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Die Schule – ein elender Kampf

Ich bin so froh, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Die letzten Jahre in der Schule habe ich gehasst. Es war ein einziger, elender Kampf, den ich nicht gewonnen habe. Lange hatte ich geglaubt, dass ich schaffe, was ich mir vorgenommen hatte – einen qualifizierten Abschluss mit Englisch zu machen.
An Ehrgeiz hat es mir nicht gefehlt. Als ich das Abschlusszeugnis der zweisprachigen Montessori-Grundschule in den Händen hielt, war ich noch guter Dinge. Ich hatte ganz ordentliche Noten, sprach fließend Englisch, las sogar lieber englische als deutsche Bücher. Nur beim Schreiben hatte ich Probleme, aber das war im Deutschen genauso.

Tja, dann kam ich nach der Grundschule auf eine öffentliche weiterführende Schule in die Förderstufe. Und das Unglück nahm seinen Lauf. Nicht nur, dass all das Neue, die vielen Schüler, die fremden Lehrer, die vollkommen andere Art des Unterrichts, mich extrem stressten. Hier sollte ich plötzlich alles eigenständig machen. Sie sagten immer, jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Jetzt ticken die Uhren anders. Damit konnte ich gar nichts anfangen.
Ich brauche jemand, der mich ermuntert, auffordert, mir hilft, mir erklärt, mir Hinweise gibt. Auf mich allein gestellt war ich komplett überfordert und hatte bald überhaupt keine Motivation mehr.

Ich konnte gar nicht mehr anders als wütend, aggressiv und frech zu sein. Ich konnte nichts dagegen machen. Das ging wie von selbst. Ich konnte mich selbst nicht stoppen.
Zuhause bettelte ich immer wieder, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Es gab unentwegt Gespräche – ich mit den Lehrern, meine Eltern mit den Lehrern, ich mit den Sozialarbeitern, meine Eltern mit den Sozialarbeitern.

Schließlich stand fest: Ich sollte eine besondere Unterstützung bekommen – andere Bücher als die anderen in der Klasse und eine besondere Lehrerin. Mit noch anderen Kindern bildeten wir eine kleine Gruppe zum Lernen und Arbeiten und schrieben kürzere und weniger schwierige Klassenarbeiten. Inklusionsprogramm nannte sich das. Die besondere Unterstützung gab es allerdings nur in den Hauptfächern. Ansonsten wurde ich wie alle anderen behandelt. Und immer wieder die Argumentation, wenn ich nicht konnte wie ich sollte: So sind eben die Anforderungen. Wir haben hier noch 22 andere Kinder. Irgendwann wird er es schon lernen. Er muss nur wollen.

Verdammt nochmal, ich wollte doch. Ich war doch nicht absichtlich unkonzentriert. Ich verstand doch nicht absichtlich nicht, was die Lehrer von mir wollten. Ich verlor doch nicht absichtlich ständig irgendwelche Schulsachen. Ich vergaß doch nicht absichtlich, was ich machen sollte. Ich brachte doch nicht absichtlich alles durcheinander.

Absichtlich war ich nur dann böse, wenn ich unter Druck geriet, wenn ich etwas nicht konnte, was von mir verlangt wurde, wenn ich ausgelacht wurde, wenn ich wieder alles vergessen hatte, wenn ich auch nach der dritten Erklärung immer noch nicht verstand, wenn ich mich schämte.
Ich war verzweifelt. Ich schwänzte immer wieder die Schule, suchte meinen Frust zu betäuben und drohte zunehmend auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Schulleitung glaubte, ich hätte kriminelle Tendenzen. Sie wollten mich der Schule verweisen. Meine Eltern waren fassungslos. Das, was da alles mit mir passierte, passte nicht zu ihrem liebevollen, fröhlichen und neugierigen Luca der vergangenen Jahre.

Mama erzählt immer wieder gerne die Geschichte, dass sie der Landesschulbehörde gedroht hat, dass sie sich so lange auf die Eingangstreppen des Verwaltungsgebäudes setzt, bis sie zustimmen, ihren Sohn in eine Förderschule schicken zu können. Das wollten die nämlich auf keinen Fall. Die sagten, dass es politisch gewollt sei, dass möglichst alle Kinder Inklusion bekommen und es Förderschulen irgendwann nicht mehr geben soll.
Um es abzukürzen: Mama saß nicht lange auf der Treppe.

Ich ging dann in die Förderschule und war zunächst tatsächlich froh. In manchem war ich sogar besser als die anderen hier und das war ein gutes Gefühl. Vor allem in Englisch konnte ich glänzen. Das aber nur am Anfang. Weil ich alles wusste. Das wurde langweilig. Und wie. Die lernten Zahlen und Farben und Einkaufen gehen, Kleidungsstücke und solche Sachen. Und die Lehrerin sprach nur Deutsch. Ich rebellierte. Dabei traf ich nicht den richtigen Ton. Ich konnte das selbst nicht stoppen. Die Lehrerin wollte mich nicht mehr unterrichten. Im folgenden Schuljahr hatte ich eine andere Lehrerin. Aber auch die unterrichtete Englisch auf Deutsch und so verlernte ich das Sprechen. Wenigstens das fließende Verstehen auf Englisch ist mir geblieben, weil ich viel englische Musik höre, englische Videos und auch Filme schaue.

