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“Wenn ich sage, was ich habe, gucken mich alle an und denken, ich spinne”

Alexia, heute 17 Jahre alt, hat das Fetale Alkoholsyndrom. Als sie 10 Jahre alt war, wurde das schwere Handicap bei ihr diagnosdiziert. Im Interview begegne ich einem fröhlichen, selbstbewussten und aufgeschlossen Menschen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Zu Recht. Denn sie hat viel erlebt und ertragen müssen. Am wenigsten erträgt sie, dass unentwegt neue Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf die Welt kommen, obwohl das durch Aufklärung vermeidbar wäre. Deshalb unterstützt sie mit herausragendem Einsatz unsere Kampagne.

Wann ist Dir das erste Mal bewusst gewesen, dass Du anders bist als die anderen?

Alexia: Als ich andere Mädels in der Stadt gesehen habe, die ohne ihre Mutter unterwegs waren. Das ging ja für mich aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht.

Welche Beeinträchtigungen durch FAS hast Du, welche stören Dich am meisten?

Alexia: Am meisten nervt und frustriert mich, dass ich Gefühle nicht richtig kontrollieren kann. Freude kann ganz schnell in Wut umkippen und Wut in Traurigkeit. Und all das von einer auf die andere Sekunde, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ich kann auch schlecht mit Aufregung umgehen. Das kann auch sehr schnell in Wut umschwenken.

Das Vergessen ist auch sehr schlimm. Ich lerne etwas in der Schule, kann es wirklich richtig gut, komme nach Hause und möchte es meiner Mutter erzählen – ich weiß nichts mehr, es ist wie ausradiert.

Ich habe kein Gefühl für Zeit, ich kann sie nicht greifen. Die Uhr kann ich nur digital.

Und auch Orientierung habe ich nicht. Ständig Wiederholtes, Gewohntes – das geht. Aber wehe es passieren Abweichungen. Und ich alleine in der Fremde? Da habe ich keine Chance.

Wenn Du mich quälen willst, gib’ mir Matheaufgaben.

Meine Konzentrationsfähigkeit reicht nur für eine Stunde.

Druck kann ich nicht aushalten. Innerlich läuft alles Sturm. Ganz schlimm.

An manchen Tagen spüre ich keine Schmerzen. Da kann ich mir beispielsweise Blasen laufen bis die Schuhe voller Blut sind und merke es nicht. Und morgen kann es dann wieder ganz anders sein. Das macht mir auch Angst.

Ach ja, mit Geld umgehen, das kann ich gar nicht. Erst gebe ich ganz lange gar nichst aus, dann ist plötzlich alles auf einmal weg und ich weiß nicht mehr wofür.

Wie versuchst Du, Deine Schwierigkeiten etwas in den Griff zu bekommen?

Alexia: Ich muss immer meine Kopfhörer dabei haben. Wenn ich in Not bin und meine Umwelt ausschalten muss, dann drehe ich die Musik extrem laut, dass ich nichts anderes mehr wahrnehmen muss und kann.

Gegen innere Unruhe, Anspannung, Nervosität habe ich zwei Igelbälle – einen weichen und einen harten. Den harten, den brauche ich, um zu merken, dass ich noch da bin. Den weichen Ball nehme ich zum Beruhigen.

Außerdem bekomme ich Medikamente, die mir helfen.

Welche besonderen Talente hast Du?

Alexia: Ich kann sehr gut reflektieren und mich in andere hineinfühlen. Ich ahne oft Dinge, die dann tatsächlich eintreten.

Ich kann sehr gut mit Tieren umgehen und mit kleinen Kindern.

Wie begegnen Dir Menschen, die keine Ahnung von FAS haben?

Alexia: Da man mir nichts ansieht, denken sie, ich sei “normal”. Selbst wenn ich es Erwachsenen erkläre, dann wollen die mir das nicht glauben. Die denken immer, ich sei nur frech und man könne mein dummes Verhalten weg-erziehen. Selbst Lehrer behaupten, dass man FAS weg-erziehen kann. Eine Leiterin hat meiner Mutter mal gesagt, dass ich mir die Krankheit ja nur ausgedacht habe als Ausrede für mein Benehmen. Ich dachte, ich höre nicht richtig, als ich das erfahren habe.

Hast Du Schwierigkeiten Freunde zu finden? Wenn ja, warum?

Alexia: Das macht mir sehr zu schaffen, dass es schwierig ist, Freunde zu finden. Die meisten sehen nicht, dass ich FAS habe und denken alle, dass ich normal bin. Wenn ich ihnen das dann sage, dann gucken die mich an, als ob ich spinne. Die wollen das dann gar nicht glauben.

Ich hatte mal eine Freundin, die hat mich ganz so gemocht wie ich war. Die hat mich richtig verstanden. Leider sind die dann weggezogen.

Jetzt habe ich einen festen Freund. Der hat auch so seine Probleme. Er kann zum Beispiel auch nicht gut Druck aushalten. Ich kann das ja gut verstehen. Wir ergänzen uns super. Das sagen auch meine Eltern.

Hast Du Ausgrenzung erlebt, wenn ja, in welcher Form?

Alexia: Es sind immer wieder Leute über whatsapp auf mich losgegangen. Als ich mal in einer Reha war, habe ich richtiges Mobbing erlebt.

Die verstehen alle nicht, dass FAS eine Krankheit ist und werden böse. Teilweise bin ich richtiggehend bedroht worden. Ich kann eigentlich gar nicht genau sagen, warum die nichts mit mir zu tun haben wollen. Das ist doof. Es macht mich traurig und wütend zugleich.

