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Selbsthilfegruppe Wetzlar: Der sehnliche Wunsch verstanden zu werden, führt sie zusammen

Das Fetale Alkoholsyndrom ist ein Handicap, dessen Anerkennung in Deutschland weder gesetzlich einheitlich geregelt ist, noch von der breiten Gesellschaft wahrgenommen, geschweige denn angenommen wird. FAS-Betroffene und ihre Familien rutschen deshalb nur allzuoft in die soziale Isolation. Es ist ein Leben mit Unsicherheiten und Ängsten, mit denen sie sich alleine fühlen. Ratlosigkeit herrscht vor, wie und wo man Hilfe und Unterstützung finden kann. Um positiv und ermutigend füreinander da zu sein, durch das Wir-Gefühl Mut zu machen und um Hilfsangebote zu vermitteln, gründeten sich in den vergangenen Jahren viele Selbsthilfegruppen.

Eine dieser Selbsthilfegruppen leitet Gabi Schwinn, selbst Mutter einer Tochter mit FAS. Sie ist außerdem Heilpädagogin und arbeitet bei der Suchthilfe Wetzlar. Dort ist sie unter anderem für FAS-Präventionsarbeit an den Schulen Wetzlars und des Lahn-Dill-Kreises zuständig.

Wann und von wem ist die Selbsthilfegruppe gegründet worden?

Gabi Schwinn: Zusammen mit dem leiblichen Vater eines Kindes mit FAS habe ich die Selbsthilfegruppe 2015 gegründet. Dieser ist inzwischen verzogen. Eine Zeit lang gab es nach einem vielversprechenden Start fast ein Jahr lang eine „Durststrecke“. Seit einiger Zeit haben wir einen festen Stamm von elf Mitgliedern aus dem Einzugsgebiet von Marburg über Dillenburg bis nach Weilburg. Ein Mitglied ist auch wieder leiblicher Vater eines FAS-Kindes. Leibliche Mütter sind selten, weil die Scham vor dem Schuldeingeständnis groß ist. Deswegen sind vor allem Pflege- und Adoptiveltern mit von der Partie.

Wer ist eingeladen, zur Selbsthilfegruppe hinzu zukommen?

Gabi Schwinn: Alle Menschen die vom Fetalen Alkoholsyndromin irgendeiner Form betroffen oder damit konfrontiert sind.

Was hat den Anstoß gegeben, die Selbsthilfegruppe zu gründen?

Gabi Schwinn: Der Wunsch nach Austausch, weil FASD eine Herausforderung ist. Hilfe muss man meist selbst organisieren. Das betrifft unter anderem die Beantragung eines Behindertenausweises, die Suche und das Finden geeigneter ärztlicher Anbindung, geeigneter Einrichtungen, wenn es zu Hause nicht mehr geht, und die Entscheidung für die richtige Schulform.

Wie gestalten Sie diese Treffen?

Gabi Schwinn: Wir haben ein Zeitfenster von zwei Stunden. Wir sitzen zusammen, es gibt etwas zu trinken und kleine Snacks.

Setzen Sie Themen oder lassen die dem Treffen freien Lauf?

Gabi Schwinn: Inzwischen haben wir feste Themen – beim letzten Treffen war meine Tochter dabei und hat den Eltern von jüngeren Kindern erzählt, z.B. wie es sich anfühlt als Betroffene mit FASD zu leben. Das nächste Mal wird es darum gehenwie Eltern es schaffen sich besser abzugrenzen.

Was sind die vorwiegenden Gründe der Menschen, die die Selbsthilfegruppe aufsuchen?

Gabi Schwinn: Häufig die anfängliche Unwissenheit über FASD und der Wunsch nach „Verstandenwerden“.

Mit welchen vordringlichsten Problemen rund um FAS haben die Menschen aus ihrer Gruppe am meisten zu kämpfen?

Gabi Schwinn: Das Unverständnis und die mangelnde Bereitschaft der Umwelt – vor allem Lehrer- sich mit dem Verhalten der Betroffenen auseinanderzusetzen. Und das bezieht sich auf Lehrer aller Bildungseinrichtungen. Es ist eben eine Frage der Haltung. Um ein Beispiel zu nennen: Meine Tochter war auf der Schulfür geistige Entwicklung nach Meinung der Lehrerin nicht beschulbar und sollte täglich früher abgeholt werden. Ein Lehrerwechsel änderte alles. Inzwischen managt sie sogar ganz allein jeden Donnerstag die Schulbibliothek.

FAS ist Menschen schwer zu vermitteln, wenn diese nicht verstehen wollen, dass FAS nicht “weg-zu-erziehen” geht. Dem Spagat, den Betroffenen gerecht zu werden, gleichzeitig nicht alle Regeln aufzuweichen, benötigt Gelassenheit, Kreativität und die Bereitschaft, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die nicht ins übliche Schema passen.

In welchen Bereichen können Sie Hilfestellung geben?

Gabi Schwinn: Anlaufstellen nennen, Basisinformationen geben, Verständnis zeigen

Wo treffen Sie sich?

Gabi Schwinn: In den Räumen der Suchthilfe Wetzlar e.V., die uns kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Wie oft finden die Treffen statt?

Gabi Schwinn: Ein Mal im Monat in der Regel den zweiten Dienstag um 19.30 Uhr. Es gibt aber durch Ferien und Feiertage immer mal wieder Abweichungen. Deshalb macht es Sinn, sich vorher zu informieren. Wir legen die Termine stets zu Beginn des Jahres fest.

Wer gerne zur Selbsthilfegruppe Wetzlar hinzu kommen möchte, kann sich per email an Gabi Schwinn wenden: gabriele_schwinn@t-online.de

Autorin: Dagmar Elsen

Das Entsetzen war größer als die Scham

Es war extrem hart für mich zu realisieren, dass ich FAS habe. Denn FAS haben heißt, es gibt kein Mittel dagegen. Das bedeutet, dass ich ein Leben lang damit klar kommen muss, dass ich sehr sehr viele Dinge nicht kann und nicht werde lernen können. Und selbst wenn ich etwas erlernt habe, dass es urplötzlich wieder verschwindet. Es ist so schwer zu akzeptieren, dass ich deshalb viele meiner Träume begraben muss. Und besonders schlimm ist, dass ich nie komplett selbständig werde leben können.

