsamen Räume sind groß und freizügig eingerichtet. Die Kinderzimmer befinden sich im oberen Hausbereich. Es gibt klare Tagesstrukturen und Regeln sowie geregelte Mahlzeiten. Fernsehen ist wenig. Und jeder hat seinem Alter entsprechend einen Aufgabenplan.

Welche Leitlinien gibt es für Dich beim Umgang mit Kindern, die fetale Alkoholschäden haben?

Anja:

Klarheit, Struktur, Reduktion, Lachen.

Damit fallen Zeitmanagement und Reglement fast weg. Denn das eine bedingt das andere.

Welches sind Deiner Erfahrung nach die schlimmsten Hürden, die Eltern mit FASD-Kindern zu überwinden haben?

Anja:

Die Zusammenarbeit mit dem Sozialsystem, also den Ämtern, den Schulen, den Ärzten, den Krankenkassen. Das aber eigentlich nur, weil soviel Unwissenheit über die Beeinträchtigungen durch FASD vorherrschen. Oft wissen die Mitarbeiter nicht, was FASD bedeutet. Und so machen sie nach eigenem Ermessen die Leistung fest. Das Volumen dessen entspricht dann nicht dem Bedarf.

Interessant ist auch, dass viele Menschen meinen, Pflegeeltern würden mit einem FASD-Kind sehr viel Geld verdienen.

Was würde Deiner Meinung nach helfen, die Welt für Menschen mit fetalen Alkoholschäden zu verbessern?

Anja:

Im Grunde genommen habe ich aufgehört, diese Welt zu verbessern. Das ist mit Sicherheit die Urwurzel für die Entstehung des blauen Nestes. Ich möchte Teil der Veränderung der Welt der FASD-Eltern sein. Ich möchte helfen, ihre eigene “FASD-Welt” zu verändern und ihr Leben zu verbessern. Ich hoffe, dass viele mitmachen und wir somit ein großes, gestärktes Netzwerk werden.

Das blaue Nest findet sich unter: www.fasd-schleswig-holstein.de

FASD – Sind die Mütter der Ursprung aller Probleme?

Gerne wird in unserer Gesellschaft der Mutter allein die Schuld zugeschoben, wenn sie Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat und ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt bringt. Fragt sich: Trägt sie wirklich ganz allein die Schuld? Kann man überhaupt von Schuld sprechen? Steht nicht jeder einzelne in unserer Gesellschaft in der Pflicht, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und unterstützend zur Seite zu stehen, wenn eine Mutter betroffen ist? Ist es nicht eher notwendig, eben diesen Müttern Mut zu machen zuzugestehen in der Schwangerschaft Alkohol getrunken zu haben. Die Gründe dafür sind bekanntlich vielfältiger Art. Nevim Krüger, Vorsitzende von Pfad Niedersachsen e.V., Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Niedersachsen ist in einem Gastbeitrag für die Kampagne Happy Baby No Alcohol diesen Fragen nachgegangen:

Um es gleich vorwegzunehmen: NEIN, die Mütter sind nicht der Ursprung aller Probleme in Bezug auf FASD! Sie sind aus der natürlichen Begebenheit heraus die Verursacher und diese Last kann ihnen erst einmal niemand nehmen.

Erfreulicherweise rückt das Thema FASD immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit. Damit einhergehend bleibt es nicht aus, dass die Entstehung dieser Behinderung ebenfalls detailliert erklärt wird. Nämlich, dass FASD durch den vorgeburtlichen Konsum von Alkohol entsteht und das ungeborene Kind schwer schädigen kann.

Alkohol ist die Volksdroge Nummer 1. Zu allen Gelegenheiten präsent und immer zu haben. In unserer Kultur stößt es eher auf Verwunderung nicht zu trinken, als dass bereits zum Frühstück mit Sekt angestoßen wird. In der Werbung vermittelt Alkohol Geselligkeit, Freiheit, Entspannung und Genuss. Wer kennt sie nicht, die Empfehlung von Ärzt*innen, dass ein Sekt den Kreislauf ankurbelt und Rotwein so gesund ist, ja sogar beim Abnehmen helfen soll.