Welche Unterstützung hast Du bisher bekommen und was hat Dir besonders gut getan?

Alexia: Ich reite, seit ich drei Jahre alt bin. Meine Mama hat mich das erste Mal auf der Lochmühle auf ein Pferd gesetzt. Seitdem bin ich einmal die Woche beim therapeutischen Reiten.

Sprachtherapie und auch Ergotherapie haben mir gut getan.

Es ist schön, Hunde und Katzen zu haben so wie wir.

Was wünschst Du Dir, was Dein Leben leichter machen würde?

Alexia: Ich wünsche mir mehr Hilfe, vor allem in der Schule. Ich wünsche mir, dass die Lehrer besser geschult werden, mehr Fortbildung bekommen, damit sie FAS verstehen und besser auf uns eingehen können. Es ist doch ein Unding, dass sich die Lehrer einfach ihr eigenes Bild machen und versuchen, uns umzuerziehen. Das geht doch sowieso nicht.

Ich hatte mal eine Lehrerin, die sprach mit mir, als ob ich drei Jahre alt wäre. Als ich mal eine Pause von ihr brauchte und weggehen wollte, hat sie mich am Genick und den Händen festgehalten und mir befohlen dazubleiben. Meiner Mutter hat sie gesagt, ich sei nicht beschulbar. Ich finde, sie hat den falschen Beruf.

Welchen Berufswunsch hast Du?

Alexia: Ich würde gerne mit Tieren arbeiten. Vielleicht kann ich ja Tierarzthelferin werden. Was mich auch interessiert, ist die Umwelt. Ich mache mir viel Gedanken über die Umweltverschmutzung. Ich kann nicht verstehen, dass die Menschen die Umwelt allein schon dadurch verschmutzen, dass sie ständig Plastik, Flaschen und andere Sachen einfach in die Gegend schmeißen.

Kennst Du Deine biologische Mutter? Welche Gefühle hast Du, wenn Du an sie denkst?

Alexia: Ich kenne sie nur vom Foto. Ich will sie gar nicht kennen lernen. Ich habe so ein schönes Leben und stehe mit beiden Beinen im Leben. Das haut mich dann nur weg, wenn ich ihr begegnen würde und das will ich nicht.

Ich habe Wut und bin sehr traurig, wenn ich darüber nachdenke. Sie leugnet, dass sie getrunken hat. Meine biologische Mutter sehe ich lediglich als eine Erzeugerin.

Meine Mutter ist die, die mich groß gezogen hat, die, die immer für mich da war und ist und mich immer unterstützt. Alles andere zählt für mich nicht.

Hast Du Dich schon immer so mutig dazu bekannt FAS zu haben?

Alexia: Nein, überhaupt nicht. Der Mut kam erst durch die Feuerwehr. Mein Bruder ist da hingegangen. Eines Tages hat er mich mitgenommen. Sechs Jahre bin ich dabei geblieben. Daher habe ich mein sicheres Auftreten bekommen.

Ich habe dann aber aufgehört, als ich bei einer Mannschaftsprüfung mitmachen sollte. Allein die Vorstellung, ich mache bei der Prüfung einen Fehler, der dann der ganzen Mannschaft angerechnet wird und sie deshalb durch die Prüfung fällt – das war mir zu viel Druck. Das habe ich nicht ausgehalten. Ich kann mit Druck einfach nicht umgehen.

Warum unterstützt Du die Kampagne?

Alexia: Mit FAS zu leben ist einfach nur Scheiße. Ich träume schon so lange davon, dass es endlich eine Kampagne gibt, die das Thema Alkohol in der Schwangerschaft öffentlich macht. Es sollen nicht noch mehr Kinder geboren werden, die das Fetale Alkoholsyndrom haben.

Ich möchte dazu beitragen, dass die Menschen wissen, dass FAS vermeidbar ist. Es ist doch so einfach.

Die Frauenärzte sagen einfach immer noch zu oft, dass es okay sei, wenn man während der Schwangerschaft mal ein Gläschen Sekt trinkt. Aber das stimmt nicht! Ich fände es wichtig, dass die Frauenärzte mal eine Aufklärung bekommen.

Zum Hintergrund:

Gerade mal acht Monate war die kleine Alexia alt, als sie zu ihren Adoptiveltern kam. “Ein sehr süßes und fröhliches Baby”, erinnert sich ihre Mutter Gabriele Schwinn. Es sei zwar bekannt gewesen, dass die biologische Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe. Aber es habe lediglich ein Verdacht bestanden, dass eine Alkoholschädigung vorliegen könnte.

Aus heutiger Sicht kaum zu glauben. Denn Alexia hatte ein Loch im Herzen, schrie extrem viel, konnte erst mit viereinhalb Jahren sprechen und sie schielte – alles typische Anzeichen für das Fetale Alkoholsyndrom (FAS).

Alexia wurde operiert und therapiert. FAS war kein Thema.

Im Kindergarten dann die ersten Verhaltensauffälligkeiten, besonders gravierend ihre unkontrollierten Wutanfälle. Erziehungsmaßnahmen – Fehlanzeige. Mütter von Kindergartenfreunden gingen auf Distanz. Die Probleme waren in nicht in den Griff zu kriegen. Ein Antrag auf sonderpädagogische Förderung wurde gestellt.

Aktuell besucht Alexia eine Schule für geistige Entwicklung. “Eigentlich ist sie dafür zu fit”, sagt ihre Mutter, “aber sie benötigt den Schonraum.”