Was mich obendrein schmerzt, ist die Tatsache, dass ich das alles klar vor Augen habe. Ich verstehe, fühle und weiß ganz genau, was mit mir ist. Ich kann das alles reflektieren.

Das macht das Leben für mich nicht leichter – weil ich fühle, wie es anders ist und anders sein könnte. Das macht mich wütend, das macht mich traurig. Ich frage mich, warum nur? Warum ich? Tja, das fragt sich wohl jeder, der ein Handicap oder eine schlimme Krankheit hat. Manchmal, wenn so vieles schief läuft, dann will ich auch nicht mehr.

Gut ist, dass diese Gefühle auch wieder aufhören und ich mir selber sagen kann: Es macht keinen Sinn, zu sehr darüber nachzudenken, weil man es ja nicht ändern kann und weil man, wenn man die ganze Zeit grübelt, es einem nur noch schlechter geht. Es ist besser, die Sache anzunehmen und irgendwie das Beste daraus zu machen.

Es ist ja auch nicht so, dass ich keine Talente hätte und nichts Schönes erleben würde. Und ich glaube, dass es auch viel ausmacht, wenn man ein schönes Zuhause hat und eine Familie, auf die man sich verlassen kann, so wie ich. Das gibt mir viel Sicherheit.

Trotzdem habe ich mich so lange geschämt für mich, geschämt dafür, dass ich FAS habe. Deshalb hätte ich mir auch niemals vorstellen können, dass ich eines Tages anderen gegenüber mal über die Lippen bringen würde: Ich habe FAS.

Bis, ja, bis der Tag kam, als mein Entsetzen über das, was ich da sah, größer war als meine Scham. Ein Mädchen, das ich kenne, hochschwanger, saß fröhlich auf der Bank und trank Bier. Ich dachte: Was macht sie da bloß? Das geht doch nicht.

Ich bin zu ihr hin und habe zu ihr gesagt: “Hey, lass’ das, Du darfst keinen Alkohol trinken, sonst passiert Deinem Baby, was mir passiert ist.” Das Mädchen sah mich mit großen Augen an und fragte: “Wieso? Was denn? Was meinst Du?” Zum ersten Mal kam über meine Lippen: “Ich habe FAS, meine biologische Mutter hat Alkohol getrunken, als sie mit mir schwanger war. Jetzt habe ich ganz viele Probleme und muss starke Medikamente nehmen.”

Das Mädchen ließ die Bierflasche sinken und wollte wissen: “Was denn für Probleme?” Ich erwiderte: “Ich kann mich ganz schlecht konzentrieren, ich vergesse furchtbar viel, ich bin oft unruhig und ich kann mich schlecht kontrollieren, wenn ich wütend bin und ich werde leider ganz schön schnell wütend. Und Mathe kann ich fast gar nicht.” Außerdem gestand ich ihr, dass ich manchmal blöde Sachen anstelle, weil ich meistens gar nicht so wirklich weiß, was ich da eigentlich mache. Erst hinterher wird mir das klar, wenn ich Ärger kriege und wir darüber reden.

Ich habe das Mädchen dann gar nicht mehr gesehen. Später habe gehört, dass sie kein Alkohol mehr angerührt und ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat. Das hat mich wahnsinnig gefreut.

SUPPORT AT ITS BEST von Dr. Zock und Dr. Windhagen

Luca’s Wunsch zu erfüllen, über die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft aufzuklären, war uns sofort ein Bedürfnis. Wir kennen Luca gut und fanden seine Idee grossartig, eine Kampagne zu initiieren, damit das Thema Fetales Alkoholsyndrom eine breite Öffentlichkeit erreicht.
Wir erleben leider immer wieder, wie wenig über die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft bekannt ist. Die wenigsten wissen, welche irreversiblen körperlichen und vor allem geistige Schäden dem ungeboren Leben durch Alkohol zugefügt werden. Deshalb ist die Kampagne so wichtig und deshalb unterstützen wir sie von ganzem Herzen.
Da wir als Kinderarztpraxis ständig auch mit werdenden Müttern Kontakt haben, haben wir das gesamte Praxisteam mit den Kampagnen-Shirts ausgestattet. So können wir auch auf nonverbale Weise während der Arbeit immer wieder auf das Thema aufmerksam machen und dazu beitragen, dass in Zukunft weniger Babys mit schweren Handicaps auf die Welt kommen.
Wir hoffen sehr, dass weitere KinderärztInnen die Kampagne auf diese Weise unterstützen.
Und  wir von HAPPY BABY NO ALCOHOL bedanken uns bei den beiden sympathischen und engagierten Ärztinnen aufs herzlichste. Außerdem sind wir begeistert von der Idee, immer wieder Kampagnen-Shirt-Aktionen in der Praxis machen zu wollen.

Auch Frauke Ludowig unterstützt unsere Kampagne

Es war eine Selbstverständlichkeit für Frauke Ludowig, so dass sie keine Sekunde zögerte, unsere Kampagne unterstützen zu wollen. Für die sympathische und so unprätentiöse Moderatorin von RTL-Exklusiv ist es ein Herzensanliegen aufzuklären, dass es eine absolute Pflicht ist, während der Schwangerschaft keinen Alkohol zu trinken. HAPPY BABY NO ALCOHOL sei ein super Statement auf die Gefahr, das ungeborene Baby mit Alkohol zu schädigen, hinzuweisen. Ihre Kinder seien zwar schon groß. Trotzdem ist Alkohol in der Schwangerschaft ein Thema, das alle angeht. Auch wir finden, dass jeder mithelfen kann und sollte, Frauen zu ermuntern, während ihrer kompletten Schwangerschaft die Finger vom Alkohol zu lassen.