Gut für mich war, dass die Klasse in der Förderschule sehr klein war. Und es beruhigte mich, dass die anderen auch alle ihre Probleme hatten. Alle brauchten Unterstützung und besondere Förderung.
Aber dann, dann wurde es immer schlimmer mit dem Vergessen.
Die Ärzte erklärten, dass ich jetzt leider wegen der Pubertät eine schlimme Phase mit dem Gedächtnis habe. Das Gehirn sei sozusagen im Umbau, wie eine Baustelle. Für Jugendliche mit FAS wirkt sich das noch schlimmer aus. Ich hatte immer größere Mühe mir Sachen zu merken, die ich lernen sollte. Hatte ich es dann drauf, sollte es am nächsten Tag wiedergeben, war es weg. Manchmal war es auch wieder da. Dann bekam ich gesagt, na also, geht doch, wenn Du es nur willst.
Das regt mich auf. Das hat doch nichts mit Wollen zu tun bei mir. Ich kann mein Wissen einfach nicht abrufen, wenn ich es möchte. Deshalb macht es mir keinen Spaß, theoretische Sachen zu lernen. In der Schule fiel das eben auch am meisten auf. Dann schämte ich mich, wurde wütend und oft aggressiv.

Die Abschlussfeier von der Schule war ein echter Freudentag für mich. Endlich vorbei. Nie wieder Schule. Jedenfalls so schnell nicht. Ich freute mich riesig, dass ich künftig arbeiten gehen würde. Das hatte ich schon bei den verschiedensten Schulpraktika gemerkt, dass das besser für mich war, wenn ich etwas Handwerkliches oder Pflegendes machen durfte.

Schmerzhafter Abschied von Zuhause

Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre ich zu Hause wohnen geblieben. Es war schwer, Abschied von meinem Zuhause zu nehmen. Nur noch an den Wochenenden zu Hause sein zu können und das noch nicht einmal an jedem, und auch nur einen Teil der Ferien bei meiner Familie und unseren Hunden sein? Statt dessen mit fremden Jugendlichen und Betreuern in einer Wohngemeinschaft leben? Nein, das wollte ich auf gar keinen Fall. So sehr ich mich dagegen sträubte, es half nichts.

Mein Arzt in der Klinik und alle anderen Betreuer dort hatten mir schon gesagt, dass es eine schmerzhafte Entscheidung für mich sein würde, aber definitiv das Beste. Ich hatte schon viel gelernt in der Klinik über mich und FAS und was es für mein Leben bedeutet. Genau deshalb war auch klar, dass ich in den kommenden Jahren noch sehr intensive Betreuung und Unterstützung rund um die Uhr brauchen würde.
Ich würde noch sehr viel lernen müssen, sehr viele alltägliche Dinge wie zum Beispiel morgens austehen und mich fertig machen, dass ich den Bus in die Schule nicht verpasse, dass ich mir etwas zu essen machen kann, dass ich nicht vergesse zu duschen, dass ich daran denke, regelmäßig die Tabletten zu nehmen. Sehr sehr wichtig ist auch, dass ich lerne mich abzugrenzen, mich nicht verführen lasse zu dummen Schandtaten, oder dazu die Schule zu schwänzen. Nein zu sagen fällt mir unglaublich schwer.

Orientierung ist für mich auch ein Riesenthema. Das lerne ich nur sehr langsam. Oje, und mit Geld umzugehen.
Naja, und es war auch klar, dass nach dem Aufenthalt in der Klinik nicht alles gleich rund laufen würde. Ich weiß ja selbst, dass ich teilweise unberechenbar bin, auch wenn das kein Vergleich mehr ist zu früher. Seit meiner Zeit in der Klinik bekomme ich Medikamente. Die tun mir gut. Ich merke das selbst an mir.
Ich kann mich besser kontrollieren, bin konzentrierter, bin nicht mehr daueraufgeregt, fühle mich nicht ständig im Ausnahmezustand. Ich bekomme auch nur noch Wutanfälle, wenn etwas ganz besonders schlimm für mich ist, wenn ich großem Stress ausgesetzt bin oder wenn ich mich überfordert fühle. Das geschieht schnell, weil die wenigsten Menschen wissen, mit was allem ich überfordert bin. Ich kann das fremden Menschen gegenüber nicht aussprechen, was es ist.

Ich habe schon eingesehen, dass ich zu Hause bei meiner Familie die für mich notwendige Betreuung und Unterstützung nicht bekommen könnte. Ein bisschen geholfen, die Entscheidung zu akzeptieren hat mir die Tatsache, dass ich auf eine andere Schule gehen konnte. In der alten, das war ja durch die Hetzjagd auf mich verbrannte Erde. Von all den Leuten dort wollte ich bis auf ein Mädchen niemand mehr wiedersehen. Trotzdem, ich war todunglücklich. Ich fühlte mich abgeschoben, auch wenn das nicht stimmt.