Autorin: Dagmar Elsen

FAS – Anspruch auf Unterstützung

 

Es kommt nicht von ungefähr, dass es für das Fetale Alkoholsyndrom, obwohl es ein schweres Handicap ist, keine bundesweit einheitliche Regelung gibt. “Was, der soll schwerbehindert sein? Der sieht doch völlig normal aus und kann geradeaus sprechen.” Solche Reaktionen gehören für FAS-Betroffene zum täglichen Brot. Allerorten herrscht viel Unverständnis vor, weil die neurologischen Schäden dem Betrachter nicht sofort ins Auge stechen. Deshalb ist der Kampf um die Anerkennung der Schwerbehinderung zumeist ein anstrengender und frustrierender; jedenfalls und vor allem dann, wenn das Fetale Alkoholsyndrom nicht schon gleich nach der Geburt festgestellt worden ist, sondern erst Jahre später.

Fakt ist aber: Egal, welchen Alters der Betroffene ist, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener – die Anerkennung einer Schwerbehinderung sollte und kann jederzeit beantragt werden. Denn wer mit derart eklatanten Defiziten im täglichen Leben zu kämpfen hat, dem steht Unterstützung zu. Dazu zählen insbesondere finanzielle Vergünstigungen, arbeitsrechtliche Vorteile wie zum Beispiel Steuerfreibeträge, zusätzlicher Urlaub und vorgezogener Rentenbezug.

In aller Regel sind die Beeinträchtigungen bei Menschen mit dem Vollbild FAS derart gravierend, dass sie die Voraussetzungen für eine Schwerbehinderung erfüllen. Diese wird bei einem Grad der Behinderung (kurz: GdB) ab 50 zuerkannt. In die Bewertung mit ein fließen die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen der Handicaps.

Bei diesem Antragsverfahren wird außerdem geprüft, ob es einen Anspruch auf bestimmte “Merkzeichen” für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen gibt. Von diesen amtlichen Merkzeichen gibt es drei. Das Merkzeichen H steht für hilflos. Das ist dann der Fall, wenn die Person im Alltag ständig fremde Hilfe benötigt. Das gilt auch dann, wenn der Betroffene zwar alleine Arbeiten verrichten kann, aber nicht ohne Anleitung oder Überwachung. Das Merkzeichen G wird Personen zuerkannt, die zum Beispiel nicht in der Lage sind, sich alleine im öffentlichen Verkehr zu orientieren, sich gegebenenfalls selbst oder andere gefährden. Das Merkzeichen B wird all jenen zuerkannt, die eine Begleitperson brauchen, um mit dem Bus oder der Bahn zu fahren. Das gilt auch für den Fall, dass der Betroffene durchaus in der Lage ist, einen Routineweg alleine zurückzulegen, aber sofort überfordert ist, wenn Abweichungen der Routine eintreten. Auch die FAS-typische mangelhafte Impulsteuerung ist ein Argument für das Merkmal B.

Wo der Antrag zu stellen ist? Beim Versorgungsamt des Bezirkes, in dem der Betroffene seinen Wohnort hat.

Und noch ein wichtiger Hinweis: Um bei der Beantragung erfolgreich zu sein, ist angeraten, abgesehen von den üblichen und auch notwendigen ärztlichen Begleitschreiben der behandelnden Haus- und Kinderärzte sowie Therapeuten, ein fachärztlich fundiertes Gutachten anfertigen zu lassen. Von Vorteil ist obendrein ein Begleitschreiben, das das Fetale Alkoholsyndrom und seine Auswirkungen erklärt.

Unterstützung gibt es auch bei der Pflege des FAS-Kindes, wenn eine Pflegebedürftigkeit vorliegt. Die Eltern können die Pflegestufe und damit das Pflegegeld über die zuständige Krankenkasse beantragen. Im Rahmen der sogenannten Frühförderung können außerdem weitere Leistungen wie Hilfs- und Heilmittel oder häusliche Krankenpflege im Rahmen eines persönlichen Budgets beantragt werden.

Zusätzlich zu den medizinischen und therapeutischen Behandlungen stellt sich nicht zuletzt für die Kita- und Grundschulzeit die Frage der besonderen pädagogischen Unterstützung des Kindes. Sie kann über die sogenannte Eingliederungshilfe geltend gemacht werden.

Wichtig ist grundsätzlich, dass die ErzieherInnen und LehrerInnen, sowie das engere Umfeld des Kindes so schnell und so umfassend wie möglich mit der Diagnose vertraut gemacht werden. Gegebenenfalls ist auch das Jugendamt hinzuzuziehen. In Absprache zwischen den Erziehungsberechtigten, den Lehrern und, falls notwendig, dem Jugendamt, kann die Schule beim staatlichen Schulamt eine Inklusion beantragen.

Darüber hinaus gibt es mit Unterstützung des Jugendamtes die Möglichkeit, sogenannte Eingliederungsleistungen zu beanspruchen. Zu diesen Leistungen zählt die Begleitung auf dem Schulweg, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitgestaltung. Sie werden gewährt bei seelischer, körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung.

