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Die zwei Trugschlüsse zum Fetalen Alkoholsyndrom

Gut zwei Jahrhunderte lang wurde das Fetale Alkoholsyndrom in der Wissenschaft äußerst stiefmütterlich behandelt. Nicht einmal die Folgen der berühmten Gin-Epidemie im 18. Jahrhundert in England, die die Londoner Gesellschaft beinahe völlig in den Ruin getrieben hatte, vermochte die Geister der Forscher zu wecken. Hundertscharen von Kindern kamen damals mit teils derart schwerwiegenden Alkoholschäden auf die Welt, dass sie entweder nicht lange lebten oder ein Leben als Schwerbehinderte fristeten.

Erst sage und schreibe 1973 kam es in den USA zum populären Durchbruch. Die beiden US-Amerikaner David Smith und Ken Jones legten den Begriff Fetales Alkoholsyndrom fest. Schnell gewannen sie für das Thema eine hohe Aufmerksamkeit, die auch nach Europa schwappteNun betätigten sich auch deutsche Mediziner auf diesem Feld, allen voran Professor Ludwig Spohr von der Berliner Charité. Zu dieser Zeit und noch viele Jahre später glaubte man allerdings fälschlicherweise, dass sich leichte Formen des Fetalen Alkoholsyndroms auswachsen würden. Und erst 2013 gab die Weltgesundheitsorganisation Leitlinien für die Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms heraus.*

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich in den Köpfen der Menschen falsche Vorstellungen über den Genuss von Alkohol in der Schwangerschaft und seine Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes manifestiert haben.

Trugschluss 1: Das Fetale Alkoholsyndrom betrifft nur Suchtkranke

Noch über viele Jahrzehnte der neueren Zeit waren sogar Wissenschaftler und Mediziner der Überzeugung, dass geringe Mengen Alkohol in der Schwangerschaft keine nachhaltigen Folgen haben würden. Im Gegenteil. Man riet den Frauen sogar, gegen Kreislaufschwäche Sekt zu trinken, oder zur Beruhigung und Weheneinleitung Rotwein.

Folgerichtig wurde das Fetale Alkoholsyndrom vorzugsweise den Suchtkranken zugeordnet, Frauen also, die permanent und in großen Mengen Alkohol während der Schwangerschaft konsumierten. Außerdem jenen Frauen, die über mehrere Wochen nicht gewusst hatten schwanger zu sein, und größere Mengen Alkohol getrunken hatten. Schließlich gab es hinter vorgehaltender Hand noch die Fälle, wenn beispielsweise der Spaß beim Schützenfest ins sogenannte Binge-Drinking ausuferte.

Aber die Schwangeren, die gelegentlich ein oder zwei Gläschen zum Essen, zum abendlichen Genuss, zum Anstoßen bei der Taufe oder dem Geburtstag Alkohol getrunken hatten, die waren über jeden Zweifel erhaben. Nein, ein Schlückchen, das schadet nichts. “Und schau”, sagt die Mutter zu ihrer schwangeren Tochter, “aus Dir ist ja auch etwas geworden, obwohl ich während der Schwangerschaft mit Dir hin und wieder Alkohol getrunken habe.”

Das genau ist der Teufel im Fetalen Alkoholsyndrom: Weltweit weiß bisher keiner, welche Menge Alkohol unter welchen Umständen ungefährlich ist oder eben zu leichten bis hin zu schweren Behinderungen des Kindes führt. Es gibt Frauen, die sogar hochprozentigen Alkohol wie Wodka während der Schwangerschaft trinken und es passiert nichts. Andere trinken mal ein Gläschen Wein und es hat Folgen. Das bestätigen die Ergebnisse einer Studie der Forscherin Christina Chambers von der University of California. Dem New Scientist sagte sie: “Manche Frauen trinken ein Viertel Glas Wodka jeden Tag und das Kind kommt ohne Fetales Alkoholsyndrom auf die Welt.” Es gelte zu erforschen, was den Fötus im Mutterleib vor den Auswirkungen des Alkohols schützt.

Fakt ist und bleibt: “Wir wissen, dass nicht nur Kinder von alkoholkranken Müttern FAS bekommen, sondern die Kinder der Mütter mit mäßigem Alkoholkonsum FAS-typische Verhaltensweisen aufzeigen”, bestätigt der deutsche FAS-Forscher Dr. Reinhold Feldmann von der Uni Münster. Ab welcher Menge Alkohol “definitiv erste Schäden beim Baby entstehen, ist noch unklar”, sagt die Ärztin Elena Leineweber vom Hamburger Marienkrankenhaus.

Aus diesem Grund sind sich Experten weltweit einig: Nur der vollkommene Verzicht auf Alkohol während der Schwangerschaft gibt die Sicherheit, dass das Baby ohne Schäden auf die Welt kommt, die dem Alkohol zuzuordnen wären.

 

Trugschluss 2: Das Fetale Alkoholsyndrom ist ein Gesellschaftschichtproblem

“Es ist ein absoluter Trugschluss zu glauben, dass Frauen mit einem höheren sozialen Status oder aus akademischen Kreisen davon ausgenommen werden könnten. Ganz im Gegenteil. Studien haben ergeben, dass jede fünfte Frau mit hohem sozialen Status einmal die Woche riskante Mengen Alkohol trinkt”, stellt die Ärztin Elena Leinweber klar.** Dies bestätigt auch Dr. Reinhold Feldmann: “Alle Bevölkerungsschichten sind betroffen.” Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sei vor allem in gut gebildeten Kreisen verbreitet. “Die Bankiersgattin trinkt in der Schwangerschaft statistisch gesehen mehr als eine Frau aus einem sozialen Brennpunkt”, sagte Feldmann in einem Gespräch mit dem Schweizer Magazin WirEltern. Das liege daran, dass sogar Frauen in den gehobenen Bildungsschichten nicht bewusst sei, dass jedes Glas Alkohol während der Schwangerschaft zu viel sei, konstatierte auch der Mediziner und Entertainer Eckart von Hirschhausen in einer Gesprächsrunde des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv. Und weiter: “Es ist vielen Frauen nicht bewusst, dass Alkohol ein Zellgift ist und die Organe des Ungeborenen schädigen kann.”