Geholfen hat mir, dass meine Mama ganz viel für mich da war. In den ersten Monaten haben wir uns auch jedes Wochenende gesehen. Sie war und ist immer für mich ansprechbar. Wir telefonieren täglich, das immer noch. Ich brauche das. Bis heute kommt sie zu Gesprächen in die WG, zu Gesprächen mit den Lehrern, fährt mit mir zu wichtigen Arzt- und Behördenterminen. Wenn ich in Not bin, kommt sie immer. Ich kann mich auf sie verlassen und ich kann alle wichtigen Dinge mit ihr besprechen. Das ist ein gutes Gefühl. Und sie hat fast immer die Hunde dabei. Die tun mir so gut.

Inzwischen habe ich ja auch Freunde dort, wo ich seitdem lebe. Inzwischen passiert es sogar manchmal, dass ich überlege, ob ich nach Hause fahre, oder ob ich lieber in der WG bleibe. Ich habe mich auch schon mal gegen einer Fahrt nach Hause entschieden. Meine Mama sagt, dass sei völlig in Ordnung und normal.
Aber es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis ich mich so gut gefühlt habe wie jetzt. Anfangs habe ich mich nur zurückgezogen. Nach der Schule bin ich sofort auf mein Zimmer und bin dort den ganzen Tag geblieben. Mit den Betreuern habe ich nur das Notwendigste geredet. Selbst mein Intensivbetreuer hat seine liebe Mühe gehabt an mich heranzukommen und mit mir klarzukommen. Der hat ganz schön viel mit meiner Mama telefoniert. FAS zu begreifen, das ist ganz ganz schwer. Das muss man lernen – als Betroffener und alle die, die mit einem zu tun haben.

Je älter Luca wurde, desto schwieriger gestaltete sich der Schulaufenthalt für ihn. Er ging in die Förderschule mit dem Ziel, einen qualifizierten Hauptschulabschluss zu machen. Zunächst war er noch zuversichtlich. Das sollte sich aber sukzessive ändern. Wie es Luca erging, erzählt er im nächsten Blog-Beitrag.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS-Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten

Die Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms ist selbst für Experten in vielen Fällen eine medizinische Herausforderung. Das liegt daran, dass die Diagnose sich nur vordergründig als einfach darstellt, etwa wenn das Kind körperliche Schädigungen aufweist – beispielsweise einen verminderten Kopfumfang, ein stark abgeflachtes Mittelgesicht, schmale Oberlippe oder Lidspalten, ein deformierter kleiner Finger, oder auch nach hinten gedrehte Ohren. Derlei körperliche Beeinträchtigungen müssen aber nicht zwingend im Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) begründet liegen. Sie können durchaus auf andere Ursachen zurückzuführen sein.

Insofern muss eine Diagnose zunächst einmal mit der Frage beginnen: Hat die biologische Mutter während der Schwangerschaft, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Dimensionen Alkohol getrunken? Dies im Nachhinein herauszufinden ist beim Großteil der Fälle schon allein deshalb nicht möglich, weil FAS-Kinder in den meisten Fällen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.
Und selbst wenn der Alkoholkonsum der Mutter bekannt sein sollte, ist eine gesicherte Diagnose dennoch schwierig. Hierzu bedarf es nicht nur einer eingehenden körperlichen Untersuchung, sondern zahlreicher Tests der Intelligenz, des Gedächtnisvermögens, der Konzentrationsfähigkeit.

Eine weitere, ganz wichtige Rolle bei der Diagnose spielen all diejenigen, die mit dem Kind leben, es großziehen. Das sind im wesentlichen die leiblichen, Pflege- oder Adoptiveltern, Verwandte, Erzieher in Kindergärten sowie Lehrer in Schulen und Sportvereinen. All ihre zusammengetragenen Erfahrungen über das Kind und ihre Beobachtungen sind hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeiten und damit der Diagnosestellung von immanenter Bedeutung. Es kostet also erheblich Zeit, die Diagnose stellen zu können.

Zur Erleichterung der Diagnose wurde 2013 die sogenannte S3-Leitlinie erstellt. Sie hat die einheitlich und wissenschaftlich basierten Kriterien gelistet. Erarbeitet wurde die Leitlinie von einer Kommission von Fachleuten der Kinderheilkunde, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Hebammen, Vorsitzenden von Fachgesellschaften und Elterninitiativen. Die Dokumentation wurde von Dr. Mirjam Landgraf und Professer Dr. Florian Heinen übernommen, unterstützt von der Bundesregierung.