In Deutschland geben 26 von 100 Frauen an, gelegentlich Alkohol in der Schwangerschaft zu trinken (The Lancet Global Health). Während der ersten 14 Tage der Schwangerschaft soll das Alles-oder-Nichts-Prinzip gelten, sprich wird eine Eizelle in der Frühschwangerschaft geschädigt, teilt sie sich nicht weiter und nistet sich auch nicht ein. In den meisten Fällen wird eine Schwangerschaft jedoch erst später festgestellt und wenn dann Alkohol konsumiert wird, kann er eben das entstehende Kind bereits schädigen; je nach Menge, Veranlagung und allgemeiner Verfassung der Mutter. Es kann also jede Frau treffen, die nicht kategorisch auf Alkohol verzichtet im gebärfähigen Alter. Dann gibt es Frauen, die sind tatsächlich alkoholabhängig und können gar nicht ohne Hilfe frei entscheiden, ob sie aufhören zu trinken oder nicht. Für den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft gibt es viele Gründe und wenn es richtig ungünstig läuft, reicht ein Glas zur falschen Zeit. Sicher ist, dass Alkohol trinkende Schwangere keineswegs ein Unterschichtenphänomen darstellen.

Nun kommen einige Kinder mit vorgeburtlichen Schäden auf die Welt und die allermeisten Familien bringen die Entwicklungsverzögerungen, Impuls- und Regulationsstörungen, vielleicht sogar die fazialen Auffälligkeiten, Distanzlosigkeit, die geringe Gefahreneinschätzung und Frustrationstoleranz, die Gedeih- und Essstörungen uvm. überhaupt nicht mit dem Alkohol während der Schwangerschaft in den Zusammenhang. Ein großer Teil der Frauen geht davon aus, dass es ausreichend war, nach Kenntnis über die Schwangerschaft, auf Alkohol verzichtet zu haben. Gott sei Dank ist das in vielen Fällen auch so; leider nicht immer.

Die FASD ist mittlerweile mit ihren vielen Facetten bei immer mehr Pädiator*innen, Kinderpsycholog*innen und Ärzt*innen angekommen und die Frage: „Haben Sie während der Schwangerschaft getrunken?“ wird immer öfter gestellt. Wie muss sich eine Mutter fühlen? Schuldig, hilflos, ausgeliefert, beschämt? Es erfordert schon eine gewisse Stärke, Mut und natürlich Liebe, hier wahrheitsgemäß zu antworten. Die Wahrheit ist ein großer Baustein für eine fundierte Diagnose. Und eine Diagnose ist die größte Chance, die ein Kind mit FASD erhalten kann. Nur die korrekte Diagnose öffnet das Tor für die richtigen Therapien (oder eben auch nicht!) sowie den schützenden, fördernden Umgang mit der Behinderung. Ein großer Teil der Kinder mit FASD lebt in Pflege- oder Adoptivfamilien. Diesen Familien fällt der Schritt zur Diagnose deutlich leichter. Sie müssen nichts eingestehen und haben somit auch keine „Schuld“ auf sich geladen. Des Weiteren erhalten Pflegefamilien grundsätzlich bereits Hilfe durch Jugendämter bzw. Eingliederungshilfe.

Dieser Beitrag soll niemanden glorifizieren oder abwerten. Er soll dazu beitragen, die leiblichen Mütter aus der Schuld-und Scham-Schublade hin in die gemeinsame Verantwortung zu begleiten. Sie brauchen kein Getuschel hinterm Rücken, sie brauchen kein Mitleid, sie brauchen keine gerümpfte Nase und sie brauchen auch keine Lobdudelei. Sie brauchen vor allem Akzeptanz, Hilfen für ihre Kinder, Wertschätzung und die Unterstützung im Alltag, die den Kindern und ihnen ein gutes Leben ermöglicht. Sie brauchen die Chance auf Vernetzung, Gehör und eine Öffentlichkeit, die ermutigt. Den Kindern sollte schon früh Raum für ihre Verarbeitung von Wut und Verzweiflung über ihre Behinderung und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Hürden im Leben gewährt werden. Auch hier sollten die Mütter jederzeit Unterstützung und Beistand erhalten.

Letztlich brauchen wir alle einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol in Bezug auf die ungeborenen und ungeschützten Kinder sowie die Akzeptanz, Teilhabe und bedingungslose Unterstützung von Menschen mit FASD!

Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr

Im Schulz-Kirchner-Verlag erscheint in Kürze das Buch “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” der Journalistin Dagmar Elsen, die seinerzeit auch die Aufklärungskampagne Happy Baby No Alcohol initiiert hat. Wie es dazu kam und was sie angetrieben hat, sich für die Thematik zu engagieren, beschreibt sie in ihrem Vorwort. Eine ausführliche Leseprobe findet sich unter: https://www.skvshop.de/shop/images/files/editor/file/9783824813033_elsen_alkohol_fasd_1aufl2022_leseprobe.pdf

Vorwort

„Du bist doch Journalistin, schreib drüber, sonst gibt‘s immer mehr wie mich“, sagte Luca zu mir nach seiner Diagnose im FASD-Fachzentrum Walstedde. Das war just, nachdem der damals 14-Jährige realisiert hatte: Alkohol hat mein Hirn zerstört als ich ein Baby war im Bauch meiner Mutter. Als er außerdem erfuhr, dass unglaublich viele Menschen gar nicht wissen, dass Alkoholkonsum in der Schwangerschaft derart gefährlich ist. So viele, dass jede Stunde in Deutschland ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt. So viele, dass wir inzwischen über 1,6 Millionen Betroffene sprechen. Mindestens. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Für Luca, der mit seinem wirklichen Namen nicht genannt werden möchte, war sofort klar: Wüssten die Menschen darüber Bescheid, dann würden doch alle alles tun, damit so etwas nicht weiter vorkommt. Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

So weit, so simpel.

Ich musste nicht lange überlegen. Luca wurde zur Triebfeder einer sehr intensiven und langen Recherchereise, die mich Woche für Woche, Monat für Monat, immer fassungsloser machte. Zahlen, Daten, Fakten in Dimensionen, die deutlich machen: Das hier ist kein Randphänomen der Gesellschaft. Nein. Das Fetale Alkoholsyndrom ist mitten unter uns. Es betrifft alle – die Bankiersgattin ebenso wie die Frau an der Kasse im Supermarkt oder die unwissentlich Schwangere. Und es geht nicht nur die Mütter an, sondern jeden. Weil jeder wissen sollte, was der Alkohol im Mutterleib anrichtet. Damit niemand mehr auf die Idee kommt zu behaupten, ein Gläschen schadet nicht, der Mutterkuchen ist ein sicherer Schutzmantel. Nein, ist er nicht. Alkohol in der Schwangerschaft ist immer gefährlich – zu jeder Zeit und in jeder Menge!

Durch Luca, den ich aus meinem persönlichen Umfeld kenne und den ich habe aufwachsen sehen, waren mir die Probleme und Defizite von FASD-Betroffenen vertraut. Ich habe miterlebt, wie der hübsche, fröhliche Junge, dem man seine Behinderung nicht im Mindesten ansieht, erst schleichend, dann immer deutlicher begann zu straucheln. Schneller und schneller drehte sich das Rad, immer tiefer zog es ihn in der Pubertät in den Abgrund. Es war die Hölle. Die Hölle für ihn, für seine Familie. Kein Arzt wusste Rat. Keine Klinik stellte die richtige Diagnose. Alle meinten, na ja, das Drama wird der Adoption geschuldet sein. Dann ein Tipp, ein Zufall, über eine Bekannte, die der Adoptivmutter die Aufnahme in der Kinder- und Jugendklinik Walstedde empfahl.

Es hat mich mit Entsetzen erfüllt, dass weder ein Kinderarzt, noch ein Ergotherapeut, Psychologe, Psychiater, Lehrer, Erzieher, eben niemand auf die Idee gekom- men ist, der Junge könnte fetale Alkoholschäden haben. Das, obwohl Luca einer von tausenden typischen Fällen ist – körperlich unauffällig, mit durchschnittlichem Intelligenzquotienten, aber kognitiv stark de zitär, ebenso in den Exekutivfunktionen, orientierungslos, ohne Zeitgefühl, Mathe ist ihm ein Gräuel, seine unkontrollierten Wutanfälle legendär.