Leider ist aber nicht nur die Unwissenheit der Grund. Gerade ältere und höher gebildete Frauen zeigen sich kritischer gegenüber Richtlinien, die absolute Alkoholabstinenz in der Schwangerschaft empfehlen, hat eine Forschergruppe um Angela Lupatelli von der Universität Oslo herausgefunden. Unter anderem deshalb, weil sie nach früheren Schwangerschaften, während der sie geringe Mengen Alkohol konsumierten, gesunde Kinder zur Welt brachten.

*mehr zur Historie des Fetalen Alkoholsyndroms unter https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2018/09/23/wann-fas-zum-thema-wurde/

**siehe dazu auch das Video “Schwanger mit Doktor Ela – Teil 2” auf unserer Homepage

Autorin: Dagmar Elsen

Schule zu Ende – Wohin des Weges?

Naht das Ende der Schulzeit, ist die Sorge der Eltern von Jugendlichen mit fetalen Alkoholschäden groß, wie es denn mit ihrem Sprössling weitergehen soll. Welchen Beruf soll er ergreifen? Schafft er eine Ausbildung auf dem Ausbildungsmarkt überhaupt? Ist es nicht besser, er geht arbeiten in einer Behindertenwerkstatt? Oder ist ein längeres Praktikum oder ein freiwilliges Soziales Jahr erst einmal eine Alternative? Zu einer Entscheidung zu kommen, fällt sowohl den Eltern als auch den Jugendlichen enorm schwer. Nichts scheint optimal zu passen. Wir haben dazu dem FAS-Experten Dr. Reinhold Feldmann, der an der Universität Münster lehrt und im FAS-Fachzentrum Walstedde arbeitet, einige Fragen gestellt.

Was macht es so schwer? Woran liegt es, dass FAS-Betroffene gern als Wanderer zwischen den Welten beschrieben werden?

Dr. Feldmann:
Viele Menschen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom treten durchaus eloquent auf. Sie wirken zunächst recht kompetent. Sie überschätzen sich oft auch selbst. Deshalb werden Angebote aus der Behindertenhilfe werde verweigert – „Ich bin doch nicht behindert!“ Allerdings ist Fakt: Ausbildungsangebote des „ersten“ Arbeitsmarktes überfordern.

Worauf ist grundsätzlich und im besonderen zu achten, wenn Eltern für und mit ihrem Kind überlegen, wie es nach der Schule weitergehen soll?

Dr. Feldmann:
Sowohl Eltern überschätzen den betroffenen Jugendlichen, als auch der Jugendliche selbst überschätzt sich oft. Nicht selten haben wir die Situation, dass ein Schulabschluss vorliegt, der aber bei genauem Hinschauen erahnen lässt, dass dieser eher dem Wohlwollen der Schule („Jedes Kind braucht braucht einen Abschluss“) und dem Engagement der Eltern geschuldet ist. Gleichwohl ist der Abschluss ja eine offizielle Aussage. Um so mehr kränkt dann der Gedanke an eine vereinfachte Ausbildung oft alle Beteiligten. So ist nur allzu häufig zu hören: „Warum habe ich denn jahrelang täglich mit ihm die Hausaufgaben gemacht, wenn unser Kevin jetzt in eine Werkstatt soll!?“ Der Versuch einer Regelausbildung oder des Besuches des Behindertenbildungswerkes kann dann zu einer Niederlage geraten, die vermeidbar gewesen wäre.
Nach unseren Studien werden Jugendliche bis zu sechsmal in immer neue Ausbildungsversuche gesteckt. Die Betroffenen gehen am Ende mit einem schlechten Selbstbild, teils mit depressiven Störungen durch diese Fehlversuche.

Gibt es Berufe, die sich für Menschen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom besonders eignen?

Dr. Feldmann:
Berufe, in denen klare Strukturen und „greifbare“ Arbeit angeboten werden, z.B. Garten- und Landschaftsbau oder Hauswirtschaft. Menschen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom sind oft sehr hilfsbereit, zudem haben sie häufig ein gutes Verhältnis zu Tieren. Es ist aber immer zu bedenken, dass sie selbst wenig vorausschauend planen und wenig Verantwortung übernehmen können. Das bedeutet etwa, das Pflege-Helfer-Tätigkeiten in einem bestimmten Rahmen geeignet sind.
Letzten Endes ist aber jede handwerkliche Tätigkeit geeignet, wenn die Hinführung und Begleitung geduldig abläuft. Und das gelingt oft gut über Werkstätten mit Vertragsunternehmen.

Wie sollte eine Ausbildung optimal gestaltet sein?

Dr. Feldmann:
Geduldig, wiederholend, beschützend. Daraus ergibt sich deutlich, welche Formen nicht infrage kommen. Viele Menschen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom kommen übrigens erst in berufsbildenden Maßnahmen mit Drogen in Kontakt – und sind dann die ersten, die erwischt und vom Berufsbildungswerk ausgeschlossen werden. Es muss jedoch nicht in jedem Fall eine Werkstatt für Menschen mit einer Behinderung Thema sein, wenn eine Ausbildung andernorts verständig läuft. Der Ausbilder muss bereit sein, zu wiederholen, Rückschläge einstecken können, Widerworte und Angriffe ertragen und Fehlzeiten dulden.

Autorin: Dagmar Elsen

Vom Ausnahmezustand zum doppelten Familiengefühl

Vater, Mutter, fünf Kinder, drei davon schwerhörig, zwei davon haben das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), hinzu kommen fünf Hühner und eine Katze. Die ältesten drei Söhne, Nono* (13), Mäx* (11) und Feivel* (6), sind leibliche Kinder, die beiden jüngsten hörgeschädigt, Pflegesohn Liu* (3) nicht, dafür seine leibliche Schwester Tia* (1). Die beiden Pflegekinder sind in ganz unterschiedlicher Form alkoholgeschädigt. Als Mutter Anine* und ihr Mann Hannes* ihren Sohn Liu in Pflege nahmen, wussten sie nicht, dass er schwere Hirnschädigungen aufgrund von Alkoholkonsum der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft davon getragen hat, geschweige denn eines Tages ein weiteres alkoholgeschädigtes Kind, das obendrein hörgeschädigt ist, in der Familie haben würden, die kleine Tia.