Jenseits der Diagnostik körperlich eindeutiger Symptome – können Eltern von Babys oder Kleinkindern Beobachtungskriterien an die Hand gegeben werden, wie sie FAS am ehesten ausmachen?
Dr. Murafi:
Natürlich zeigen sich schon ganz früh Verhaltensauffälligkeiten. So kann die Reagibilität, das heißt die Reaktionsfähigkeit, wie das Kind mit äußerlichen Reizen umgeht, erhöht sein. Das bedeutet einerseits, dass sie leicht irritabel sind, zu vermehrtem Schreien neigen, das kaum stillbar erscheint. Auch Schlaf kann nicht regelmäßig stattfinden. Außerdem kommt es zu Fütterungsstörungen. Andererseits kann es dazu kommen, dass die Kinder eher schlapp wirken, wenig agil sind. Sie zeigen wenig Spontanmotorik, wenig Mimik, wenig Blickkontakt oder Resonanz.
Oftmals kommen Infekte dazu, fallen Hör- und Sehstörungen auf. Die motorische Entwicklungsverzögerung geht mit muskulärer Spannungsschwäche einher. So zeigt sich in der Folge eine Diskrepanz zwischen allgemeiner notorischer Unruhe und reduzierter, gezielter Fortbewegung der kleinen Kinder.

Was macht die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern so schwierig? Bei welchen Krankheitsbildern besteht die größte Verwechselungsgefahr?
Dr. Murafi:
Grundsätzlich muss man voranstellen, dass es sich bei dem Fetalen Alkoholsyndrom eben um ein Syndrom handelt, also um die Kombination unterschiedlicher Symptome zu einem immer wieder gemeinsam auftretenden Muster.
Diese Einzelsyndrome können natürlich auch im Rahmen anderer Syndrome, anderer unspezifischer Entwicklungen oder anderer Normvarianten auftreten. Das heißt, die Kriterien von Syndromen sind nur dann erfüllt, wenn eine bestimmte Anzahl der häufig vorkommenden Symtome gleichzeitig zusammentrifft.
Insofern kann es aufgrund der fehlenden Spezifität der Symptome schwierig sein, eine exakte Diagnose zu stellen.
Ganz am Anfang, direkt nach der Geburt, kann auch einmal eine Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) als Verwechselung mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auftreten. Diese geht ebenfalls mit Kleinwuchs und Gesichtsdysmorphien sowie schwerer psychomotorischer Entwicklungshemmung einher. Im Verlauf des ersten Lebensjahres ist eine Unterscheidung aufgrund der für Trisomie 18 schlechten Prognosen jedoch relativ eindeutig möglich.

Prinzipiell lässt sich aber sagen: Bei Zusammentreffen einer positiven Sozialanamnese für Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und den beschriebenen syndromtypischen Symptomen sollte heutzutage eine Diagnose relativ gut zu stellen sein.

Ist die Diagnose FAS oder FASD gestellt, welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Welcher Bedeutung kommt der medikamentösen Behandlung zu?
Dr. Murafi:
Die Therapie ist zumeist symptomatisch ausgerichtet, das heißt, dass je nach den körperlichen Beeinträchtigungen am Anfang operative Korrekturen zum Beispiel von Gaumenspalten, Herzfehlern, Hernien (Durchbruch von Baucheingeweiden) oder Korrekturen von Seh- und Hörstörungen im Vordergrund stehen.
Jegliche Förderung des jeweils behinderten Organsystems, zum Beispiel die motorische, die ergotherapeutische Förderung, etc. kann hilfreich sein.

Bezogen auf die Medikation kann sowohl die mitauftretende Hyperaktivität oder Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörung behandelt werden. Im späteren Verlauf gilt das auch für Affekt- und Impulskontrollstörungen, teilweise ebenso bei depressiven Entwicklungen oder vermehrten Stimmungsschwankungen.

Desweiteren ist auf die Komorbiditäten – zusätzliche Grunderkrankungen – zu achten. Nicht selten ist es so, dass Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom erleben mussten, dass ihre Mütter auch mit einer genetischen Disposition für psychiatrische Erkrankungen belastet sind – beispielsweise einer Depression oder einer bipolaren Störung, einer manisch-depressiven Erkrankung. Hier kann es im Rahmen der Krankheitsentwicklung auch nach der Schwangerschaft zu übermäßigem Alkoholkonsum der Mutter kommen.
Dann bedarf es der dringenden differentialdiagnostischen Einschätzung sowie der möglichen spezifischen Behandlung der komorbid vorhandenen Erkrankung.

Autorin: Dagmar Elsen

Chaos im Kopf bis Mama die Reißleine zog

Meine schöne Kindheit lag gefühlt so weit hinter mir. Ich kam mir eine Ewigkeit einsam und verlassen vor. Ich war froh unsere Hunde zu haben. Mit ihnen fühlte ich mich gut, ich konnte mit ihnen reden, ihnen meine Gedanken anvertrauen, sie hielten immer zu mir.

Eines Tages, als ich mal wieder die Schule schwänzte, gab es da auf einmal Jugendliche, denen war es egal wie ich war. Die sagten, “komm‘ doch mit” – die streiften durch die Gegend, rauchten, kifften, haben Getränkeautomaten kaputt getreten, im Kiosk Kaugummis geklaut, andere provoziert und sich mit denen geprügelt. Klar hab‘ ich da mitgemacht. Das konnte ich auch. Und endlich hatte ich wieder Freunde.