Herzlichen Dank nach Köln für diesen Support.

Menschen mit FAS verstehen

Familien mit FAS-Kindern können ein Lied davon singen, wie anders ihre Schützlinge ticken. Die von mir zusammen getragenen Beispiele dürften aber auch allen anderen Eltern nicht unbekannt sein – kann man diese oder ähnliche Geschichten auch bei kleinen Kindern oder unseren “viel geliebten Pubertieren” erleben. Der Unterschied zum Menschen mit FAS – bei ihm bleiben eben jene Verhaltensmuster ein Leben lang:

Das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene mit FAS….

…… gelobt hoch und heilig Besserung, doch eine Stunde später schon ist alles wieder Schall und Rauch

…… eignet sich hemmungslos Sachen an ohne zu fragen und verleiht diese dann auch noch fröhlich weiter

……. will stundenlang um die Anordnung eines Verbotes diskutieren – immer und immer wieder

…… steht nach dem Wecken zwar auf und macht sich fertig, legt sich dann aber in voller Montur wieder ins Bett und schläft weiter, wenn noch fünf Minuten Zeit bis zum Verlassen des Hauses sind

….. hat nahezu täglich zu beklagen, dass etwas kaputt oder verloren gegangen ist

…… isst unbekümmert und ohne jegliches Unrechtsbewusstein den kompletten Geburtstagskuchen des Bruders alleine

…… geht aus dem Haus ohne sich zu verabschieden und merkt das nicht

…… realisiert Schuldgefühle erst, wenn er darauf hinwiesen worden ist, was er getan hat

…. hat den Schrank gerade mit auf Kante gelegten Kleidungsstücken ordentlich gemacht, eine halbe Stunde später sieht der Schrank aus, als habe ein Einbrecher etwas gesucht

….. gibt bei Geschehnissen drei Versionen wieder, von denen eine glaubhafter ist als die andere, wahrscheinlich aber erst die zwölfte Version der Wahrheit entsprechen könnte

… schafft es immer, dass nach dem Zwiebel hacken die halbe Küche mit Zwiebelstückchen übersät ist

….. muss stets mehr Zeit einplanen, um wegzukommen, weil immer irgendetwas fehlt oder vergessen wurde

….. ist völlig aufgebracht, weil er für eine Tat zu unrecht beschuldigt worden ist, aber Minuten vorher bei genau der gleichen Tat erwischt worden war

…. braucht nur eine winzige Ablenkung, um die ihm aufgetragene Aufgabe, die bereits aufwändig begonnen worden war, komplett zu vergessen und in eine andere Welt abzutauchen.

Menschen mit FAS stoßen aufgrund ihres Verhaltens und Benehmens viel auf Ablehnung und Unverständnis. Was macht es so schwer, Menschen mit FAS zu verstehen und ihre Behinderungen als solche anzunehmen? Welchen Rat geben Sie?

Dr. Murafi:

Im besonderen ergibt sich Ablehnung aus der Diskrepanz der altersgemäßen Entwicklung hinsichtlich der körperlichen Reife und der Fähigkeit im Small-Talk, also der Alltagsschläue, zu brillieren, und den eben fehlenden Fähigkeiten, sich altersgemäß zu verhalten und den vorhandenen Begabungen entsprechend zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang wird allzu gerne Willentlichkeit unterstellt, der FAS-Betroffene verhalte sich aus Absicht unangemessen und weigere sich nur, seine Begabungen auszuschöpfen. Dadurch kommt eine moralische Komponente zum Tragen. Der FAS-Betroffene wird abgewertet, in der Folge wird sich von ihm distanziert.

Darüber hinaus ist auch Hilflosigkeit und Ohnmacht für alle Beteiligten ein unangenehmes Gefühl. Das führt zu viel Stress und Ärger. Die Anforderungen an Geduld und Ausdauer sind enorm. So kommt es im Beziehungskontext zum sogenannten High-Expressed-Emotion-System. Das bedeutet, dass sich die emotionale Interaktion zunehmend aggressiv aufschaukelt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die FAS-Betroffenen, da sie im Grunde eine hohe Neigung haben, sich anzupassen, zu gefallen und die richtigen Dinge zu tun.

(Gerade in Pflege- und Adopivfamilien mit FAS-Kindern ist dies noch bedeutsamer, da die Kinder sowieso das Gefühl haben nur Gast zu sein. Dass sie im Grunde nur geduldet werden, wenn sie die Erwartungen der sie großüzgig aufnehmenden Eltern erfüllen. Dies führt zu intensiven Spannungen und teilweise auch zu deutlichen Brüchen in der pubertären Entwicklung. Zuweilen kommt es auch zum Auseinanderfallen familiärer Kontexte, die bis dato gemeinsam gut funktioniert hatten.)

Es ist viel gewonnen, wenn sich alle, die mit FAS-Menschen zusammenkommen, klar machen, dass ihre Schützlinge keinesfalls einfach nur nicht wollen, dass sie opponieren nur des Opponierens Willen. Sie können nicht, weil sie aufgrund ihrer neurologischen und in Folge kognitiven Beeinträchtigungen nicht in der Lage dazu sind. Dabei ist es zudem wichtig zu realisieren, dass sich das auf die Lebensdauer hinaus betrachtet nicht ändern wird. Es handelt sich um irreversible Schäden im Gehirn, gegen diese weder Therapien noch Erziehung eine dauerhafte Chance auf Kompensation haben; allenfalls vorübergehend.

Menschen mit FAS brauchen deshalb immer wieder aufs Neue Unterstützung – nicht anders als Menschen mit körperlichen Handicaps. Wenn man sich alles das immer wieder aufs Neue vergegenwärtigt, erwächst automatisch ein größeres Verständnis. In der Folge sinkt die falsche Erwartungshaltung an den FAS-Betroffenen und steigert das empathische Umgangsvermögen.

Was hilft, sich in einen Menschen mit FAS hineinzuversetzen?