Warum nur ist dieses Syndrom so unbekannt, fragte ich mich. Ich forschte im Internet, las alles, was ich kriegen konnte. Ich interviewte auf dem Gebiet der fetalen Alkoholschäden renommierte – ja, es gibt sie, wenige, aber doch! – Ärzte, Psychologen, Therapeuten, FASD-Fachberater. Ich sprach mit Eltern, mit leiblichen, Pflege- und Adoptiveltern, sprach mit erwachsenen Betroffenen. Sie erzählten stets atemlos und aufgebracht. Allesamt waren es aufwühlende Geschichten, die das facettenreiche, fatale Ausmaß der von unserer Gesellschaft vertuschten Thematik offenbarte. Die schlimmste Geschichte von allen war die von Max. Sie bricht einem das Herz. Ein Kind von elf Jahren hält die Pein des Lebens nicht mehr aus und be- geht Selbstmord. Es ist der blanke Horror.

Schockiert hat mich bei meiner Recherche obendrein, wie sehr Ängste vorherrschten offen zu reden, sich selbst zu benennen und die Personen und Ämter, die maßgeblich an den vielschichtigen Missständen beteiligt sind, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. FASD, das gibt es hier nicht. Hokuspokus. Modediagnose. Lassen die Pflegeeltern nicht locker, zeigen auf, was mit ihren Kindern los ist, fordern Hilfe und Unterstützung ein, müssen sie darum fürchten, dass ihnen die Kinder wieder weggenommen werden. Eine bedrückende Tatsache. Bitte uns im Text anonymisieren, hieß es deshalb auch immer wieder. Ein weiterer Grund für den Wunsch nach Anonymität, der einmal mehr die Gesinnung unserer ach so integrativen Gesellschaft offenlegt: die Sorge, stigmatisiert und gesellschaftlich isoliert zu werden.

Drei Jahre liegen nun hinter mir, seit ich mich intensiv mit FASD auseinandergesetzt habe. Eine lange Zeit. Aber viel Zeit ist notwendig, um zu erfassen und zu verstehen. Nicht nur das Syndrom an sich ist so komplex in seinem Erscheinungsbild und seinen Auswirkungen. Es stellt das ganze Leben der Betroffenen und ihrer Familien und Freunde auf den Kopf. Wie sagt Luca immer so schön: „Ich bin kein normaler Behinderter.“ Was er damit meint, versteht man, wenn man all die Geschichten dieser besonderen Menschen gelesen hat.

Die Recherchen haben aber glücklicherweise nicht nur die dunklen Seiten des Syndroms offenbart. Immer mehr kämpferische Menschen stehen auf, trauen sich ihre Rechte zu benennen und einzufordern, erheben die Stimme und gehen an die Öffentlichkeit. Und wenn sie es geschafft haben, die Unterstützung zu erhalten, die ihnen zusteht, zeigt sich sofort, dass das Leben für Menschen mit fetalen Alkoholschäden einen ganz anderen, einen so positiven Verlauf nehmen kann. Es muss den Eltern, ihren Kindern, den erwachsenen Betroffenen lediglich die Chance darauf gewährt werden. Schließlich ist es eine Chance, die rechtlich verbrieft ist.

Ich danke von Herzen allen, die es mir möglich gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Die Offenheit und das Vertrauen, das mir dafür geschenkt wurde, haben mich sehr berührt. Viele Tränen sind bei den Gesprächen genossen. Vor Kummer, vor Sorge, vor Wut und Angst, aber auch vor Freude und, das ist besonders schön, vor lauter Lachen. Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind grundsätzlich sehr humorvolle, ausgestattet mit einer ganz anderen Logik im Kopf, die zu den lustigsten Anekdoten führt. Sie sind von rührender Naivität und einer großen Herzenswärme. Sie leben im Hier und Jetzt. Und das macht sie beneidenswert unbekümmert.

Herzlich Dagmar Elsen

FASD-Assistenzhunde – Therapeuten auf vier Pfoten

Kinder mit fetalen Alkoholschäden (FASD) leiden häufig sehr unter Reizüberflutung, sind hyperaktiv, haben Impulskontrollstörungen. Viele haben Probleme Nähe zuzulassen oder Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Wieder andere können Gefahren zum Beispiel im Straßenverkehr nicht erkennen. Genau wie bei Autismus können bei Kindern mit fetalen Alkoholschäden sogenannte FASD-Assisstenzhunde wahre Wunder bewirken – sind sie Therapeuten und Lebensretter auf vier Pfoten. Jesse Reimann, founder von happyhunde.de, hat sich der Thematik angenommen und einen Gastbeitrag dazu geschrieben:

Tiere öffnen das Herz und wirken auf angenehme Weise beruhigend und anregend zugleich. Im Therapiebereich schaffen Hunde und andere Tiere oft mit Leichtigkeit das, was menschliche Therapeuten und Ärzte nicht können.