Informativ: Von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung gibt es zu all diesen Themen eine ausführliche Broschüre: Die Fetale Alkoholspektrumsstörung – Die wichtigsten Fragen der sozialrechtlichen Praxis (www.drogenbeauftragte.de)

Autorin: Dagmar Elsen

Medien-Support: RTL Hessen dreht Beitrag

RTL Hessen hat heute den ersten Part für den Beitrag über unsere Aufklärungs-Kampagne und das Fetale Alkoholsyndrom abgedreht. Dabei war die 17 Jahre alte Alexia der Star, begleitet von ihrer Adoptiv-Mutter Gabriele Schwinn. Alexia hat das Vollbild FAS und hat erzählt, wie es ist, damit leben zu müssen. Sie erzählt es öffentlich vor der Kamera, weil sie möchte, dass es endlich aufhört, dass Babys mit FAS auf die Welt kommen, nur weil die Menschen immer noch nicht genügend aufgeklärt sind, welche Schäden Alkoholgenuss in der Schwangerschaft anrichten kann. Wir sind tief beeindruckt von ihrem Mut, gleichermaßen ihrem Engagement. Ein großes Dankeschön, vor allem an Alexia, aber auch an ihre Adoptiv-Mutter sowie das RTL-Team, das uns mit dem Dreh hilft, der Kampagne mehr Öffentlichkeit zu verschaffen.

Pilot-Projekt in Hessen: FAS-Aufklärung in der Schule

„Aufklärungsarbeit über die Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft muss schon in den Schulen ansetzen“, ist die feste Überzeugung von Ingrid Müller, stellvertretende Leiterin des Vereins Suchthilfe Wetzlar. Damit bläst sie in das gleiche Horn wie die Vorsitzende des Vereins FASD Deutschland, Gisela Michalowski, die auf einer Fachtagung der Bundesdrogenbeauftragten 2012 in Berlin forderte: “Es muss in die Köpfe rein: Wenn ihr trinkt während der Schwangerschaft, wird das Kind behindert. Und das kann ich nur erreichen, indem ich das an allen Schulen unterrichte.”

Die flächendeckende Umsetzung einer solchen Präventionsarbeit in den Bundesländern hat bisher auf sich warten lassen. Ingrid Müller hat deshalb mit ihrer Kollegin von der Suchthilfe Wetzlar, Gabriele Schwinn, 2017 im Lahn-Dill-Kreis ein Schulprojekt angeschoben. Die Reaktionen der Schüler geben der Notwendigkeit und Bedeutung des Aufklärungsprojektes recht. Nur rund 34% der befragten Schüler gaben an, dass sie sich schon einmal mit dem Thema Alkohol in der Schwangerschaft beschäftigt hatten. Erschreckende 98,41% wussten nicht, welche Folgen es hat, wenn Schwangere zum Alkohol greifen.

Gabriele Schwinn, die für das Projekt nicht nur verantwortlich zeichnet, sondern auch in den Schulen umsetzt, weiß zu berichten, dass die meisten Schüler entsetzt sind, wenn sie hören und sehen, was mit dem ungeborenen Kind im Mutterleib passiert und mit welchen Behinderungen es zur Welt kommen kann. “Ich setze gern auf die Kraft der Visualisierung”, erzählt die Pädagogin. Dafür bedient sie sich eines Versuches, den so mancher aus dem Chemieunterricht kennen dürfte. “Die Schüler sind dann alle total geflashed, wenn sie hören, dass das mit dem Baby im Bauch im übertragenen Sinne genauso passiert”, berichtet sie. Ergriffen gewesen seien die Schüler auch sehr, als sie den Film “Blau im Bauch” angeschaut haben.

Emotionen werfen Fragen auf und wecken das Bedürfnis, aus eigenen Erfahrungen zu berichten. Wie engagiert die Schüler dabei sind, hänge natürlich zum einen vom Alter der Schüler ab, zum anderen von der Schulform. Wichtig ist, dass während der Aufklärungseinheiten von üblicherweise zwei Stunden keine Lehrer dabei sind. Außerdem werden Jungs und Mädchen getrennt voneinander an die Thematik herangeführt; dies jeweils von einer gleichgeschlechtlichen Fachkraft. So seien die Schüler offener, erzählten eher persönliche Geschichten und stellten ungezwungener intimere Fragen – wie zum Beispiel: Ab wann soll man bei Alkoholgenuss denn verhüten?

Nach den zwei Unterrichtseinheiten ist das Projekt noch nicht beendet. “Monate später,” so Gabriele Schwinn, “gehen wir noch einmal hin und fragen nach, was denn so hängen geblieben ist und frischen Vergessenes wieder auf.” Auf die Resonanz der Schüler sind die Pädagogen natürlich gespannt. Diese sei grundweg positiv, freut sich auch Ingrid Müller berichten zu können. Es sei immer wieder betont worden, dass man sich der Relevanz der Thematik nicht bewusst gewesen sei. Die Nachfrage der Lehrkräfte an den Schulen, das Projekt in weiteren Jahrgängen umzusetzen, unterstreicht die Bedeutung zusätzlich.

Auf diese Weise kommt man zumindest im Landkreis Wetzlar dem Ziel der beiden Projektverantwortlichen ein Stück näher, “dass Null Alkohol in der Schwangerschaft zum Lifestyle wird und ein partnerschaftliches Bewusstsein entwickelt wird, dass dies für beide PartnerInnen in einer Partnerschaft oder Ehe gelten sollte.”