Dr. Murafi:

Es ist immer wieder wichtig sich vor Augen zu führen, dass die Handlungsmotive der Kinder positiver sind, als sie auf den Handlungsebenen und aufgrund ihrer Reaktionsweisen vermuten lassen. Die Kinder sind selbst Opfer ihrer Problematik, erleben sich selbst als hilflos und ohnmächtig. Deshalb benötigen sie hier Unterstützung, brauchen aber gleichzeitig klassifizierte Rahmenbedingungen und Halt gebende Beziehungen. Das heißt, dass es von großer Bedeutung ist, dass die Beziehung zu dem Kind nicht in Frage gestellt wird, egal, wie es sich verhalten hat.

Trotz allen Verständnisses für das Kind darf es nicht an der Klarheit von Anforderungen an das Kind fehlen und auch nicht an pädagogischen Konsequenzen.

Zu welchen grundsätzlichen pädagogischen Methoden raten Sie bei FAS-Kindern?

Dr. Murafi:

Zu keinen anderen als bei allen anderen Kindern auch – zu Klarheit, wohlwollender Konfrontation, sicherem Rahmen, einfach überschaubaren Konsequenzen, Entemotionalisierung im Bereich der pädagogischen Maßnahmen. Im besonderen die Bewahrung der positiven Beziehungsebene. Grundlage für eine pädagogische Führung der Kinder sind des weiteren die Entmoralisierung und in gewisser Weise die Reduktion der eigenemotionalen Betroffenheit.

Mit Sicherheit ist die grundlegende Haltung der Pädagogik von Heim Omar eine, die am ehesten hilfreich sein kann.

(Anm. : Heim Omar, gebürtiger Brasilianer, ist Psychologe, Publizist und Professor in Tel Aviv. Er entwickelte das Konzept der Neuen Autorität, die auf sieben Säulen basiert: Präsenz, Selbstkontrolle, Unterstützungssysteme, gewaltloser Widerstand, Transparenz und Widergutmachung)

Was hilft außerdem bei der Erziehung – Humor, Geduld, Gelassenheit, Ausdauer?

Dr. Murafi:

Tatsächlich hilft Humor, Geduld, Gelassenheit und Ausdauer sowie ein “Störungswissen”. Auf jeden Fall ist Selbsterfahrung bezogen auf den Umgang mit Hilflosigkeit und Ohnmacht von Vorteil. Wichtig sein sollte stets die kritische Reflexion der eigenen Motive in der Begleitung des Kindes. Unverzichtbar ist ein helfendes und stützendes Netzwerk um das Kind herum. Alleine ist das zumeist nicht zu schaffen und sollte auch nicht alleine versucht werden. Es braucht wirklich ein ganzes Dorf, um dem Kind das zu geben, was es braucht; und selbst das kann manchmal nicht reichen. Auf diesem Sektor einen adäquaten Umgang zu finden, ist mit Sicherheit der wichtigste Aspekt in der Begleitung der Kinder.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS geht alle an

“Die Thematik, dass Alkohol während der Schwangerschaft ein NO GO ist, darf nicht nur der jungen Generation überlassen bleiben, die in Zukunft Kinder bekommen wird. Nein, quer durch alle Altersschichten und egal welchen sozialen Hintergrund man hat – das Thema geht alle an.
Schließlich sind die älteren Generationen Vorbilder in dem Sinne, als sie den Jungen mit ihrer Haltung, ihrer Meinung zum Alkoholgenusss in der Schwangerschaft ein Beispiel sind. Wir Älteren sind es, die unsere Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen über die Gefahr von Alkohol für das ungeborene Leben sensibilisieren müssen – zu Hause am Esstisch, bei der Familienfeier, wo auch immer.
Es muss darüber gesprochen werden, was passiert, wenn die Schwangere Alkohol trinkt. Es muss jedem klar sein, dass ein Kind an den Folgen von Alkohol irreparabel behindert auf die Welt kommt. Das Fetale Alkoholsyndrom muss jedem ein Begriff sein. Erst dann wird sich etwas ändern. Dazu müssen wir alle beitragen und deshalb möchten wir mit den Shirts die Kampagne unterstützen und ein Beispiel geben. Wir hoffen sehr, dass andere es uns nachtun.”

Wir von HAPPY BABY NO ALCOHOL möchten an dieser Stelle applaudieren und uns für das auf den Punkt gebrachte Statement bedanken.

Die Schule – ein elender Kampf

Ich bin so froh, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Die letzten Jahre in der Schule habe ich gehasst. Es war ein einziger, elender Kampf, den ich nicht gewonnen habe. Lange hatte ich geglaubt, dass ich schaffe, was ich mir vorgenommen hatte – einen qualifizierten Abschluss mit Englisch zu machen.
An Ehrgeiz hat es mir nicht gefehlt. Als ich das Abschlusszeugnis der zweisprachigen Montessori-Grundschule in den Händen hielt, war ich noch guter Dinge. Ich hatte ganz ordentliche Noten, sprach fließend Englisch, las sogar lieber englische als deutsche Bücher. Nur beim Schreiben hatte ich Probleme, aber das war im Deutschen genauso.

Tja, dann kam ich nach der Grundschule auf eine öffentliche weiterführende Schule in die Förderstufe. Und das Unglück nahm seinen Lauf. Nicht nur, dass all das Neue, die vielen Schüler, die fremden Lehrer, die vollkommen andere Art des Unterrichts, mich extrem stressten. Hier sollte ich plötzlich alles eigenständig machen. Sie sagten immer, jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Jetzt ticken die Uhren anders. Damit konnte ich gar nichts anfangen.
Ich brauche jemand, der mich ermuntert, auffordert, mir hilft, mir erklärt, mir Hinweise gibt. Auf mich allein gestellt war ich komplett überfordert und hatte bald überhaupt keine Motivation mehr.