“Uns war klar, was das Fetale Alkoholsyndrom ist”, sagt die Sonderpädagogin. Deshalb hatten wir auch bei der Bewerbung für eine Pflegschaft für uns ausgeschlossen, ein Kind mit FAS aufzunehmen. “Aber was es exakt bedeutet, mit einem FAS-Kind zusammenzuleben, das wissen wir erst seit dreieinhalb Jahren”, gibt sie zu. Dennoch: “Es sollte wohl alles so sein und es passt genau”, sagt die 37 Jahre alte Mutter, die gemeinsam mit ihrem gleichaltrigen Mann, ebenfalls Pädagoge, die Herausforderungen des Lebens positiv angenommen hat. So verrückt es klingen mag, aber: “Genau diese Gesamtkonstellation vermittelt allen ein doppeltes Familiengefühl.”

Bis zu dieser zuversichtlichen Lebenshaltung, bei der, das soll nicht unerwähnt bleiben, nach wie vor die Angst im Nacken sitzt vor dem, was alles noch kommen wird, war es ein harter Weg. “Ja, wir mussten auf allen Ebenen kämpfen – um die richtige Diagnose, um Unterstützung, um Hilfsmittel, um den Pflegegrad … ich glaube, da ist auch erstmal kein Ende in Sicht. Im Widersprüche schreiben sind wir aber immerhin mittlerweile Profis“, stellt Anine mit einer fröhlichen Portion Zynismus klar.

Bezeichnender Weise war es der 09.09.2015, dem offiziellen Tag des alkoholgeschädigten Kindes, an dem der damals sechs Monate alte Liu in das Leben der Kölner Familie trat, und dieses nachhaltig verändern sollte. Anine und ihr Mann spürten von Anfang an Etwas, aber dieses Etwas konnten sie nicht dingfest machen. “Dieser Blick, der irgendwo zwischen ganz tief in die Seele und durch einen durchsehen lag, manchmal neugierig, manchmal teilnahmslos wirkte”, erinnert sich die Sonderpädagogin. Dabei sei es ein augenscheinlich gesunder Junge von normalem Gewicht gewesen. Rückblickend glaubt die Fünffach-Mama, dass man es von Anfang an hätte realisieren können. Vielleicht sei man ja sogar schon vorher über gewisse Auffälligkeiten gestolpert – den starken Tremor nach der Geburt, das bedürfnislose Verhalten des Säuglings, die syndromtypischen Gesichtsmerkmale, die ersten Stereotypen.

Möglicherweise würde es jetzt schon die alles entscheidende Unterschrift der leiblichen Mutter geben, wenn sich “mal jemand getraut hätte, nicht um den heißen Brei herumzureden”, stellt die 37jährige klar. Statt dessen spielten sich zu Hause kräftezehrende Dramen ab. Die Familie lebte im permanenten Ausnahmezustand. Das Kind schrie immer wieder am Tage wie in der Nacht von jetzt auf gleich völlig hysterisch los und ließ sich kaum beruhigen, es schlug mit dem Kopf gegen Wände, es biss sich selbst und riss sich die Haare aus. Der Junge litt unter Schlaflosigkeit und täglich wiederkehrenden Panikattacken. Als er mit zehn Monaten laufen konnte, schmiss er sich dauernd mit dem Gesicht nach vorn ohne Schutzreflex auf die Erde, nichts war vor ihm sicher, er konnte keine Sekunde sich selbst überlassen bleiben. Das arme Kind stand ständig unter hohem Stress, wahrscheinlich die Ursache für seine Stoffwechselprobleme. Sie führen bis heute dazu, dass er bis zu sieben Mal am Tag das große Geschäft in die Windel erledigt. “Wir waren nur noch in Bereitschaft, immer dem Kind hinterher”, beschreibt Anine die Situation. Reaktionen der Außenwelt? “Neben Unverständnis wurde unsere Erziehungsfähigkeit zum Teil in Frage gestellt”, erzählen die beiden und bekamen obendrein unterstellt, dass es mit leiblichen Kindern bestimmt anders laufen würde. Ein Schlag ins Gesicht.

“Nach einem Jahr waren wir an dem Punkt, an dem wir nicht mehr wussten, ob wir das schaffen”, gesteht die 37jährige. Es war eine innerliche Zerreißprobe. Schließlich gab es noch die anderen Kinder und es gab das Ehepaar selbst. Man konnte und wollte nicht riskieren auseinanderzubrechen. “Wir stellten uns noch einmal neu in Frage. Unter Tränen entschieden wir uns ein zweites Mal für Liu”, erzählt Anine. Dies jedoch unter der Prämisse, dass alle Unterstützung und Hilfe mobilisiert werde, die das Sozialsystem hergebe – ohne Wenn und Aber, ohne persönliche Selbstzweifel.

Sagt sich so leicht, war es aber nicht. Es artete in einen kräftezehrenden Ärzte- und Klinikmarathon mit -zig Teildiagnosen aus, denn noch verfügte das Kölner Ehepaar nicht über eine FAS-Diagnose. “Unserem Jugendamt fehlten zeitliche und fachliche Ressourcen, um uns ausreichend zu unterstützen und aufzufangen“, stellt Anine klar, “die Mitarbeiter dort waren zwar persönlich sehr nett, aber mit dem Umfang der für uns notwendigen Unterstützung definitiv überfordert.” Durch Glück gelangten sie an einen kompetenten Arzt in der Frühförderung, der die entsprechenden Weichen stellte. Die nächste gewinnbringende Beratung erhielt das Elternpaar bei dem Verein “Wir für Pänz” in Köln**. Inzwischen sind Anine und ihr Mann bei einem auf das Fetale Alkoholsyndrom spezialisierten Träger angedockt, dem Erziehungsbüro Rheinland***. Hier erhalten sie hilfreiche Supervisionen, gibt es Arbeitsgruppen und Fortbildungen.