Wie sie das tun, ist bis heute das große Geheimnis der Tiere. Therapiehunde unterstützen Menschen durch ihre reine Anwesenheit. Assistenzhunde sind hoch spezialisierte Helfer, die Behinderten oder erkrankten Menschen Alltags-Aufgaben erleichtern. FASD-Therapiehunde sind eine Mischung aus beiden Spezialisierungen.

1. Es ist immer jemand da

Viele Krankheiten, Behinderungen und Syndrome werden von Verlustängsten, Panik oder anderen Ängsten begleitet. Hunde sind nicht so leicht zu verunsichern, wie wir Menschen. Insbesondere Therapiehunde strahlen unendliche Ruhe und Gelassenheit aus.

Ein Therapiehund bietet auf diese Weise das gute Gefühl, immer eine zuverlässige und solide Persönlichkeit an der Seite zu haben.

2. Die Seele streicheln

Tiere bringen uns mit einer Ebene in Kontakt, die uns in unserer rationalen Welt nur zu häufig verloren gegangen ist.

Gerade bei Menschen mit sozialen oder psychischen Problemen, Behinderungen, Autismus, Nervenstörungen oder Anfallsleiden kann dieser spezielle Kontakt zur Natur und unserer Seele von unschätzbarem Wert sein.

3. Aktive Lebensretter und Therapeuten

Einige Therapie- und Assistenzhunde verfügen über ganz spezielle Fähigkeiten. FASD-Assistenzhunde können wahrnehmen, wenn Patienten in stereotype und schädigende Verhaltensweisen abdriften. Betroffene fetaler Alkoholschäden haben oft Schwierigkeiten mit der Reizverarbeitung. Die Überflutung mit Sinneseindrücken löst unterschiedlich starke Symptome aus. Der Hund erkennt das und unterbricht die Verhaltensweisen, indem er den Patienten anstupst oder ihm in beruhigender Weise den Kopf auf die Beine legt.

Leiden Betroffene an Epilepsie oder anderen Anfallsleiden, spüren die Hunde das schon lange vor dem eigentlichen Anfall. Sie warnen ihr Herrchen und Frauchen und diese können so rechtzeitig eine geschützte Position oder ggf. Medikamente einnehmen.

4. Assistenzhunde verbessern das Familienleben

Begleiten Hunde junge FASD-Patienten oder andere Kinder und Jugendliche mit Problemen, werden die Hunde von den Eltern oder Erziehungsberechtigten mitgeführt. Je nach Schwere der Krankheit oder Behinderung wäre der Betroffene alleine gar nicht dazu in der Lage.

Dadurch nimmt der Hund in Familien mit FASD oder anderen Problematiken eine zentrale Stellung ein. Die reine Anwesenheit, die treue Hilfe sowie das Bedürfnis des Tieres nach Struktur und Anleitung schweißt Familien zusammen.

5. Sicherheit im Alltag

Autisten oder FASD-Patienten nehmen die Umwelt oft ganz anders wahr. Dadurch können sich im Alltag gefährliche Situationen ergeben.

FASD- und andere hoch spezialisierte Assistenzhunde warnen vor Gefahren, helfen beim Überqueren von Straßen, reichen Gegenstände oder können Knöpfe drücken.

Dazu verleihen die Hunde ihren Menschen im Alltag mehr Sicherheit. Wer mit einem Hund unterwegs ist, läuft weniger Gefahr von unverschämten oder übergriffigen Personen angepöbelt oder beleidigt zu werden.

6. Verbesserung des Selbstbewusstseins

Man kann sich nur wundern, wenn man liest oder hört, dass Therapiehunde Komapatienten wecken und stumme Kinder plötzlich zum Sprechen bringen konnten. Doch diese Wunder gibt es immer wieder.