Ich konnte gar nicht mehr anders als wütend, aggressiv und frech zu sein. Ich konnte nichts dagegen machen. Das ging wie von selbst. Ich konnte mich selbst nicht stoppen.
Zuhause bettelte ich immer wieder, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Es gab unentwegt Gespräche – ich mit den Lehrern, meine Eltern mit den Lehrern, ich mit den Sozialarbeitern, meine Eltern mit den Sozialarbeitern.

Schließlich stand fest: Ich sollte eine besondere Unterstützung bekommen – andere Bücher als die anderen in der Klasse und eine besondere Lehrerin. Mit noch anderen Kindern bildeten wir eine kleine Gruppe zum Lernen und Arbeiten und schrieben kürzere und weniger schwierige Klassenarbeiten. Inklusionsprogramm nannte sich das. Die besondere Unterstützung gab es allerdings nur in den Hauptfächern. Ansonsten wurde ich wie alle anderen behandelt. Und immer wieder die Argumentation, wenn ich nicht konnte wie ich sollte: So sind eben die Anforderungen. Wir haben hier noch 22 andere Kinder. Irgendwann wird er es schon lernen. Er muss nur wollen.

Verdammt nochmal, ich wollte doch. Ich war doch nicht absichtlich unkonzentriert. Ich verstand doch nicht absichtlich nicht, was die Lehrer von mir wollten. Ich verlor doch nicht absichtlich ständig irgendwelche Schulsachen. Ich vergaß doch nicht absichtlich, was ich machen sollte. Ich brachte doch nicht absichtlich alles durcheinander.

Absichtlich war ich nur dann böse, wenn ich unter Druck geriet, wenn ich etwas nicht konnte, was von mir verlangt wurde, wenn ich ausgelacht wurde, wenn ich wieder alles vergessen hatte, wenn ich auch nach der dritten Erklärung immer noch nicht verstand, wenn ich mich schämte.
Ich war verzweifelt. Ich schwänzte immer wieder die Schule, suchte meinen Frust zu betäuben und drohte zunehmend auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Schulleitung glaubte, ich hätte kriminelle Tendenzen. Sie wollten mich der Schule verweisen. Meine Eltern waren fassungslos. Das, was da alles mit mir passierte, passte nicht zu ihrem liebevollen, fröhlichen und neugierigen Luca der vergangenen Jahre.

Mama erzählt immer wieder gerne die Geschichte, dass sie der Landesschulbehörde gedroht hat, dass sie sich so lange auf die Eingangstreppen des Verwaltungsgebäudes setzt, bis sie zustimmen, ihren Sohn in eine Förderschule schicken zu können. Das wollten die nämlich auf keinen Fall. Die sagten, dass es politisch gewollt sei, dass möglichst alle Kinder Inklusion bekommen und es Förderschulen irgendwann nicht mehr geben soll.
Um es abzukürzen: Mama saß nicht lange auf der Treppe.

Ich ging dann in die Förderschule und war zunächst tatsächlich froh. In manchem war ich sogar besser als die anderen hier und das war ein gutes Gefühl. Vor allem in Englisch konnte ich glänzen. Das aber nur am Anfang. Weil ich alles wusste. Das wurde langweilig. Und wie. Die lernten Zahlen und Farben und Einkaufen gehen, Kleidungsstücke und solche Sachen. Und die Lehrerin sprach nur Deutsch. Ich rebellierte. Dabei traf ich nicht den richtigen Ton. Ich konnte das selbst nicht stoppen. Die Lehrerin wollte mich nicht mehr unterrichten. Im folgenden Schuljahr hatte ich eine andere Lehrerin. Aber auch die unterrichtete Englisch auf Deutsch und so verlernte ich das Sprechen. Wenigstens das fließende Verstehen auf Englisch ist mir geblieben, weil ich viel englische Musik höre, englische Videos und auch Filme schaue.

Gut für mich war, dass die Klasse in der Förderschule sehr klein war. Und es beruhigte mich, dass die anderen auch alle ihre Probleme hatten. Alle brauchten Unterstützung und besondere Förderung.
Aber dann, dann wurde es immer schlimmer mit dem Vergessen.
Die Ärzte erklärten, dass ich jetzt leider wegen der Pubertät eine schlimme Phase mit dem Gedächtnis habe. Das Gehirn sei sozusagen im Umbau, wie eine Baustelle. Für Jugendliche mit FAS wirkt sich das noch schlimmer aus. Ich hatte immer größere Mühe mir Sachen zu merken, die ich lernen sollte. Hatte ich es dann drauf, sollte es am nächsten Tag wiedergeben, war es weg. Manchmal war es auch wieder da. Dann bekam ich gesagt, na also, geht doch, wenn Du es nur willst.
Das regt mich auf. Das hat doch nichts mit Wollen zu tun bei mir. Ich kann mein Wissen einfach nicht abrufen, wenn ich es möchte. Deshalb macht es mir keinen Spaß, theoretische Sachen zu lernen. In der Schule fiel das eben auch am meisten auf. Dann schämte ich mich, wurde wütend und oft aggressiv.

Die Abschlussfeier von der Schule war ein echter Freudentag für mich. Endlich vorbei. Nie wieder Schule. Jedenfalls so schnell nicht. Ich freute mich riesig, dass ich künftig arbeiten gehen würde. Das hatte ich schon bei den verschiedensten Schulpraktika gemerkt, dass das besser für mich war, wenn ich etwas Handwerkliches oder Pflegendes machen durfte.

Schmerzhafter Abschied von Zuhause

Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre ich zu Hause wohnen geblieben. Es war schwer, Abschied von meinem Zuhause zu nehmen. Nur noch an den Wochenenden zu Hause sein zu können und das noch nicht einmal an jedem, und auch nur einen Teil der Ferien bei meiner Familie und unseren Hunden sein? Statt dessen mit fremden Jugendlichen und Betreuern in einer Wohngemeinschaft leben? Nein, das wollte ich auf gar keinen Fall. So sehr ich mich dagegen sträubte, es half nichts.