Das erleichterte die Herzens-Entscheidung, als es im vergangenen Jahr um die Frage ging, ob man die leibliche Schwester von Liu, die kleine Tia, auch noch aufnehmen solle. “Bauchschmerzen hatten wir schon dabei”, gesteht Anine. Aber zulassen, dass die Geschwister getrennt voneinander untergebracht und aufwachsen würden? Nein!

Das Schicksal hat es am Ende des Tages gut gemeint mit der Kölner Großfamilie: Während Liu immer mit Vollgas unterwegs ist, ist die kleine Schwester ein zartes, eher ruhiges Mädchen. “Sie ist ein Segen”, sagt die Mutter, “sie ruht in sich und nimmt alles ganz gelassen.” Alle Kinder sehen sich als Geschwister an. Niemand genießt eine Sonderstellung. Jeder hat sein Lieblingsgeschwisterkind wie das in anderen Familien auch so ist, wobei die beiden Jüngsten eine ganz besondere Bindung zueinander haben. Und dann gibt es natürlich noch das besondere Band, das die Familie zusammenhält: aufgrund der Schwerhörigkeit von gleich drei Kindern die besondere, bilinguale Kommunikation mit deutscher Laut- und Gebärdensprache untereinander, das wohl wissende Verständnis füreinander aufgrund der verschiedenen Handicaps und der familieneigene Humor, der sich entwickelt hat, um der Tragik des Lebens zu trotzen.

 

Drei leibliche Kinder, zwei Pflegekinder, hörgeschädigte Kinder, Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom – wie wird das Elternpaar Anine und Hannes hinsichtlich der Ihrer Erziehung allen gerecht? Habt Ihr ihn ändern müssen?

“Ja, wir mussten unseren Erziehungsstil ändern, oder eher erweitern. Wir müssen für Liu viele Entscheidungen treffen, die die anderen Kinder in dem Alter selbst getroffen haben. Ein Kind mit FAS bindungsorientiert zu erziehen, ist eine besondere Herausforderung. Liu braucht von uns eine ganz klare Verlässlichkeit, die keine Ausnahmen beinhaltet, oder nur solche, die wir zur Not immer tragen könnten. Er braucht einen klaren, nicht verhandelbaren Rahmen, in dem sicher gestellt ist, dass er andere nicht verletzt, der ihn aber ebenso schützt – vor sich selbst und vor den anderen. Das ist ein ganz besonderer Erziehungsauftrag, der unserer Meinung nach aber leider auch oft genug gegenüber behinderten Kindern zu autoritär ausgeführt wird.

Ein Schlüsselsatz aus dem Buch “Herausforderndes Verhalten vermeiden” von Bo Hejlskov Elven (dänischer Psychologe) ist: “Menschen, die sich richtig verhalten können, werden es auch tun.” Darin steckt so viel Botschaft: Dass herausforderndes Verhalten erst einmal mich herausfordert, und nicht, wie es oft suggeriert wird, automatisch provozierendes Verhalten ist. Nur weil es mich persönlich provoziert, muss es nicht die Intention des Kindes sein mich zu provozieren. Es gilt herauszufinden, was das Kind braucht, um sich anders zu verhalten, und dann darauf aufzubauen zu können. Es ist wichtig, von dem Gedanken wegzukommen, wer denn Schuld trägt an dem Verhalten. In den Augen der Lehrer und Erzieher sind es die unfähigen Eltern; und umgekehrt. Und so dreht man sich im Kreis und wird sicher keine Lösung finden. Kreatives Querdenken ist da definitiv die bessere Lösung.

Dass wir für die beiden Jüngsten klare und strukturierte Verhältnisse schaffen, bedeutet aber nicht, dass wir als Familie einen völlig durchgetakteten Alltag haben. Im übrigen haben die drei Älteren ja das Recht, durchaus auch mal Chaos und Leichtigkeit zu erleben. Wir versuchen es für alle schön zu machen im Leben – da muss eben mal der eine, mal der andere Kompromisse eingehen.”

Was fehlt Euch ganz besonders während des Lebens und für das Leben mit FAS-Kindern?

Anine: “Aufklärung!

Viele Menschen wissen nichts oder sehr wenig über das Fetale Alkoholsyndrom. Die, denen es etwas sagt, können meist nur von gescheiterten Pflegefamilien-Verhältnissen und später suchtkranken und kriminellen Jugendlichen erzählen. Eine Realität, die ich nicht verdrängen möchte, die aber nicht in Stein gemeißelt sein muss.

Insgesamt betrachtet ist FAS eine unglaublich tabuisierte Behinderung. Betroffene werden vorverurteilt und abgelehnt, oder ihre Behinderung als Modeerscheinung degradiert. Das macht sie und ihre Familien zu Einzelkämpfern.

Ich glaube, mit dem richtigen Netz aus Hilfsangeboten können auch FAS-Kinder viel erreichen. Damit meine ich eher Schutz- und Begleitungs-, als Therapiekonzepte. Bei jedem Therapieangebot für FAS-Kinder muss sich immer wieder bewusst gemacht werden, dass die Behinderung durch keine Therapie der Welt ‘wegtherapiert’ werden kann. Wechselnde Therapien, Außer-Haus-Termine – all das ist sehr anstrengend für ein FAS-Kind. Weniger ist oft mehr.”

 

Die Kinder:

+ Der 13 Jahre alte, leibliche Sohn Nono erfreut sich bester Gesundheit, mag Fußball und Volleyball und geht aufs Gymnasium

+ Mäx, leiblicher Sohn, ist 11 Jahr alt und besucht die Realschule für Hören und Kommunikation, denn er ist verschlechternd tieftonschwerhörig. Sein Herz schlägt für Move Artistic.