Autorin: Dagmar Elsen

 

Selbsthilfegruppe Wetzlar: Der sehnliche Wunsch verstanden zu werden, führt sie zusammen

Das Fetale Alkoholsyndrom ist ein Handicap, dessen Anerkennung in Deutschland weder gesetzlich einheitlich geregelt ist, noch von der breiten Gesellschaft wahrgenommen, geschweige denn angenommen wird. FAS-Betroffene und ihre Familien rutschen deshalb nur allzuoft in die soziale Isolation. Es ist ein Leben mit Unsicherheiten und Ängsten, mit denen sie sich alleine fühlen. Ratlosigkeit herrscht vor, wie und wo man Hilfe und Unterstützung finden kann. Um positiv und ermutigend füreinander da zu sein, durch das Wir-Gefühl Mut zu machen und um Hilfsangebote zu vermitteln, gründeten sich in den vergangenen Jahren viele Selbsthilfegruppen.

Eine dieser Selbsthilfegruppen leitet Gabi Schwinn, selbst Mutter einer Tochter mit FAS. Sie ist außerdem Heilpädagogin und arbeitet bei der Suchthilfe Wetzlar. Dort ist sie unter anderem für FAS-Präventionsarbeit an den Schulen Wetzlars und des Lahn-Dill-Kreises zuständig.

Wann und von wem ist die Selbsthilfegruppe gegründet worden?

Gabi Schwinn: Zusammen mit dem leiblichen Vater eines Kindes mit FAS habe ich die Selbsthilfegruppe 2015 gegründet. Dieser ist inzwischen verzogen. Eine Zeit lang gab es nach einem vielversprechenden Start fast ein Jahr lang eine „Durststrecke“. Seit einiger Zeit haben wir einen festen Stamm von elf Mitgliedern aus dem Einzugsgebiet von Marburg über Dillenburg bis nach Weilburg. Ein Mitglied ist auch wieder leiblicher Vater eines FAS-Kindes. Leibliche Mütter sind selten, weil die Scham vor dem Schuldeingeständnis groß ist. Deswegen sind vor allem Pflege- und Adoptiveltern mit von der Partie.

Wer ist eingeladen, zur Selbsthilfegruppe hinzu zukommen?

Gabi Schwinn: Alle Menschen die vom Fetalen Alkoholsyndromin irgendeiner Form betroffen oder damit konfrontiert sind.

Was hat den Anstoß gegeben, die Selbsthilfegruppe zu gründen?

Gabi Schwinn: Der Wunsch nach Austausch, weil FASD eine Herausforderung ist. Hilfe muss man meist selbst organisieren. Das betrifft unter anderem die Beantragung eines Behindertenausweises, die Suche und das Finden geeigneter ärztlicher Anbindung, geeigneter Einrichtungen, wenn es zu Hause nicht mehr geht, und die Entscheidung für die richtige Schulform.

Wie gestalten Sie diese Treffen?

Gabi Schwinn: Wir haben ein Zeitfenster von zwei Stunden. Wir sitzen zusammen, es gibt etwas zu trinken und kleine Snacks.

Setzen Sie Themen oder lassen die dem Treffen freien Lauf?

Gabi Schwinn: Inzwischen haben wir feste Themen – beim letzten Treffen war meine Tochter dabei und hat den Eltern von jüngeren Kindern erzählt, z.B. wie es sich anfühlt als Betroffene mit FASD zu leben. Das nächste Mal wird es darum gehenwie Eltern es schaffen sich besser abzugrenzen.

Was sind die vorwiegenden Gründe der Menschen, die die Selbsthilfegruppe aufsuchen?

Gabi Schwinn: Häufig die anfängliche Unwissenheit über FASD und der Wunsch nach „Verstandenwerden“.

Mit welchen vordringlichsten Problemen rund um FAS haben die Menschen aus ihrer Gruppe am meisten zu kämpfen?

Gabi Schwinn: Das Unverständnis und die mangelnde Bereitschaft der Umwelt – vor allem Lehrer- sich mit dem Verhalten der Betroffenen auseinanderzusetzen. Und das bezieht sich auf Lehrer aller Bildungseinrichtungen. Es ist eben eine Frage der Haltung. Um ein Beispiel zu nennen: Meine Tochter war auf der Schulfür geistige Entwicklung nach Meinung der Lehrerin nicht beschulbar und sollte täglich früher abgeholt werden. Ein Lehrerwechsel änderte alles. Inzwischen managt sie sogar ganz allein jeden Donnerstag die Schulbibliothek.

FAS ist Menschen schwer zu vermitteln, wenn diese nicht verstehen wollen, dass FAS nicht “weg-zu-erziehen” geht. Dem Spagat, den Betroffenen gerecht zu werden, gleichzeitig nicht alle Regeln aufzuweichen, benötigt Gelassenheit, Kreativität und die Bereitschaft, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die nicht ins übliche Schema passen.

In welchen Bereichen können Sie Hilfestellung geben?

Gabi Schwinn: Anlaufstellen nennen, Basisinformationen geben, Verständnis zeigen

Wo treffen Sie sich?

Gabi Schwinn: In den Räumen der Suchthilfe Wetzlar e.V., die uns kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Wie oft finden die Treffen statt?

Gabi Schwinn: Ein Mal im Monat in der Regel den zweiten Dienstag um 19.30 Uhr. Es gibt aber durch Ferien und Feiertage immer mal wieder Abweichungen. Deshalb macht es Sinn, sich vorher zu informieren. Wir legen die Termine stets zu Beginn des Jahres fest.