Mein Arzt in der Klinik und alle anderen Betreuer dort hatten mir schon gesagt, dass es eine schmerzhafte Entscheidung für mich sein würde, aber definitiv das Beste. Ich hatte schon viel gelernt in der Klinik über mich und FAS und was es für mein Leben bedeutet. Genau deshalb war auch klar, dass ich in den kommenden Jahren noch sehr intensive Betreuung und Unterstützung rund um die Uhr brauchen würde.
Ich würde noch sehr viel lernen müssen, sehr viele alltägliche Dinge wie zum Beispiel morgens austehen und mich fertig machen, dass ich den Bus in die Schule nicht verpasse, dass ich mir etwas zu essen machen kann, dass ich nicht vergesse zu duschen, dass ich daran denke, regelmäßig die Tabletten zu nehmen. Sehr sehr wichtig ist auch, dass ich lerne mich abzugrenzen, mich nicht verführen lasse zu dummen Schandtaten, oder dazu die Schule zu schwänzen. Nein zu sagen fällt mir unglaublich schwer.

Orientierung ist für mich auch ein Riesenthema. Das lerne ich nur sehr langsam. Oje, und mit Geld umzugehen.
Naja, und es war auch klar, dass nach dem Aufenthalt in der Klinik nicht alles gleich rund laufen würde. Ich weiß ja selbst, dass ich teilweise unberechenbar bin, auch wenn das kein Vergleich mehr ist zu früher. Seit meiner Zeit in der Klinik bekomme ich Medikamente. Die tun mir gut. Ich merke das selbst an mir.
Ich kann mich besser kontrollieren, bin konzentrierter, bin nicht mehr daueraufgeregt, fühle mich nicht ständig im Ausnahmezustand. Ich bekomme auch nur noch Wutanfälle, wenn etwas ganz besonders schlimm für mich ist, wenn ich großem Stress ausgesetzt bin oder wenn ich mich überfordert fühle. Das geschieht schnell, weil die wenigsten Menschen wissen, mit was allem ich überfordert bin. Ich kann das fremden Menschen gegenüber nicht aussprechen, was es ist.

Ich habe schon eingesehen, dass ich zu Hause bei meiner Familie die für mich notwendige Betreuung und Unterstützung nicht bekommen könnte. Ein bisschen geholfen, die Entscheidung zu akzeptieren hat mir die Tatsache, dass ich auf eine andere Schule gehen konnte. In der alten, das war ja durch die Hetzjagd auf mich verbrannte Erde. Von all den Leuten dort wollte ich bis auf ein Mädchen niemand mehr wiedersehen. Trotzdem, ich war todunglücklich. Ich fühlte mich abgeschoben, auch wenn das nicht stimmt.

Geholfen hat mir, dass meine Mama ganz viel für mich da war. In den ersten Monaten haben wir uns auch jedes Wochenende gesehen. Sie war und ist immer für mich ansprechbar. Wir telefonieren täglich, das immer noch. Ich brauche das. Bis heute kommt sie zu Gesprächen in die WG, zu Gesprächen mit den Lehrern, fährt mit mir zu wichtigen Arzt- und Behördenterminen. Wenn ich in Not bin, kommt sie immer. Ich kann mich auf sie verlassen und ich kann alle wichtigen Dinge mit ihr besprechen. Das ist ein gutes Gefühl. Und sie hat fast immer die Hunde dabei. Die tun mir so gut.

Inzwischen habe ich ja auch Freunde dort, wo ich seitdem lebe. Inzwischen passiert es sogar manchmal, dass ich überlege, ob ich nach Hause fahre, oder ob ich lieber in der WG bleibe. Ich habe mich auch schon mal gegen einer Fahrt nach Hause entschieden. Meine Mama sagt, dass sei völlig in Ordnung und normal.
Aber es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis ich mich so gut gefühlt habe wie jetzt. Anfangs habe ich mich nur zurückgezogen. Nach der Schule bin ich sofort auf mein Zimmer und bin dort den ganzen Tag geblieben. Mit den Betreuern habe ich nur das Notwendigste geredet. Selbst mein Intensivbetreuer hat seine liebe Mühe gehabt an mich heranzukommen und mit mir klarzukommen. Der hat ganz schön viel mit meiner Mama telefoniert. FAS zu begreifen, das ist ganz ganz schwer. Das muss man lernen – als Betroffener und alle die, die mit einem zu tun haben.

Je älter Luca wurde, desto schwieriger gestaltete sich der Schulaufenthalt für ihn. Er ging in die Förderschule mit dem Ziel, einen qualifizierten Hauptschulabschluss zu machen. Zunächst war er noch zuversichtlich. Das sollte sich aber sukzessive ändern. Wie es Luca erging, erzählt er im nächsten Blog-Beitrag.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS-Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten

Die Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms ist selbst für Experten in vielen Fällen eine medizinische Herausforderung. Das liegt daran, dass die Diagnose sich nur vordergründig als einfach darstellt, etwa wenn das Kind körperliche Schädigungen aufweist – beispielsweise einen verminderten Kopfumfang, ein stark abgeflachtes Mittelgesicht, schmale Oberlippe oder Lidspalten, ein deformierter kleiner Finger, oder auch nach hinten gedrehte Ohren. Derlei körperliche Beeinträchtigungen müssen aber nicht zwingend im Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) begründet liegen. Sie können durchaus auf andere Ursachen zurückzuführen sein.

Insofern muss eine Diagnose zunächst einmal mit der Frage beginnen: Hat die biologische Mutter während der Schwangerschaft, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Dimensionen Alkohol getrunken? Dies im Nachhinein herauszufinden ist beim Großteil der Fälle schon allein deshalb nicht möglich, weil FAS-Kinder in den meisten Fällen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.
Und selbst wenn der Alkoholkonsum der Mutter bekannt sein sollte, ist eine gesicherte Diagnose dennoch schwierig. Hierzu bedarf es nicht nur einer eingehenden körperlichen Untersuchung, sondern zahlreicher Tests der Intelligenz, des Gedächtnisvermögens, der Konzentrationsfähigkeit.