Fast jeder Patient, der einen Hund an die Seite bekommt, verbessert durch die Interaktion mit dem Tier ganz menschliche Eigenschaften wie die Sprache, die Selbstreflektion und die Selbstwahrnehmung. Vermutlich schaffen die Tiere dies durch ihre bedingungslose Liebe zu uns Menschen und ihre vorurteilsfreie Art.

Das Fazit

Hunde spenden nicht nur Liebe und aufmerksame Präsenz. Therapie- und Assistenzhunde können bei FASD, Autismus, Epilepsie, für Rollstuhlfahrer, Senioren oder allgemein unsichere Menschen unglaublich viel leisten. Wenn du in den Genuss eines solchen Hundes kommst, wird dein Alltag auf jeden Fall schöner und einfacher.

Weitere Infos auch unter www.assistenzhunde-Zentrum.de

Der Rollstuhl der Seele und des Gewissens ist nun mal unsichtbar!

Der am 12. Dezember losgetretenen Petition, dass das Fetale Alkoholsyndrom dringend bundesweit anerkannt und in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersmedV) als solche gelistet werden muss, haben sich mehrere Verbände und Vereine angeschlossen. So auch der Bundesverband behinderter Pflegekinder unter dem Vorsitz von Kerstin Held. Hierzu ihr deutlicher Kommentar:

“Ich finde es fast dramatisch, dass es wiederholt eine Petition braucht, um das Fetale Alkoholsyndrom (FASD) in die VersmedV) aufnehmen zu lassen. Es wirkt surreal, dass die Prävention zur Vermeidung von Schäden durch Alkohol im Landwirtschaftsministerium verortet sind. Zwar gibt es eine staatliche Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Kindes, aber beim Konsum von Alkohol scheint diese legale Droge eine größere Lobby zu haben.

Es gibt keine unbedenkliche Menge Alkohol für ein ungeborenes Kind! Oder würde jemand einem Säugling einen Schluck Wein in die Flasche füllen, weil das Bisschen Alkohol nicht schadet? Bereits geringe Mengen Alkohol können das ungeborene Kind schädigen. In manchen Fällen sind die Kinder von schwerer Behinderung betroffen. Hier ist die Diagnose nicht schwierig. Das sogenannte Vollbild bringt so viele Diagnosen mit, dass die Kinder entsprechende Anerkennungen und Zugänge zu Rehabilitation bekommen. Wenn gleich die Ursache dafür ein legales Nervengift ist.

Die meisten Kinder mit einer „einfachen“ hirnorganischen Schädigung im Prefrontalcortex (Frontstirnlappen des Gehirns), denn hier liegen die häufigsten „Einschüsse“ des toxischen Einflusses durch Alkohol, werden nicht richtig oder gar nicht diagnostiziert. Ihre Behinderung scheint unsichtbar und die Mütter geben aus Angst vor Stigmatisierung den Alkoholkonsum nicht zu. Dabei ist die Anerkennung dieser Behinderung in jeder Form elementar, um den Kindern so früh wie möglich die richtige Begleitung und Förderung zu ermöglichen.

Fehldiagnosen wie ADHS, atypischer Autismus und andere entlasten zwar unsere Gesellschaft und vor allen Dingen die Mütter aus der „Schuld“, helfen dem Kind aber häufig nicht genug. Ich gebe einem Querschnittgelähmten auch keinen Tretroller – Räder sind eben nicht gleich Räder! ES BRAUCHT SICHTBARKEIT UND ANERKENNUNG!

Ich stehe jeden Tag mit meinen Pflegekindern mit FASD vor denselben Herausforderungen. Jeden Tag vor denselben Konflikten und Erklärungen in unserer Gesellschaft. Meine Kinder haben wundervolle Wegbegleiter gefunden und ich Entlastung durch Fachkräfte. Nur so ist Familie möglich.

Eine Anerkennung als Behinderung und somit Zugänge zu Förderung und Hilfen zu schaffen ist das Mindeste, wenn es uns schon nicht gelingt, verantwortungsbewusst mit dieser legalen Droge umzugehen. So lange Alkoholwerbung sportlich, sinnlich, prickelnd, herb, feierlich ist und den Regenwald rettet, werden mehrere tausend Kinder jährlich allein in Deutschland mit dieser vermeidbaren lebenslangen Behinderung geboren.”