Wer gerne zur Selbsthilfegruppe Wetzlar hinzu kommen möchte, kann sich per email an Gabi Schwinn wenden: gabriele_schwinn@t-online.de

Autorin: Dagmar Elsen

Das Entsetzen war größer als die Scham

Es war extrem hart für mich zu realisieren, dass ich FAS habe. Denn FAS haben heißt, es gibt kein Mittel dagegen. Das bedeutet, dass ich ein Leben lang damit klar kommen muss, dass ich sehr sehr viele Dinge nicht kann und nicht werde lernen können. Und selbst wenn ich etwas erlernt habe, dass es urplötzlich wieder verschwindet. Es ist so schwer zu akzeptieren, dass ich deshalb viele meiner Träume begraben muss. Und besonders schlimm ist, dass ich nie komplett selbständig werde leben können.

Was mich obendrein schmerzt, ist die Tatsache, dass ich das alles klar vor Augen habe. Ich verstehe, fühle und weiß ganz genau, was mit mir ist. Ich kann das alles reflektieren.

Das macht das Leben für mich nicht leichter – weil ich fühle, wie es anders ist und anders sein könnte. Das macht mich wütend, das macht mich traurig. Ich frage mich, warum nur? Warum ich? Tja, das fragt sich wohl jeder, der ein Handicap oder eine schlimme Krankheit hat. Manchmal, wenn so vieles schief läuft, dann will ich auch nicht mehr.

Gut ist, dass diese Gefühle auch wieder aufhören und ich mir selber sagen kann: Es macht keinen Sinn, zu sehr darüber nachzudenken, weil man es ja nicht ändern kann und weil man, wenn man die ganze Zeit grübelt, es einem nur noch schlechter geht. Es ist besser, die Sache anzunehmen und irgendwie das Beste daraus zu machen.

Es ist ja auch nicht so, dass ich keine Talente hätte und nichts Schönes erleben würde. Und ich glaube, dass es auch viel ausmacht, wenn man ein schönes Zuhause hat und eine Familie, auf die man sich verlassen kann, so wie ich. Das gibt mir viel Sicherheit.

Trotzdem habe ich mich so lange geschämt für mich, geschämt dafür, dass ich FAS habe. Deshalb hätte ich mir auch niemals vorstellen können, dass ich eines Tages anderen gegenüber mal über die Lippen bringen würde: Ich habe FAS.

Bis, ja, bis der Tag kam, als mein Entsetzen über das, was ich da sah, größer war als meine Scham. Ein Mädchen, das ich kenne, hochschwanger, saß fröhlich auf der Bank und trank Bier. Ich dachte: Was macht sie da bloß? Das geht doch nicht.

Ich bin zu ihr hin und habe zu ihr gesagt: “Hey, lass’ das, Du darfst keinen Alkohol trinken, sonst passiert Deinem Baby, was mir passiert ist.” Das Mädchen sah mich mit großen Augen an und fragte: “Wieso? Was denn? Was meinst Du?” Zum ersten Mal kam über meine Lippen: “Ich habe FAS, meine biologische Mutter hat Alkohol getrunken, als sie mit mir schwanger war. Jetzt habe ich ganz viele Probleme und muss starke Medikamente nehmen.”

Das Mädchen ließ die Bierflasche sinken und wollte wissen: “Was denn für Probleme?” Ich erwiderte: “Ich kann mich ganz schlecht konzentrieren, ich vergesse furchtbar viel, ich bin oft unruhig und ich kann mich schlecht kontrollieren, wenn ich wütend bin und ich werde leider ganz schön schnell wütend. Und Mathe kann ich fast gar nicht.” Außerdem gestand ich ihr, dass ich manchmal blöde Sachen anstelle, weil ich meistens gar nicht so wirklich weiß, was ich da eigentlich mache. Erst hinterher wird mir das klar, wenn ich Ärger kriege und wir darüber reden.

Ich habe das Mädchen dann gar nicht mehr gesehen. Später habe gehört, dass sie kein Alkohol mehr angerührt und ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat. Das hat mich wahnsinnig gefreut.

SUPPORT AT ITS BEST von Dr. Zock und Dr. Windhagen

Luca’s Wunsch zu erfüllen, über die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft aufzuklären, war uns sofort ein Bedürfnis. Wir kennen Luca gut und fanden seine Idee grossartig, eine Kampagne zu initiieren, damit das Thema Fetales Alkoholsyndrom eine breite Öffentlichkeit erreicht.
Wir erleben leider immer wieder, wie wenig über die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft bekannt ist. Die wenigsten wissen, welche irreversiblen körperlichen und vor allem geistige Schäden dem ungeboren Leben durch Alkohol zugefügt werden. Deshalb ist die Kampagne so wichtig und deshalb unterstützen wir sie von ganzem Herzen.
Da wir als Kinderarztpraxis ständig auch mit werdenden Müttern Kontakt haben, haben wir das gesamte Praxisteam mit den Kampagnen-Shirts ausgestattet. So können wir auch auf nonverbale Weise während der Arbeit immer wieder auf das Thema aufmerksam machen und dazu beitragen, dass in Zukunft weniger Babys mit schweren Handicaps auf die Welt kommen.
Wir hoffen sehr, dass weitere KinderärztInnen die Kampagne auf diese Weise unterstützen.
Und  wir von HAPPY BABY NO ALCOHOL bedanken uns bei den beiden sympathischen und engagierten Ärztinnen aufs herzlichste. Außerdem sind wir begeistert von der Idee, immer wieder Kampagnen-Shirt-Aktionen in der Praxis machen zu wollen.