Angst? Ich hatte keine Angst. Vor was auch? Ich fand mich cool. Ich fand es sogar geil, aggressiv zu sein, ich habe ja nicht gewusst, dass das FAS ist. Heute weiß ich, dass mein Hirn diese Gefühle in mir ausgelöst haben. Ich hatte auch Null Gefühl für Zeit und Raum. Ja, wirklich, ich sehe Zeit nur bildlich, zum Beispiel wenn die Eieruhr läuft. Orientierung habe ich auch keine. Wenn ich den Weg nicht kenne, bin ich verloren. Naja, und Gedanken über Konsequenzen, was ich da alles anstellte, machte ich mir nicht. So weit habe ich da gar nicht gedacht. Oft war ich wie im Rausch unterwegs. Es war irgendwie nichts so richtig greifbar für mich. Ich bekam Ärger und Probleme ohne Ende.

Dann hat Mama die Reißleine gezogen. Ich kam auf einer Förderschule. Wieder war alles neu, alles anders. Aber wenigstens klein. Es wurde ruhiger. Aber nicht lange. Dann passierte etwas, was mich bis heute in Panik versetzt.

Mein damaliger Freund, zumindest dachte ich, es sei mein Freund, überredete mich, ein Mädchen klar zu machen. So hieß das. Eigentlich wollte er sie klar machen. Sie wollte aber nur mit ihm, wenn ich auch Sex mit ihr hätte. Das stimmte, das wusste ich von ihr. Sie war schon länger verknallt in mich. Ich aber wollte das eigentlich nicht. Es fühlte sich falsch an. Ich habe es trotzdem getan, weil mein Freund mich so sehr bedrängt hat. Er hat nicht aufgehört mich zu bedrängen. Ich war nicht in der Lage mich zu wehren, nein zu sagen.

Also haben wir es getan. Es ging ganz schnell. Es war scheußlich.

Ein paar Tage später, ich war mit Freunden unterwegs, rief meine Mama mich an. Die Kripo sei bei uns. Ich solle mit einem Mädchen gegen ihren Willen geschlafen haben.

Ich bin sofort nach Hause. Ich war außer mir. Es stimmte ja nicht. Aber so, wie es die Polizei behauptete, klang es ganz anders. Die machten Hausdurchsuchung. Die glaubten mir kein bisschen, die waren knallhart. Ich hatte so Mühe, die Geschichte gut wiederzugeben. Ich war total gestresst. Ich fühlte mich wie im falschen Film. Ich war verzweifelt, wütend, todunglücklich. Meine Mama auch.

Und alle haben dem Mädchen geglaubt und nicht mir. Von Mitschülern und allen möglichen anderen Leuten, das hat sich ja rumgesprochen wie ein Lauffeuer, wurde ich als Vergewaltiger beschimpft. Die haben mich gemobbt und verprügelt. Ich habe mich keine Sekunde mehr vor die Tür getraut.

Einige Tage später bekamen wir mitgeteilt, dass das Mädchen zugegeben habe, dass es von vorne bis hinten gelogen hatte und jetzt eine Anzeige bekäme wegen Vortäuschens einer Straftat. Da war ich schon längst in einer Klinik. Meine Mama hat mich ganz schnell aus dem Verkehr gezogen. Sie hatte es schon länger geahnt, aber jetzt war ihr endgültig klar geworden: Mit mir stimmt etwas nicht.

In der Klinik haben sie aber nichts besonderes feststellen können. Sie sagten, dass das alles mit meiner Vorgeschichte, meinen schrecklichen Erlebnissen und der Adoption zu tun habe. Mama hat nicht locker gelassen. Sie brachte mich in eine andere Klinik, weit weg in Münster. Seitdem weiß ich, dass ich FAS habe. Ich weiß auch noch genau, wie Mama mir erklärt hat, was genau FAS ist. Als sie gesagt hat, dass man es nicht heilen kann, war ich sehr wütend und traurig zugleich.

Drei Monate musste ich in der Klinik bleiben. Ich bekam Medikamente und ganz viele verschiedene Therapien, alleine und in der Gruppe. In der Kunsttherapie zum Beispiel haben wir Sachen gemacht, um unsere Gefühle auszudrücken. Bewegung war täglich mehrfach angesagt: Spazieren gehen alleine mit Betreuer oder in der Gruppe, joggen, Sporthalle, ja und reiten. Erst wollte ich nicht, aber dann fand ich es doch schön. Ach, und der Klinikhund. Den habe ich leider zu wenig bei mir haben können. Besonders gut gefallen und gut getan haben mir die Einzelgespräche mit den Ärzten. Während dieser Gespräche habe ich viel gelernt über mich und wie ich mit mir umgehen muss. Es klappt aber leider nicht immer, auch wenn ich mir Mühe gebe. Vieles realisiere ich gar nicht. Ich habe keinen Raum dafür in meinem Kopf. Ich kann es wirklich nicht, auch wenn ich mir Mühe gebe. Deshalb läuft in meinem Leben immer wieder so einiges schief. Es ist aber kein Vergleich zu früher. Darüber bin ich sehr froh.

Im nächsten Blog erzählt Luca, wie schwer die Entscheidung war von zu Hause wegzugehen, um fortan in einer betreuten Wohngruppe zu leben, und wie mühsam es war, sich in seinem neuen Leben zurecht zu finden. 