Der Petition von HAPPY BABY INTERANTIONAL e.V. angeschlossen haben sich der Bundesveband behinderter Pflegekinder, Pfad Niedersachsen Landesverband Pflege- und Adoptivkinder, das Aktionsbündnis FASD Adult, PAUL Niedersachsen, das FASD-Fachzentrum Hamburg, die ups – unabhängiger Selbsthilfegruppe Dortmund

Fetale Alkoholschäden müssen als Behinderung anerkannt und festgeschrieben werden

Wir brauchen Deine Stimme !

Happy Baby International e.V. hat eine PETITION gestartet – für eine bundesweite ANERKENNUNG, dass fetale Alkoholschäden als BEHINDERUNG gelten und dies in der VERSORGUNGSMEDIZIN-VERORDNUNG festgeschrieben wird.

In unserem Link “Petition” kannst Du unterschreiben.

Das Fetale Alkoholsyndrom ist wenig sichtbar. Es sind vor allem geistige Behinderungen, verursacht durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Die Kinder, die mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommen, haben ein Leben lang unter diesen Behinderungen zu leiden. 1,6 Millionen Menschen* sind in Deutschland davon betroffen. Jedes Jahr wieder kommen über 10.000 betroffenen Babys dazu. Trotzdem gilt das Fetale Alkoholsyndrom nicht als Behinderung.

WARUM DAS ABER DRINGEND NOTWENDIG IST

Ohne die Anerkennung als Behinderung fehlt es allerorten an Verständnis, dass die betroffenen Menschen Hilfe und Unterstützung brauchen. Kaum einer von ihnen ist in der Lage, ein Leben in Selbständigkeit zu führen.

Schon als kleine Kinder brauchen sie Therapien, später Kindergarten- und Schulbegleiter, im Erwachsenenleben Hilfe im täglichen Leben, Begleitung bei der Ausbildung oder der Arbeit, Unterstützung bei Behördengängen, beim Arbeitsamt und bei Verhandlungen mit der Krankenkasse.

Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind vor allem kognitiv sowie im sozial-emotionalen Verhalten extrem eingeschränkt. Ihre Aufnahmefähigkeit ist begrenzt, ebenso wie die Gedächtnisfähigkeit. Fast allen fehlt das Zeitgefühl und der Orientierungssinn. Viele leiden unter ständiger innerer Unruhe, schwerem Impulskontrollverlust, gefolgt von ekzessiven Wutanfällen, die ihre Angehörigen an den Rand der Belastbarkeit bringen.

Und so brauchen auch die Eltern, Adoptiv- und Pflegeeltern Hilfe und Unterstützung, ohne die sie auszubrennen drohen.

Das Fetale Alkoholsyndrom ist gesellschaftlich bisher nicht anerkannt, Fakt ist:

80% der Betroffenen landen unbeachtet am Rande der Gesellschaft – in der Obdachlosigkeit, in der Psychiatrie, dem Gefängnis oder im Drogen- und Prostitutionsmilieu, viele begehen Suizid**

*Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen

**World Health Organization

Ohne klare Regelung herrscht überall die Willkür

Stellungnahme zur Ablehnung der Petition zur Aufnahme der Kriterien der Fetalen Alkoholspektrum-Störung in die VersMedV

Nevim Krüger , Pfad Niedersachen e. V., Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien:

Die Begründung für die Ablehnung der Petition, dass nicht jede Krankheit namentlich genannt werden muss, damit ihre Defizite und Teilhabeeinschränkungen mit den vorhandenen Bedarfsermittlungsinstrumenten ausreichend erfasst werden können, verursacht genau das, was Betroffenen in der alltäglichen und gängigen Praxis in Behörden entgegenschlägt: ebenso mannigfaltige Fehldeutungen und -einschätzungen wie es mannigfaltige Auswirkungen und Komorbiditäten von FASD gibt.

Ohne eine für alle verbindliche Definition dieser Störung werden sie in ihrer Fülle nicht als eine direkte Folge der strukturellen Hirnschädigung und des dysfunktionalen ZNS gesehen, die dieser Behinderung zugrunde liegen. Besonders hervorzuheben sind hier die fehlenden bzw. stark eingeschränkten sogenannten Exekutivfunktionen, die sich nur mit dem Wissen um die typischen Merkmale von FASD richtig einschätzen lassen. Alle anderen Deutungen führen zu größtenteils falschen, lückenhaften oder uneffektiven Maßnahmen und überfordernden Zielvereinbarungen. Diese belasten nicht nur Betroffene wie Angehörige zusätzlich, sondern auch die Ressourcen der helfenden Systeme verschwenden.