+ Der dritte leibliche Sohn Feivel ist 6 Jahre alt, besucht die Vorschule einer Förderschule für Hören und Kommunikation. Er hat AVWS (Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung) mit Verdacht auf verschlechternde Tieftonschwerhörigkeit. Außerdem erlitt er unter der Geburt eine Asphyxie (drohender Erstickungszustand durch Absinken des arteriellen Sauerstoffgehalts) aufgrund einer Schulterdystokie. Wenn Feivel nicht gerade draußen spielt, dann schnitzt, hämmert und leimt er mit Vorliebe an seiner Werkbank.

+ Der 3jährige Pflegesohn Liu hat FAS mit folgenden Auswirkungen: autistische Züge, frühkindliche Traumatisierung, entwicklungsverzögert mit Impulskontrollstörungen, selbststimulierendes und selbstverletzendes Verhalten, kaum Gefahrenbewusstsein, Echolalie, Stereotypien, demenz-ähnliche Zustände. Liu erfüllt im diagnostischen Zwei-Säulen-Modell 100 Prozent auf der Verhaltensebene, hat aber wenig äußerliche Auffälligkeiten und kaum körperliche Einschränkungen; lediglich im feinmotorischen Bereich. Er hat FAS-typische Gesichtszüge, aber einen sehr großen Kopfumfang. Er schielt und ist weitsichtig, weshalb er eine Brille trägt. Er ist schwerbehindert mit 80 Prozent und den Merkmalen G,B,H und Pflegegrad 3. Liu spielt gerne Fußball, mag Eisenbahnen und Busse.

+ Pflegetochter Tia ist ein Jahr alt und leidet an Innenohrschwerhöhrigkeit mit Hörbahnreifeverzögerung. Sie durchlitt nach der Geburt einen Amphetaminentzug, der im ersten Jahr monitorüberwacht wurde. Die Beeinträchtigungen durch das Fetale Alkoholsyndrom bisher sind zwei mittlerweile verwachsene Löcher im Herzen, deutliche Nierenvergrößerung, aber mit guter Rückbildung. Tia ist körperlich deutlich hypoton und leicht entwicklungsverzögert. Positiv: Ihr bisheriges Bindungs- und Sozialverhalten ist sehr gesund.

*Namen sind zum Schutz der Familie geändert

** “Wir für Pänz” in Köln ist eine Beratungseinrichtung, die sich seit 25 Jahren um Familien mit Kindern kümmert, die chronisch krank sind, behindert oder entwicklungsverzögert. www.wir-fuer-paenz.de

*** Freier Träger Erziehungsbüro Rheinland: www.erziehungsbuero.de

Autorin: Dagmar Elsen

Nach der Schule ins rettende Q+B-Projekt

Schule vorbei – was nun? Interessen hatte ich immer schon viele. Schon als Kind habe ich mich für viele verschiedene Berufe begeistern können. Tierpfleger war dabei, Schauspieler, Motorradrennfahrer und Feuerwehrmann. Besonders hoch im Kurs stand Forscher oder Arzt. Als “Dr. Klein” im weißen Kittel, bewaffnet mit meinem Arztkoffer, habe ich von meiner Omi über den Hund, meinen Bruder bis hin zu den Kröten am Teich jeden untersucht und verarztet, der mir nur in die Quere kam. Aber ohne Hauptschulabschluss in der Tasche und dem Wissen, dass Schule für mich das pure Disaster ist, war guter Rat teuer. In der Behindertenwerkstatt, in der ich Schulpraktika im Handwerksbereich gemacht hatte, fühlte ich mich überhaupt nicht wohl. Die Aufgaben waren auf Dauer eintönig und ich habe mich schnell gelangweilt. In irgendeinem Betrieb einen Aushilfsjob annehmen, das kam auch nicht in Frage.

Die Rettung für mich war der Vorschlag, im Rahmen des Q+B-Projektes* arbeiten zu gehen. Ich entschied mich für die Arbeit im Pflegebereich. Ich hatte während der Schulzeit schon zweimal ein Praktikum in einem Altenwohnheim gemacht. Das hatte mir Spaß gemacht.

Letzten Sommer habe ich in einem Pflegeheim angefangen, in dem Menschen mit psychischen Problemen leben. Das gefällt mir sehr, ich fühle mich richtig wohl, konnte von Anfang an sehr viel, habe auch schon eine Menge dazugelernt, ich schwänze nie und es kam mir noch nie in den Sinn das Ganze abbrechen zu wollen. Das ist ein gutes Zeichen, denn wenn man FAS hat, dann hat man auch Probleme mit dem Durchhalten.

Für die erste Zeit, zum Einarbeiten und Eingewöhnen, bin ich für den hauswirtschaftlichen Bereich eingeteilt worden. Die ersten Monate habe ich nur vier Stunden täglich gearbeitet. Ich war zwar der festen Überzeugung, dass ich locker acht Stunden würde durchhalten können, da mir die Abläufe in einem Pflegeheim schon vertraut waren. Aber meine Mama war strikt dagegen. Sie sagte, dass viel Neues auf mich zukommen würde. Neues ist immer anstrengend für mich. Und da ich eh große Probleme mit der Konzentration habe, bin ich schnell überfordert.

Sie hatte recht, das muss ich zugeben. Es lief ja auch nicht alles glatt in den ersten Wochen. Das Schlimmste war, dass die Teamkollegen und Bewohner dort alle dachten, dass ich “normal” bin. Erstens sieht man mir ja kein Handicap an. Zweitens konnte ich problemlos all die Arbeiten ausführen, die ich aufgetragen bekam. Meine Stationsleiterin war begeistert. Sie fragte mich schon nach den ersten Tagen, ob ich nicht länger arbeiten könnte und auch im Schichtwechsel. Mama schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich ihr stolz davon erzählte.

Einerseits tat die Anerkennung ja gut. Andererseits bekam ich unentwegt neue Aufträge, oft genug zwischen Tür und Angel, was ich zwischendurch schnell mal noch tun sollte. Ich war unentwegt am Rennen, vergaß dann auf den Wegen, welche Arbeit ich gerade getan hatte und fortsetzen müsste, wenn ich von dem neuen Auftrag zurückgekommen war. Ich sagte aber nichts, da ich so Angst hatte, dass man mich dann vielleicht rausschmeißen würde. In meiner Not habe ich mich einmal sogar in ein Zimmer eingeschlossen, damit mich keiner stören konnte, bis ich alle Wäsche zusammen gelegt hatte.