Eine weitere, ganz wichtige Rolle bei der Diagnose spielen all diejenigen, die mit dem Kind leben, es großziehen. Das sind im wesentlichen die leiblichen, Pflege- oder Adoptiveltern, Verwandte, Erzieher in Kindergärten sowie Lehrer in Schulen und Sportvereinen. All ihre zusammengetragenen Erfahrungen über das Kind und ihre Beobachtungen sind hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeiten und damit der Diagnosestellung von immanenter Bedeutung. Es kostet also erheblich Zeit, die Diagnose stellen zu können.

Zur Erleichterung der Diagnose wurde 2013 die sogenannte S3-Leitlinie erstellt. Sie hat die einheitlich und wissenschaftlich basierten Kriterien gelistet. Erarbeitet wurde die Leitlinie von einer Kommission von Fachleuten der Kinderheilkunde, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Hebammen, Vorsitzenden von Fachgesellschaften und Elterninitiativen. Die Dokumentation wurde von Dr. Mirjam Landgraf und Professer Dr. Florian Heinen übernommen, unterstützt von der Bundesregierung.

Jenseits der Diagnostik körperlich eindeutiger Symptome – können Eltern von Babys oder Kleinkindern Beobachtungskriterien an die Hand gegeben werden, wie sie FAS am ehesten ausmachen?
Dr. Murafi:
Natürlich zeigen sich schon ganz früh Verhaltensauffälligkeiten. So kann die Reagibilität, das heißt die Reaktionsfähigkeit, wie das Kind mit äußerlichen Reizen umgeht, erhöht sein. Das bedeutet einerseits, dass sie leicht irritabel sind, zu vermehrtem Schreien neigen, das kaum stillbar erscheint. Auch Schlaf kann nicht regelmäßig stattfinden. Außerdem kommt es zu Fütterungsstörungen. Andererseits kann es dazu kommen, dass die Kinder eher schlapp wirken, wenig agil sind. Sie zeigen wenig Spontanmotorik, wenig Mimik, wenig Blickkontakt oder Resonanz.
Oftmals kommen Infekte dazu, fallen Hör- und Sehstörungen auf. Die motorische Entwicklungsverzögerung geht mit muskulärer Spannungsschwäche einher. So zeigt sich in der Folge eine Diskrepanz zwischen allgemeiner notorischer Unruhe und reduzierter, gezielter Fortbewegung der kleinen Kinder.

Was macht die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern so schwierig? Bei welchen Krankheitsbildern besteht die größte Verwechselungsgefahr?
Dr. Murafi:
Grundsätzlich muss man voranstellen, dass es sich bei dem Fetalen Alkoholsyndrom eben um ein Syndrom handelt, also um die Kombination unterschiedlicher Symptome zu einem immer wieder gemeinsam auftretenden Muster.
Diese Einzelsyndrome können natürlich auch im Rahmen anderer Syndrome, anderer unspezifischer Entwicklungen oder anderer Normvarianten auftreten. Das heißt, die Kriterien von Syndromen sind nur dann erfüllt, wenn eine bestimmte Anzahl der häufig vorkommenden Symtome gleichzeitig zusammentrifft.
Insofern kann es aufgrund der fehlenden Spezifität der Symptome schwierig sein, eine exakte Diagnose zu stellen.
Ganz am Anfang, direkt nach der Geburt, kann auch einmal eine Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) als Verwechselung mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auftreten. Diese geht ebenfalls mit Kleinwuchs und Gesichtsdysmorphien sowie schwerer psychomotorischer Entwicklungshemmung einher. Im Verlauf des ersten Lebensjahres ist eine Unterscheidung aufgrund der für Trisomie 18 schlechten Prognosen jedoch relativ eindeutig möglich.

Prinzipiell lässt sich aber sagen: Bei Zusammentreffen einer positiven Sozialanamnese für Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und den beschriebenen syndromtypischen Symptomen sollte heutzutage eine Diagnose relativ gut zu stellen sein.

Ist die Diagnose FAS oder FASD gestellt, welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Welcher Bedeutung kommt der medikamentösen Behandlung zu?
Dr. Murafi:
Die Therapie ist zumeist symptomatisch ausgerichtet, das heißt, dass je nach den körperlichen Beeinträchtigungen am Anfang operative Korrekturen zum Beispiel von Gaumenspalten, Herzfehlern, Hernien (Durchbruch von Baucheingeweiden) oder Korrekturen von Seh- und Hörstörungen im Vordergrund stehen.
Jegliche Förderung des jeweils behinderten Organsystems, zum Beispiel die motorische, die ergotherapeutische Förderung, etc. kann hilfreich sein.

Bezogen auf die Medikation kann sowohl die mitauftretende Hyperaktivität oder Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörung behandelt werden. Im späteren Verlauf gilt das auch für Affekt- und Impulskontrollstörungen, teilweise ebenso bei depressiven Entwicklungen oder vermehrten Stimmungsschwankungen.

Desweiteren ist auf die Komorbiditäten – zusätzliche Grunderkrankungen – zu achten. Nicht selten ist es so, dass Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom erleben mussten, dass ihre Mütter auch mit einer genetischen Disposition für psychiatrische Erkrankungen belastet sind – beispielsweise einer Depression oder einer bipolaren Störung, einer manisch-depressiven Erkrankung. Hier kann es im Rahmen der Krankheitsentwicklung auch nach der Schwangerschaft zu übermäßigem Alkoholkonsum der Mutter kommen.
Dann bedarf es der dringenden differentialdiagnostischen Einschätzung sowie der möglichen spezifischen Behandlung der komorbid vorhandenen Erkrankung.

Autorin: Dagmar Elsen

Chaos im Kopf bis Mama die Reißleine zog

Meine schöne Kindheit lag gefühlt so weit hinter mir. Ich kam mir eine Ewigkeit einsam und verlassen vor. Ich war froh unsere Hunde zu haben. Mit ihnen fühlte ich mich gut, ich konnte mit ihnen reden, ihnen meine Gedanken anvertrauen, sie hielten immer zu mir.