Viele der Folgen von FASD können durch eine annehmende, wissende und eine der Behinderung angemessene Unterstützung abgemildert werden. Leider führt das immer wieder dazu, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit FASD, denen dieses Glück zuteil wird, dann allerdings die Behinderung abgesprochen bzw. der Grad einer Behinderung zu gering eingeschätzt wird. Ein junger Erwachsener, der eine gute und stark unterstützende Anbindung an sein Elternhaus (Pflege- oder Adoptivfamilien/Bezugsperson) hat, erscheint nicht unbedingt hilflos. Fällt dieses tragende Gerüst auch nur kurz weg, wird die Hilflosigkeit sofort erlebbar. Sie führt relativ schnell zu zahlreichen Problemen bei der alltäglichen Lebensbewältigung, bis hin zum kompletten sozialen Absturz. Die relative Stabilität unter oft sehr aufwändiger familiärer Unterstützung ist also trügerisch.

FASD braucht unbedingt eine grundsätzliche Anerkennung als Behinderung aus folgenden Gründen:

  • Die Behinderung, die 1.000 Gesichter hat, und meist nur mit ein bis zwei Hauptsymptome als Spitze des Eisberges gesehen wird, muss behandelt und anerkannt werden.
  • Auch die Diagnosen pFASD und ARND müssen dringend als Behinderung mit einem Grad von mindestens 50 anerkannt und verankert werden, da gerade diese Menschen aufgrund der fehlenden äußerlichen Merkmale viel zu oft durchs Raster fallen. Außerdem drohen ihnen sowie den Bezugspersonen häufig Überforderungen und Fehldeutungen mit teilweise katastrophalen Folgen (Herausnahme der Kinder aus Familien, Einstellung der Hilfen usw., Fehldiagnosen besonders im psychiatrischen Bereich).
  • Wenn es eine grundsätzliche Anerkennung von FASD als Behinderung gibt, entfällt eine der größten Hürden in der Genehmigung und Gewährung von den so dringend nötigen Hilfen. Es würde somit auch eine konkrete Notwendigkeit des Wissens und der Fortbildung/Qualifizierung zu diesem Syndrom entstehen. Die müßigen Antrags- und Widerspruchsverfahren, mit wiederum katastrophalen Folgen, sollten diese negativ entschieden werden, würde es nicht mehr geben. Die von FASD betroffenen Menschen würden einen selbstverständlichen Zugang zu Hilfen zur Teilhabe erhalten. Das hätte positiv zur Folge, dass weder sie selbst noch ihr Bezugssystem einer Abhängigkeit von Wissensständen und der daraus resultierenden Willkür einzelner Sachbearbeiter in den Versorgungsämtern unterlägen.
  • Unserer Auffassung nach ist es geradezu unwürdig für Menschen mit FASD, immer wieder beweisen zu müssen, dass sie durch den vorgeburtlichen Alkoholkonsum eine Behinderung erlangt haben.
  • Allein die ewigen Kämpfe und Erklärungen behindern die Menschen noch zusätzlich und verursachen weitere Schäden der meistens sehr fragilen psychischen Gesundheit.

Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzende des Landesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien erlebe ich seit Jahren täglich die Auswirkungen, die die Fehldeutung und die fehlende Akzeptanz der Behinderung von FASD auf die Betroffenen und deren Bezugspersonen haben. Der ohnehin schon schwer zu gestaltendem Alltag wird somit nur noch mehr belastet; Hilfen sind nie sicher und immer hängt die latente Ablehnung oder Fehleinschätzung als Damoklesschwert über den Betroffenen und ihren Angehörigen.

Die Menschen mit FASD brauchen Akzeptanz, Kontinuität und ein wissendes Umfeld, um ein würdiges Leben führen zu können. Die fehlenden bzw. stark eingeschränkten Exekutivfunktionen und die große Hilflosigkeit, wenn sie allein auf sich gestellt sind/wären, müssen durch eindeutige Definition eine für alle verbindliche Anerkennung erhalten.

Wir fordern die Verankerung von FASD in der VersMedV.