Autorin: Dagmar Elsen

Was legt den Verdacht auf FAS nahe?

Ist bekannt, dass die Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind vom FAS betroffen ist, sehr sehr groß. Egal, ob das Kind auffällige oder eher verdeckte Symptome aufweist – es sollte sofort eine umfassende Untersuchung in einem FAS-Fachzentrum gemacht werden. Wichtig ist, dass Spezialisten diese Arbeit tun. Die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern ist häufig ausnehmend schwierig.

Am einfachsten zu erkennen sind körperliche Beeinträchtigungen. Ist das Kind beispielsweise auffällig klein und leicht, hat es eine schmale Oberlippe, fehlt die Lidspalte, ist der kleine Finger verkürzt, fehlt das Philtrum (die Rinne zwischen Nase und Oberlippe), ist der Kopfumfang vermindert, ist der mittlere Teil des Gesichtes abgeflacht? Liegen Herzfehler, Fehlbildungen an den Ohren, Störungen der Nierenfunktion vor? Hat es grobe motorische Defizite? Sind epileptische Anfälle zu beobachten?
Schwierig wird es, wenn keine optischen oder organischen Schäden zu verzeichnen, aber Verhaltensstörungen zu beobachten sind, die Intelligenz vermindert ist, oder neurologische Schäden auftreten. Je nachdem, um was es sich handelt, kann, muss dies nicht, bereits im Kleinkindalter auffallen.
In der Regel der Fälle ist unbekannt, ob die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, weil es sich um Pflege- oder Adoptivkinder handelt. Diese Kinder haben per se mit Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten zu kämpfen. In welchem Maße ist davon abhängig, mit welchem Alter sie in ihre neue Familie gekommen sind und welche traumatisierenden Erlebnisse sie hatten.

Zu guter letzt spielt auch der Umstand eine Rolle, ob es sich um eine Auslandsadoption mit den damit einhergehenden kulturellen Unterschieden handelt. In den genannten Zusammenhängen können die daraus resultierenden Auffälligkeiten deckungsgleich zu FAS sein. Es ist deshalb wichtig, die Kinder genauestens zu beobachten, in welcher Form sich Symptome äußern, in welcher Intensität und welchem Kontext sie zu weiteren Verhaltensmustern oder Begebenheiten stehen.

Bei den Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten gibt es vielfältige Symptome. Welche sind für FAS am typischsten, welche kommen am häufigsten vor und welche sind am augenscheinlichsten?

Dr. Murafi: Kinder mit FAS haben fast in allen grundlegenden Bereichen der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung mit Defiziten zu kämpfen. Häufig sind die Wahrnehmung von Räumlichkeit und geometrischen Formen eingeschränkt, ebenso die Wort- und Figurenerkennung. Betroffen sind oftmals auch die sensorischen und akustischen Wahrnehmungen. Dabei entsteht für gewöhnlich das Paradoxon, dass die Kinder zwar sehr laut sind und dafür selbst kein gutes Gespür haben, sich aber hinsichtlich fremder Geräusche als sensibel und irritabel erweisen.

Hinsichtlich der Sprachentwicklung sind Verzögerungen zu beobachten. Im weiteren Verlauf kann sich aber durchaus ein gewisses sprachliches Geschick ausbilden mit guter Wortgewandtheit, teilweise auch einem vermehrten Rededrang. Das führt dazu, dass die Kinder zumeist in kognitiven Anforderungen leistungsstärker erscheinen als sie es tatsächlich sind.

Letztendlich haben FAS-Kinder eine Konstellation mit kombinierten Teilleistungsstörungen in unterschiedlichsten Bereichen. In der Endstrecke wirkt es so, als wenn die Intelligenz basal vermindert sei. Da die Kinder aber kombiniert über eine sogenannte Bauernschläue verfügen, hat das zur Folge, dass die Kinder ein Gespür für kognitive Defizite empfinden. Daraus entwickelt sich eine Scham, dass dies demaskiert werden könnte.

Gerade bei FAS-Kindern, die in Adoptiv- und Pflegekonstellationen sozialisiert werden, kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem ersten Erscheinungsbild und den tatsächlichen Leistungsfähigkeiten, zum Beispiel im schulischen Kontext. Deshalb fallen die Defizite und Störungen oft nicht schon im Kleinkindalter auf, sondern erst in der Grundschule. Logisches Denken oder das Lösen komplexer Aufgaben mit auch höheren Bedarfen an Ausdauer und Konzentration können nun nicht mehr kaschiert werden. Abstrakte Aufgaben, Regeln und Sinnzusammenhänge werden nur schlecht  wahrgenommen und verarbeitet.