Auch Frauke Ludowig unterstützt unsere Kampagne

Es war eine Selbstverständlichkeit für Frauke Ludowig, so dass sie keine Sekunde zögerte, unsere Kampagne unterstützen zu wollen. Für die sympathische und so unprätentiöse Moderatorin von RTL-Exklusiv ist es ein Herzensanliegen aufzuklären, dass es eine absolute Pflicht ist, während der Schwangerschaft keinen Alkohol zu trinken. HAPPY BABY NO ALCOHOL sei ein super Statement auf die Gefahr, das ungeborene Baby mit Alkohol zu schädigen, hinzuweisen. Ihre Kinder seien zwar schon groß. Trotzdem ist Alkohol in der Schwangerschaft ein Thema, das alle angeht. Auch wir finden, dass jeder mithelfen kann und sollte, Frauen zu ermuntern, während ihrer kompletten Schwangerschaft die Finger vom Alkohol zu lassen.

Herzlichen Dank nach Köln für diesen Support.

Menschen mit FAS verstehen

Familien mit FAS-Kindern können ein Lied davon singen, wie anders ihre Schützlinge ticken. Die von mir zusammen getragenen Beispiele dürften aber auch allen anderen Eltern nicht unbekannt sein – kann man diese oder ähnliche Geschichten auch bei kleinen Kindern oder unseren “viel geliebten Pubertieren” erleben. Der Unterschied zum Menschen mit FAS – bei ihm bleiben eben jene Verhaltensmuster ein Leben lang:

Das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene mit FAS….

…… gelobt hoch und heilig Besserung, doch eine Stunde später schon ist alles wieder Schall und Rauch

…… eignet sich hemmungslos Sachen an ohne zu fragen und verleiht diese dann auch noch fröhlich weiter

……. will stundenlang um die Anordnung eines Verbotes diskutieren – immer und immer wieder

…… steht nach dem Wecken zwar auf und macht sich fertig, legt sich dann aber in voller Montur wieder ins Bett und schläft weiter, wenn noch fünf Minuten Zeit bis zum Verlassen des Hauses sind

….. hat nahezu täglich zu beklagen, dass etwas kaputt oder verloren gegangen ist

…… isst unbekümmert und ohne jegliches Unrechtsbewusstein den kompletten Geburtstagskuchen des Bruders alleine

…… geht aus dem Haus ohne sich zu verabschieden und merkt das nicht

…… realisiert Schuldgefühle erst, wenn er darauf hinwiesen worden ist, was er getan hat

…. hat den Schrank gerade mit auf Kante gelegten Kleidungsstücken ordentlich gemacht, eine halbe Stunde später sieht der Schrank aus, als habe ein Einbrecher etwas gesucht

….. gibt bei Geschehnissen drei Versionen wieder, von denen eine glaubhafter ist als die andere, wahrscheinlich aber erst die zwölfte Version der Wahrheit entsprechen könnte

… schafft es immer, dass nach dem Zwiebel hacken die halbe Küche mit Zwiebelstückchen übersät ist

….. muss stets mehr Zeit einplanen, um wegzukommen, weil immer irgendetwas fehlt oder vergessen wurde

….. ist völlig aufgebracht, weil er für eine Tat zu unrecht beschuldigt worden ist, aber Minuten vorher bei genau der gleichen Tat erwischt worden war

…. braucht nur eine winzige Ablenkung, um die ihm aufgetragene Aufgabe, die bereits aufwändig begonnen worden war, komplett zu vergessen und in eine andere Welt abzutauchen.

Menschen mit FAS stoßen aufgrund ihres Verhaltens und Benehmens viel auf Ablehnung und Unverständnis. Was macht es so schwer, Menschen mit FAS zu verstehen und ihre Behinderungen als solche anzunehmen? Welchen Rat geben Sie?

Dr. Murafi:

Im besonderen ergibt sich Ablehnung aus der Diskrepanz der altersgemäßen Entwicklung hinsichtlich der körperlichen Reife und der Fähigkeit im Small-Talk, also der Alltagsschläue, zu brillieren, und den eben fehlenden Fähigkeiten, sich altersgemäß zu verhalten und den vorhandenen Begabungen entsprechend zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang wird allzu gerne Willentlichkeit unterstellt, der FAS-Betroffene verhalte sich aus Absicht unangemessen und weigere sich nur, seine Begabungen auszuschöpfen. Dadurch kommt eine moralische Komponente zum Tragen. Der FAS-Betroffene wird abgewertet, in der Folge wird sich von ihm distanziert.

Darüber hinaus ist auch Hilflosigkeit und Ohnmacht für alle Beteiligten ein unangenehmes Gefühl. Das führt zu viel Stress und Ärger. Die Anforderungen an Geduld und Ausdauer sind enorm. So kommt es im Beziehungskontext zum sogenannten High-Expressed-Emotion-System. Das bedeutet, dass sich die emotionale Interaktion zunehmend aggressiv aufschaukelt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die FAS-Betroffenen, da sie im Grunde eine hohe Neigung haben, sich anzupassen, zu gefallen und die richtigen Dinge zu tun.

(Gerade in Pflege- und Adopivfamilien mit FAS-Kindern ist dies noch bedeutsamer, da die Kinder sowieso das Gefühl haben nur Gast zu sein. Dass sie im Grunde nur geduldet werden, wenn sie die Erwartungen der sie großüzgig aufnehmenden Eltern erfüllen. Dies führt zu intensiven Spannungen und teilweise auch zu deutlichen Brüchen in der pubertären Entwicklung. Zuweilen kommt es auch zum Auseinanderfallen familiärer Kontexte, die bis dato gemeinsam gut funktioniert hatten.)