Weil ich alles so gut konnte, sollte ich auch gleich schon Patientenbegleitung zum Arzt übernehmen. Tja und dann standen wir vor der Praxis und der Mann weigerte sich reinzugehen. Er wollte, dass ich ein Taxi bestelle und mit ihm zurückfahre. Ich hatte gar kein Geld dafür. Und er war nicht zu beruhigen. In meiner Not rief ich meine Mutter an. Sie regelte die Situation und versprach mir, mit der Leiterin des Q+B-Projektes zu reden. Seitdem gibt es einen festen Tages- und Wochenplan für mich, in dem meine Arbeiten festgelegt sind und den ich abarbeite. Ich habe einen Bewohner zugeteilt bekommen, um den ich mich täglich kümmere. Wenn es Probleme gibt, dann habe ich einen Tutor, an den ich mich wenden kann. Sobald alles routiniert und gut läuft, bekomme ich mehr Aufgaben und mehr Verantwortung.

Inzwischen arbeite ich nicht mehr täglich vier, sondern sechs Stunden. Anfangs hatte ich ein bisschen Bammel, ob ich das schaffe. Aber es funktioniert ohne Probleme. Nun gehe ich die nächste Steigerung an: Ich werde zweimal im Monat an einem Samstag arbeiten. So soll das immer wieder gesteigert werden, bis ich bei acht Stunden bin und auch einen kompletten Wochenenddienst übernehmen kann. Wenn ich 18 Jahre bin, dann darf ich auch im Spätdienst arbeiten.

Die Arbeit in der Pflege mache ich deshalb so gerne, weil ich viel selbstständig arbeiten kann, weil es neben Routine auch viele andere unterschiedliche Aufgaben zu erledigen gibt. Und weil die Menschen sich freuen, dass ich da bin und ihnen helfe. Klar, habe ich auch manchmal Stress mit Bewohnern, weil die schlechte Laune haben und mich anschreien und böse Sachen sagen. Aber ich lerne immer besser damit umzugehen, weil ich außerdem weiß wie das ist, wenn der Kopf außer Kontrolle gerät.

 

*Qualifizierung und Beschäftigung junger Menschen (Q+B) – ein Projekt des Europäischen Sozialfonds

FAS-Betroffene sind in ihrer Entwicklung mit Jugendlichen ihres Alters nicht vergleichbar. Durchschnittlich wird davon ausgegangen, dass ein FAS-Betroffener den Entwicklungsstand eines 18jährigen erst mit 25 Jahren erreicht hat. Das bedeutet, dass vom FAS betroffene Schulabgänger allein hinsichtlich dieses Aspekts noch nicht in der Lage sind, eine Ausbildung erfolgreich zu absolvieren.

Die Q+B-Maßnahme der EU ist ein Projekt, das ideal ist für Menschen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom, weil es ihnen Zeit gewährt, die sozialen und beruflichen Kompetenzen auszutesten und zu formen.

In vielen Bundesländern in Deutschland wird die “Förderung der sozialen Inklusion und Bekämpfung der Armut und jeglicher Diskriminierung” (Art. 9 Abs. 1 Nr. 9 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013) in Anspruch genommen. Im Vordergrund steht die Erweiterung des Berufswahlspektrums für eine Ausbildung oder Arbeit. Das heißt im Klartext, dass den Probanden die Möglichkeit gegeben wird, die eigenen Stärken und Fähigkeiten zu erkennen, indem verschiedene Berufsfelder im zumutbaren Modus erprobt werden können. Das Gute ist, dass die Stabilisierung der Persönlichkeit der Q+B-Teilnehmer intensiv sozialpädagogisch begleitet wird. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, die Maßnahme sehr individuell zu gestalten. Dies hinsichtlich der zeitlichen sowie der mentalen Belastbarkeit und auch der Entscheidung, wann ein berufsschulbildender Einsatz Sinn macht.

Die Q+B-Maßnahme empfiehlt sich, im Rahmen der Beratungen mit der Agentur für Arbeit anzusprechen.

Natürlich ist bei der Q+B-Maßnahme wie sonst auch vonnöten, dass sich Eltern und/oder Betreuer der FAS-Schützlinge aktiv an der Maßnahme beteiligen, da das Fetale Alkoholsyndrom mit seinen Auswirkungen nicht überall als bekannt vorausgesetzt werden darf. Ein enger Austausch mit dem die Maßnahme betreuenden Pädagogen ist unabdingbar.

Autorin: Dagmar Elsen

Fünf-Stunden-Marathon bei der Arbeitsagentur – ernsthaft?

Schluss mit Schule, was nun? Bevor ich das Abschlusszeugnis der Förderschule in der Tasche hatte, ging es los mit Terminen bei der Agentur für Arbeit. Die sollten mir helfen und sagen, wie es weitergehen soll mit mir. Ein besonders wichtiger Termin war, als auch meine Mama kam, mein Intensivbetreuer und meine Klassenlehrerin teilnahmen.

Es wurde wahnsinnig viel geredet und besprochen, vor allem, was es mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf sich hat und dass das auf dem Arbeitsmarkt schwierig werde, weil ich mit meinem Handicap zwischen allen Stühlen sitze. Ich verstand nur die Hälfte und behalten konnte ich mir nur wenig. Was ich noch gut in Erinnerung habe, wie meine Mama die Hände über dem Kopf zusammen schlug, als man ihr sagte, ich solle allein in die Agentur für Arbeit kommen und fünf Stunden getestet werden. Allein? Fünf Stunden? Ich selbst habe ja kein Zeitgefühl, aber durch die Reaktionen meiner Mama war klar: Das ist definitiv zu lang.

Mama hat viel mit meinem FAS-Arzt gesprochen. Der hat dann einen langen Brief geschrieben mit vielen Erklärungen zu mir und ganz allgemein über FAS. Mama beruhigte mich, dass ich mir keine Sorgen machen solle. Das machte ich mir dann auch nicht.