Eines Tages, als ich mal wieder die Schule schwänzte, gab es da auf einmal Jugendliche, denen war es egal wie ich war. Die sagten, “komm‘ doch mit” – die streiften durch die Gegend, rauchten, kifften, haben Getränkeautomaten kaputt getreten, im Kiosk Kaugummis geklaut, andere provoziert und sich mit denen geprügelt. Klar hab‘ ich da mitgemacht. Das konnte ich auch. Und endlich hatte ich wieder Freunde.

Angst? Ich hatte keine Angst. Vor was auch? Ich fand mich cool. Ich fand es sogar geil, aggressiv zu sein, ich habe ja nicht gewusst, dass das FAS ist. Heute weiß ich, dass mein Hirn diese Gefühle in mir ausgelöst haben. Ich hatte auch Null Gefühl für Zeit und Raum. Ja, wirklich, ich sehe Zeit nur bildlich, zum Beispiel wenn die Eieruhr läuft. Orientierung habe ich auch keine. Wenn ich den Weg nicht kenne, bin ich verloren. Naja, und Gedanken über Konsequenzen, was ich da alles anstellte, machte ich mir nicht. So weit habe ich da gar nicht gedacht. Oft war ich wie im Rausch unterwegs. Es war irgendwie nichts so richtig greifbar für mich. Ich bekam Ärger und Probleme ohne Ende.

Dann hat Mama die Reißleine gezogen. Ich kam auf einer Förderschule. Wieder war alles neu, alles anders. Aber wenigstens klein. Es wurde ruhiger. Aber nicht lange. Dann passierte etwas, was mich bis heute in Panik versetzt.

Mein damaliger Freund, zumindest dachte ich, es sei mein Freund, überredete mich, ein Mädchen klar zu machen. So hieß das. Eigentlich wollte er sie klar machen. Sie wollte aber nur mit ihm, wenn ich auch Sex mit ihr hätte. Das stimmte, das wusste ich von ihr. Sie war schon länger verknallt in mich. Ich aber wollte das eigentlich nicht. Es fühlte sich falsch an. Ich habe es trotzdem getan, weil mein Freund mich so sehr bedrängt hat. Er hat nicht aufgehört mich zu bedrängen. Ich war nicht in der Lage mich zu wehren, nein zu sagen.

Also haben wir es getan. Es ging ganz schnell. Es war scheußlich.

Ein paar Tage später, ich war mit Freunden unterwegs, rief meine Mama mich an. Die Kripo sei bei uns. Ich solle mit einem Mädchen gegen ihren Willen geschlafen haben.

Ich bin sofort nach Hause. Ich war außer mir. Es stimmte ja nicht. Aber so, wie es die Polizei behauptete, klang es ganz anders. Die machten Hausdurchsuchung. Die glaubten mir kein bisschen, die waren knallhart. Ich hatte so Mühe, die Geschichte gut wiederzugeben. Ich war total gestresst. Ich fühlte mich wie im falschen Film. Ich war verzweifelt, wütend, todunglücklich. Meine Mama auch.

Und alle haben dem Mädchen geglaubt und nicht mir. Von Mitschülern und allen möglichen anderen Leuten, das hat sich ja rumgesprochen wie ein Lauffeuer, wurde ich als Vergewaltiger beschimpft. Die haben mich gemobbt und verprügelt. Ich habe mich keine Sekunde mehr vor die Tür getraut.

Einige Tage später bekamen wir mitgeteilt, dass das Mädchen zugegeben habe, dass es von vorne bis hinten gelogen hatte und jetzt eine Anzeige bekäme wegen Vortäuschens einer Straftat. Da war ich schon längst in einer Klinik. Meine Mama hat mich ganz schnell aus dem Verkehr gezogen. Sie hatte es schon länger geahnt, aber jetzt war ihr endgültig klar geworden: Mit mir stimmt etwas nicht.

In der Klinik haben sie aber nichts besonderes feststellen können. Sie sagten, dass das alles mit meiner Vorgeschichte, meinen schrecklichen Erlebnissen und der Adoption zu tun habe. Mama hat nicht locker gelassen. Sie brachte mich in eine andere Klinik, weit weg in Münster. Seitdem weiß ich, dass ich FAS habe. Ich weiß auch noch genau, wie Mama mir erklärt hat, was genau FAS ist. Als sie gesagt hat, dass man es nicht heilen kann, war ich sehr wütend und traurig zugleich.

Drei Monate musste ich in der Klinik bleiben. Ich bekam Medikamente und ganz viele verschiedene Therapien, alleine und in der Gruppe. In der Kunsttherapie zum Beispiel haben wir Sachen gemacht, um unsere Gefühle auszudrücken. Bewegung war täglich mehrfach angesagt: Spazieren gehen alleine mit Betreuer oder in der Gruppe, joggen, Sporthalle, ja und reiten. Erst wollte ich nicht, aber dann fand ich es doch schön. Ach, und der Klinikhund. Den habe ich leider zu wenig bei mir haben können. Besonders gut gefallen und gut getan haben mir die Einzelgespräche mit den Ärzten. Während dieser Gespräche habe ich viel gelernt über mich und wie ich mit mir umgehen muss. Es klappt aber leider nicht immer, auch wenn ich mir Mühe gebe. Vieles realisiere ich gar nicht. Ich habe keinen Raum dafür in meinem Kopf. Ich kann es wirklich nicht, auch wenn ich mir Mühe gebe. Deshalb läuft in meinem Leben immer wieder so einiges schief. Es ist aber kein Vergleich zu früher. Darüber bin ich sehr froh.

Im nächsten Blog erzählt Luca, wie schwer die Entscheidung war von zu Hause wegzugehen, um fortan in einer betreuten Wohngruppe zu leben, und wie mühsam es war, sich in seinem neuen Leben zurecht zu finden. 

Autorin: Dagmar Elsen