Es ist viel gewonnen, wenn sich alle, die mit FAS-Menschen zusammenkommen, klar machen, dass ihre Schützlinge keinesfalls einfach nur nicht wollen, dass sie opponieren nur des Opponierens Willen. Sie können nicht, weil sie aufgrund ihrer neurologischen und in Folge kognitiven Beeinträchtigungen nicht in der Lage dazu sind. Dabei ist es zudem wichtig zu realisieren, dass sich das auf die Lebensdauer hinaus betrachtet nicht ändern wird. Es handelt sich um irreversible Schäden im Gehirn, gegen diese weder Therapien noch Erziehung eine dauerhafte Chance auf Kompensation haben; allenfalls vorübergehend.

Menschen mit FAS brauchen deshalb immer wieder aufs Neue Unterstützung – nicht anders als Menschen mit körperlichen Handicaps. Wenn man sich alles das immer wieder aufs Neue vergegenwärtigt, erwächst automatisch ein größeres Verständnis. In der Folge sinkt die falsche Erwartungshaltung an den FAS-Betroffenen und steigert das empathische Umgangsvermögen.

Was hilft, sich in einen Menschen mit FAS hineinzuversetzen?

Dr. Murafi:

Es ist immer wieder wichtig sich vor Augen zu führen, dass die Handlungsmotive der Kinder positiver sind, als sie auf den Handlungsebenen und aufgrund ihrer Reaktionsweisen vermuten lassen. Die Kinder sind selbst Opfer ihrer Problematik, erleben sich selbst als hilflos und ohnmächtig. Deshalb benötigen sie hier Unterstützung, brauchen aber gleichzeitig klassifizierte Rahmenbedingungen und Halt gebende Beziehungen. Das heißt, dass es von großer Bedeutung ist, dass die Beziehung zu dem Kind nicht in Frage gestellt wird, egal, wie es sich verhalten hat.

Trotz allen Verständnisses für das Kind darf es nicht an der Klarheit von Anforderungen an das Kind fehlen und auch nicht an pädagogischen Konsequenzen.

Zu welchen grundsätzlichen pädagogischen Methoden raten Sie bei FAS-Kindern?

Dr. Murafi:

Zu keinen anderen als bei allen anderen Kindern auch – zu Klarheit, wohlwollender Konfrontation, sicherem Rahmen, einfach überschaubaren Konsequenzen, Entemotionalisierung im Bereich der pädagogischen Maßnahmen. Im besonderen die Bewahrung der positiven Beziehungsebene. Grundlage für eine pädagogische Führung der Kinder sind des weiteren die Entmoralisierung und in gewisser Weise die Reduktion der eigenemotionalen Betroffenheit.

Mit Sicherheit ist die grundlegende Haltung der Pädagogik von Heim Omar eine, die am ehesten hilfreich sein kann.

(Anm. : Heim Omar, gebürtiger Brasilianer, ist Psychologe, Publizist und Professor in Tel Aviv. Er entwickelte das Konzept der Neuen Autorität, die auf sieben Säulen basiert: Präsenz, Selbstkontrolle, Unterstützungssysteme, gewaltloser Widerstand, Transparenz und Widergutmachung)

Was hilft außerdem bei der Erziehung – Humor, Geduld, Gelassenheit, Ausdauer?

Dr. Murafi:

Tatsächlich hilft Humor, Geduld, Gelassenheit und Ausdauer sowie ein “Störungswissen”. Auf jeden Fall ist Selbsterfahrung bezogen auf den Umgang mit Hilflosigkeit und Ohnmacht von Vorteil. Wichtig sein sollte stets die kritische Reflexion der eigenen Motive in der Begleitung des Kindes. Unverzichtbar ist ein helfendes und stützendes Netzwerk um das Kind herum. Alleine ist das zumeist nicht zu schaffen und sollte auch nicht alleine versucht werden. Es braucht wirklich ein ganzes Dorf, um dem Kind das zu geben, was es braucht; und selbst das kann manchmal nicht reichen. Auf diesem Sektor einen adäquaten Umgang zu finden, ist mit Sicherheit der wichtigste Aspekt in der Begleitung der Kinder.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS geht alle an

“Die Thematik, dass Alkohol während der Schwangerschaft ein NO GO ist, darf nicht nur der jungen Generation überlassen bleiben, die in Zukunft Kinder bekommen wird. Nein, quer durch alle Altersschichten und egal welchen sozialen Hintergrund man hat – das Thema geht alle an.
Schließlich sind die älteren Generationen Vorbilder in dem Sinne, als sie den Jungen mit ihrer Haltung, ihrer Meinung zum Alkoholgenusss in der Schwangerschaft ein Beispiel sind. Wir Älteren sind es, die unsere Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen über die Gefahr von Alkohol für das ungeborene Leben sensibilisieren müssen – zu Hause am Esstisch, bei der Familienfeier, wo auch immer.
Es muss darüber gesprochen werden, was passiert, wenn die Schwangere Alkohol trinkt. Es muss jedem klar sein, dass ein Kind an den Folgen von Alkohol irreparabel behindert auf die Welt kommt. Das Fetale Alkoholsyndrom muss jedem ein Begriff sein. Erst dann wird sich etwas ändern. Dazu müssen wir alle beitragen und deshalb möchten wir mit den Shirts die Kampagne unterstützen und ein Beispiel geben. Wir hoffen sehr, dass andere es uns nachtun.”

Wir von HAPPY BABY NO ALCOHOL möchten an dieser Stelle applaudieren und uns für das auf den Punkt gebrachte Statement bedanken.