Es kam der Tag, an dem wir zusammen zu dieser Untersuchung in die Agentur zur Arbeit gefahren sind. Ich war froh, dass Mama dabei war. Ich war aufgeregt. Angst hatte ich aber nicht. Wir saßen bei einer Frau, die ganz viel von mir wissen wollte. Ich war aber nicht in der Lage das alles zu beantworten. Ich verstand nicht so wirklich, was sie alles von mir wollte und bat Mama zu erzählen. Jedenfalls hatte ich bei der Frau das Gefühl, dass sie uns wohl gesonnen war und auf das eingegangen ist, was Mama gesagt hat.

Nach einer Weile musste ich mich allein in einen großen Raum setzen und jede Menge Aufgaben lösen. Manches konnte ich super, anderes ging fast gar nicht. Nach eineinhalb Stunden konnte ich nicht mehr. Ich durfte meine Mutter anrufen, dass sie zu mir komme. Die Psychologin hatte mit ihr vereinbart, dass sie in einem in der Nähe gelegenen Café auf Abruf sitzen würde.

Es gab noch ein Abschlussgespräch. Danach fuhren wir nach Hause.

Anmerkungen von Luca’s Mutter: Keiner der Mitarbeiter der Agentur für Arbeit, auch nicht der die Untersuchungen leitenden Psychologin, war das Fetale Alkoholsyndrom in seinen Ausmaßen und der Dramatik seiner geistigen Beeinträchtigungen bekannt. Die Vorgespräche, ein detailliertes Gutachten sowie die ärztlichen Erläuterungen des Fetalen Alkoholsyndroms des behandelnden FAS-Arztes waren von entscheidender Bedeutung. Denn wie überall wurde Luca aufgrund seines freundlichen und “normalen” Erscheinungsbildes und seiner “Alltags-Eloquenz” völlig falsch wahr genommen und eingeschätzt.

Unbekannt war den Mitarbeitern auch, dass FAS-Betroffene unter extremen Konzentrationsschwächen leiden, sie mit Druck und Stress nicht umgehen können. Dass Stress zu Verzweiflung führt und sodann in unkontrollierte unangemessene Wutausbrüche mündet. Die Aufklärung darüber verhalf dazu, dass die Psychologin veranlasste, dass die für die Beurteilung des Jungen wesentlichen Testmodule an den Anfang gestellt wurden. Luca erfuhr weder Druck noch Stress und konnte so die Prüfungssituation souverän meistern.

Offensive Aufklärung ist bei FAS unabdingbar!

Welchen weiteren Weg Luca eingeschlagen hat, erzählt er im nächsten Blogbeitrag.

Autorin: Dagmar Elsen

Zehn Jahre emotionale Achterbahnfahrt

Die Geschichte der Familie Schubert aus Bremerhaven ist eine, bei der man sich schwer tut mit der Entscheidung: Welcher Aspekt ist der wichtigste und gehört in die Headline? Ist es die beeindruckende und für andere mutmachende Tatsache, dass das Ehepaar Sabine und Michael Schubert gleich drei Pflegekinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom aufgenommen hat? Ist es die Tragödie, eines dieser Kinder im Alter von 10 Jahren tränenreich weggegeben haben zu müssen, weil die Zustände die Familie fast auseinander gesprengt haben?

Oder ist es der unglaubliche Vorwurf an das Jugendamt, bewusst verschwiegen zu haben, dass die leibliche Mutter des damals drei Monate alten Babys nicht nur Drogen, sondern auch reichlich Alkohol getrunken hat, um eine Akte weniger zu haben? Es könnte auch der Kampf der Eltern gegen den Sinneswandel der Behörden sein, FAS sei eine Modediagnose. Eltern wollten ihr Kind krank machen, nur um Geld abzusahnen. Dabei sei es vielmehr so, dass sie offensichtlich als Eltern versagt haben?

Auch folgende Aussage von Sabine Schubert ist von enormer Tragweite, da Hoffnung für Pflegeeltern und FAS-Kinder gleichermaßen: “Es war für uns undenkbar, noch einmal ein FAS-Kind anzunehmen. Und jetzt bin ich total glücklich. Von Bethel im Norden bekommen wir eine selbstverständliche Unterstützung, die ich mir für andere Eltern und ihre Kinder nur wünschen kann. Hätten wir die von Anfang an gehabt, wäre alles anders gekommen.”

Die emotionale Achterbahnfahrt der Schuberts beginnt im Krankenhaus von Bremerhaven im Mai 2005. Sabine bekommt von einer Sozialarbeiterin ein drei Monate altes süßes Baby in den Arm gelegt. Diese erklärt den freudigen und aufgeregten Pflegeeltern, dass es sich um das Kind einer drogenabhängigen Frau handele. “Von Alkoholkonsum der Mutter kein Wort”, erinnert sich Sabine. Mit der Liebe einer Familie würden sich solche Kinder ganz normal entwickeln, habe die Sozialarbeiterin prophezeit. “Plötzlich machte diese Druck”, weiß Sabine noch ganz genau, “sie forderte uns auf, dass wir uns sofort entscheiden müssten, da es eine Menge anderer Paare gäbe, die Schlange stünden, das Kind haben zu wollen.” Mit einem süßen Baby im Arm, wer sage da schon nein, fragt die leidenschaftliche Vollzeit-Mama.

Das süße Baby Anna* entwickelt sich zu einem sehr hübschen, aber nicht zu einem “normalen” Mädchen. Es ist hochaggressiv mit einer Neigung zu gewalttätigen Übergriffen und überdurchschnittlich intelligent. Eine für FAS eher ungewöhnliche Kombination – mit fatalen Folgen. Anna kann täuschen und manipulieren, dass sogar Fachleute auf sie hereinfallen. Jugendamt, psycho-sozialer Dienst schenken den Eltern des vordergründig sprachgewandten, hilfsbereiten und höflichen Mädchens keinen Glauben. Immer wieder heißt es “Sie versagen als Eltern”, erzählt Sabine. Bei einem Polizeieinsatz im trauten Familienheim ziehen die Polizisten kopfschüttelnd wieder ab, weil sie den Eltern nicht glauben wollten, dass dieses liebe Mädchen derart gewaltbereit ausgerastet sein sollte, dass die Eltern und der inzwischen hinzu gekommene Pflegesohn Taylor* um ihr Leben fürchteten.