Auffällig ist ebenso, dass FAS-Kinder dazu neigen, Erlebtes auch emotionalisiert zu erzählen bis hin zu einem gewissen Sensationsseeking, also mit gewisser Abenteuerneugier einhergehend. Hierbei verstricken sie sich in Widersprüche oder stellen die Geschichten ergänzend mit Fantasien dar. Das besondere an diesen Kindern ist, dass sie dies selten mit böser Absicht tun, sondern die eigene emotionale Überwältigung des Geschehenen, von dem berichtet wird, eine Rolle spielt und sich im Ausdruck niederschlägt. In diesem Kontext zeigt sich auch, dass das nach der Konfrontation dargestellte Reueverhalten durchaus authentisch wirkt. Man ist geneigt, den Kindern vieles zu verzeihen. Die Nachhaltigkeit der darauf folgenden Verhaltensänderung ist letztlich aber doch gering, so dass die Kinder immer wieder mit ähnlichen Verhaltensweisen auffallen.

Teilweise zeigt sich bei FAS-Kindern eine reduzierte Merkfähigkeit. Auch die Verinnerlichung von Arbeitsabläufen und Arbeitsschritten sowie strukturiertem Vorgehen fällt sehr schwer. Manchmal scheint es so, als ob die Kinder Gelerntes schon am nächsten Tag wieder vergessen haben und neu lernen müssen. Daher sind sie auf intensive Strukturhilfen (zum Beispiel Lernkarten, Lernpläne, etc.) angewiesen.

Stichwort Konzentrationsfähigkeit: Diese ist bei FAS-Kindern in aller Regel äußerst reduziert. So lassen sie sich leicht von allen möglichen Dingen ablenken, Aufgabe und Spiele, die etwas mehr Geduld erfordern, werden gerne abgebrochen, da auch die Frustrationstoleranz gering ist. Deshalb fällt es den Kindern schwer, Verabredungen einzuhalten, oder auch Aufträge, die sie zunächst motiviert annehmen, bis zum Ende auszuführen.

Von hoher Bedeutung sind bei Kindern mit dem Fetalen Alkoholsyndrom die sozialen und emotionalen Beeinträchtigungen, so zum Beispiel die sich abbildende Hyperaktivität in sozialen Kontexten. Das hat zur Folge, das die Kinder sehr unruhig, nervös, teilweise undiszipliniert und schwer zu kontrollieren sind. Wie schon beschrieben ist die Frustrationsschwelle grundsätzlich eher gering. Emotionen können daher nur schwer ausbalanciert oder kanalisiert werden. So gehören Wutausbrüche vielfach zur Tagesordnung, sind aber genauso schnell wieder vergessen und dann ebenfalls keine Quelle von nachhaltigem sozialen Lernen.

Die reduzierte Fähigkeit aus Erfahrung zu lernen, lässt die Kinder die Risiken nicht ausreichend korrekt einschätzen. Sie sind dann zu risikobereit und können soziale aber auch weitergehende Konsequenzen nicht ausreichend abschätzen. FAS-Betroffene sind vielfach, auch bis ins höhere Alter hinein, leichtgläubig, naiv und leicht beeinflussbar. Sie haben einen hohen Anpassungswunsch, so dass, kommen sie mit Menschen mit negativen Verhaltenstendenzen zusammen, sie diesen gerne folgen. Darüber erfahren sie soziale Wirksamkeit, die letztlich aber zumeist auf der Verhaltensebene zu Fehlverhalten, Mitläufertum, bis hin zum Ausüben von Straftaten führen kann. Gerade Mädchen sind durch diese leichte Beeinflussbarkeit der Gefahr ausgesetzt, dass sie niederschwellig bereit sind, sich sexuell ausbeuten zu lassen und in komplexe traumatisierende soziale Situationen geraten.

Autorin: Dagmar Elsen

Das unsichtbare Handicap

Ich möchte endlich nicht mehr hören müssen, dass ich verlogen, frech, faul, dumm und aggressiv bin. Das bin ich nicht. Jedenfalls nicht so, wie das alle immer denken. Ich weiß, dass ich so wirke. Das ist schrecklich. Weil deshalb viele Leute nichts mit mir zu tun haben wollen. Das ist auch der Grund, warum ich so schwierig Freunde finde; ganz besonders seit ich so 13 Jahre alt war. 

Klar habe ich gemerkt, dass irgendwann die anderen in der Schule an mir vorbei gezogen sind. Ich bin ja nicht dumm. Ich habe sehr wohl mitbekommen, dass die immer schneller lernten und auch viel mehr lernten als ich. Aber nicht nur das. Bald konnte ich auch bei manchen Gesprächen nicht mehr mithalten. Es waren plötzlich nicht mehr meine Themen. Ich konnte damit nichts anfangen, was die anderen gesagt oder gemeint haben.

Erst konnte ich es noch überspielen. Aber immer öfter bin ich aufgeflogen. Die anderen fingen an, Witze über mich zu machen, mich auszulachen. Das war so frustrierend. Ich wurde wütend und aggressiv. Ich fühlte mich so hilflos. Ich wollte doch so gerne weiter dazu gehören.

Es war doch auch eigentlich meine Welt. Diese Welt war so schön gewesen, vom Kindergarten bis Ende der Grundschule – es war immer Montessori und international. Ich bin nie ausgegrenzt worden. Die meisten Kinder waren nett, auch die Eltern, vor allem die, mit denen sich meine Eltern angefreundet haben. Die waren ganz viel bei uns zu Hause. Wir hatten einen riesigen Garten mit einem Schwimmbad und einem großen Teich. Wir konnten uns austoben wie wir wollten. Wir durften so hoch klettern wie wir konnten, Frösche fangen, im Schlauchboot paddeln, wir haben Pfeil und Bogen gebaut, Himbeeren und Brombeeren gepflückt, Marmelade gekocht, Kuchen gebacken, in der Erde gebuddelt, Pilze gesammelt, gezeltet und im Kamin Würstchen gegrillt.

Ich kann noch ganz viel davon erzählen, aber ich glaube, das dauert zu lange. 

Jedenfalls war ich glücklich. Und wenn ich mal unglücklich war, bin zu den Kröten am Teich und hab’ mit ihnen gespielt. Ich habe ihnen Schlafplätze gebaut und mich mit ihnen unterhalten. Oder ich habe mit unseren Hunden geschmust. Ja ich weiß, ich habe sie auch geärgert. Wenn es denen zu viel wurde, haben die sich gewehrt, aber ohne mir weh zu tun.

Unser Leben zu Hause war ziemlich geregelt. Und sehr reizarm, wie meine Mama immer betont hat. Viel Fernsehen durften wir nicht. Das fanden wir, ich habe noch einen Bruder, natürlich doof. Dafür hat Mama jeden Tag vorgelesen. Wir haben viel gebastelt, gemalt, zusammen gekocht, gesungen, getanzt, Musik gehört, ja, und ganz viel Sport gemacht. Mama war fast immer da, wenn wir aus der Schule nach Hause kamen, und hat sich mit uns beschäftigt.

Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Ich habe damals beide Sprachen fließend gesprochen. Englisch mochte ich sehr. Ich war einer der Besten im Lesen. Klar, ich hatte Mühe beim Lernen. Ich musste viel wiederholen; auch immer wieder ermuntert werden. Mathe war so gar nicht mein Fach. Das Addieren und Subtrahieren ging irgendwann ganz gut, aber Multiplizieren und Dividieren kann ich logisch bis heute nicht nachvollziehen. Ich konnte aber lernen wie es geht. Das ging vielen anderen in der Grundschule aber auch nicht anders. Deshalb fiel es ja nicht auf, dass ich eigentlich anders war als die anderen.

Super fand ich Naturwissenschaften. Vor allem, wenn wir Versuche machten. Besonders toll fand ich, als wir einen Vulkan bauten, aus dem es dann tatsächlich dampfte und rauchte. Zu der Zeit wollte ich unbedingt Forscher und Entdecker werden.

Beim Sport war ich richtig gut. Die Trainer sagten alle immer: „Phantastische Motorik der Junge. Naturbegabung.“ Ich war stolz. Ich lernte alles immer schnell und leicht. Der Tennistrainer hat es mir vorgemacht und ich machte es einfach nach. Er sagte, ich könnte noch viel mehr werden als nur Vereinsmeister. Aber ich hatte ein Riesenproblem: Wenn ich etwas nicht gleich hinbekam, dann war ich extrem frustriert und schnell wütend. Das lief dann gar nicht gut bei den Medenspielen. Ich wollte ja unbedingt gewinnen. Aber wenn ich einen Punkt nicht machte, war ich sofort sauer und frustriert. Das wurde dann so schlimm, dass ich mich immer schlechter konzentrieren konnte und die Matches verlor. 

Aus dem Grund habe ich auch mit Judo wieder aufgehört. Eigentlich hat mir Judo viel Spaß gemacht und ich war auch richtig gut. Deshalb wollte der Trainer, dass ich Gürtel mache. Ich aber nicht. Das wären ja wieder Prüfungen gewesen und alle hätten dabei zugeschaut. Purer Stress für mich.

Fußball habe ich auch so gerne gespielt. Aber nur, wenn es um nichts ging und alle sozusagen durcheinander spielten. Im Fußballcamp habe ich die Spieltaktik nicht kapiert. Ich wollte immer mit dem Ball alleine durchstoßen. Ich habe den Trainer nicht verstanden, warum er die Nerven verlor mit mir.

Nach der Montessori-Schule musste ich in die Förderstufe der Gesamtschule. Es war schrecklich. Alles neu. Alles anders. Alles riesig. So viele Menschen. Ich war in ständiger Panik. Ich wusste überhaupt nicht wohin mit mir. Im Unterricht kam ich nicht mit. Ich bekam eine Extra-Lehrerin. Inklusion nannte sich das. Es half mir nur zum Teil. Außerdem war die Extra-Lehrerin nicht immer da. 

Ich wurde aggressiv und zog mich immer mehr zurück.

In der nächsten Blog-Folge erzählt Luca, wie er sich selbst verlor, vom Weg abdriftete, entsetzliche Erfahrungen machte, die in einem Albtraum mündeten, bis seine Mutter die Reißleine zog, weil sie, wie sie schon länger ahnte, aber nun klar erkannte: Mit Luca stimmt etwas Grundlegendes nicht.

Autorin: Dagmar Elsen