Bis zu diesem Zeitpunkt, als sich sowohl tags als auch nachts nur noch Randale abspielte, hatten die Schuberts schon eine lange Odysee hinter sich, Unterstützung für ihr Kind zu bekommen. “Ich hatte von einer Studie der Uni Münster gelesen, bei der es um die geistige Entwicklung von Drogenentzugskindern ging”, erzählt Sabine. So lernte das Ehepaar 2008 den FAS-Spezialisten Dr. Reinhold Feldmann kennen. Die FAS-Diagnose für Anna folgte auf dem Fuße. “Wir kontaktierten die leibliche Mutter”, berichtet die heute 39jährige. Diese habe sich sehr ehrlich und auskunftsfreudig gezeigt und zum Nachweis alles aufgeschrieben, was sie an Drogen konsumiert hatte. Auf der Liste stand neben Tabletten, Reinigungsmitteln, diversen anderen Drogen auch Alkohol. Trotz Vorlage dieses Nachweises und eines Gutachtens Dr. Feldmanns verlautete es beim Jugendamt Bremerhaven: FAS ist eine Modeerscheinung. Sie wollen Ihr Kind nur krank machen, um sich Vorteile zu erschleichen. Den Pflegeeltern stockte der Atem. Starker Tobak. Bei diesen Kommentaren verpuffte die Erleichterung über die FAS-Diagnose, die den Eltern bescheinigte, nicht schuld an den schweren Verhaltensstörungen des Kindes zu haben, allzu schnell.

Es wandten sich auch Freunde und Familienmitglieder ab, solche die meinten: Lasst’ das Kind doch einfach mal sein wie es ist. Das Ehepaar Schubert solidarisierte sich mit anderen Pflegeeltern. “Untereinander müssen wir uns nichts erklären. Jeder versteht den anderen”, sagt Sabine. Sie und ihr Mann kämpften weiter. Für Anna. Und für sich selbst als Familie. “Wer gibt schon gern sein Kind wieder weg? Wer gesteht schon gerne ein, dass er es nicht geschafft hat?”, bekennen die Eltern.

Zehn Jahre dauerte der Kampf, der einer Zerreißprobe gleich kam. In der Zwischenzeit hatten die Schuberts ein weiteres Pflegekind angenommen, einen neun Monate alten Jungen, von dem bekannt war, dass seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hatte. Taylor bekamen die Schuberts über den Hamburger Förderverein für Pflegekinder und ihre Familien Pfiff***. “Wir dachten, ein ‘normales’ Kind würde nicht passen”, erklärt Sabine, die mit großer Leidenschaft Mutter ist. Taylor ist normal intelligent und alles andere als aggressiv. Er verspürt keinen inneren Druck wie seine Schwester, die in allem immer die Beste sein will. Und er teilt für sein Leben gern. “Nicht wie Anna”, erzählt die Mutter, “die schon völlig ausgerastet ist, wenn man ihr Lego nur von weitem angeschaut hat.”

Mit Taylor und “Pfiff” erlebt das Ehepaar, wie es auch anders geht. Die Diagnose wird ohne Misstrauen und Diskussionen anerkannt. Die Einrichtung weiß um die Bedeutung und Schwere der Beeinträchtigungen durch FAS. Lediglich als Taylor eingeschult wird, müssen die Schuberts um eine Schulassistenz kämpfen, was aber daran liegt, dass die Zuständigkeit inzwischen nicht mehr in der Hand von Pfiff liegt.

Das Leben mit Anna indes bleibt schwierig und turbulent. Dr. Feldmann zieht die Notbremse und vermittelt 2014 eine vollstationäre Therapie über fünf Wochen bei seiner renommierten Kollegin Dr. Heike Hoff-Emden, die das Sozialpädiatrische Zentrum in Leipzig leitet. An deren Ende entsteht ein eindrucksvolles Gutachten, das die ernüchternde Klarheit bringt: Das Mädchen wird höchstwahrscheinlich die Familie sprengen. Ein Notfallplan wird erstellt, der beinhaltet, dass Anna beim nächsten Übergriff die Familie verlassen muss. Der ultimative Showdown lässt nicht lange auf sich warten. Anna muss von jetzt auf gleich zu einer Notpflegemutter. Auch da kommt es nach wenigen Tagen zur Eskalation. Anna, wieder einmal in unbändiger Wut, will dem anderen Pflegekind, einem Baby, mit dem Messer den Kopf abschneiden. “Das Baby war ihr zu laut”, erzählt ihre Pflegemutter, um klar zu stellen, was bei Anna ausreicht, um völlig auszurasten.

“Jetzt endlich glaubte uns das Jugendamt”, berichtet Sabine. Schweren Herzens verabschieden sich die Schuberts von ihrem ersten Kind, das in einer Wohngruppe untergebracht wird, bleiben aber ihre sorgenden Eltern. Das werde sich auch nicht ändern, versichert Sabine. Aber dass Anna irgendwann wieder nach Hause zurückkehren kann, halten die Schuberts für ausgeschlossen.

Inzwischen haben die Schuberts, die mit Leib und Seele Pflegeeltern sind, noch ein alkoholgeschädigtes Kind angenommen: den nunmehr zwei Jahre alten Joel. “Acht Wochen dauerte der Entzug in der Klinik”, erzählt Sabine, “ich hatte ihn den ganzen Tag am Körper, er brauchte permanente Nähe”. Ihn vermittelte die Organisation Bethel im Norden. “Die kümmern sich um alles, so, als wäre Joel ihr eigenes Kind, es gibt keine Diskussionen um Fördermaßnahmen oder entlastungsfreie Stunden für die Eltern”, schwärmt die engagierte Mutter und mutmaßt: “Wenn ich das bei Anna gehabt hätte, wäre alles anders gekommen.” Das belastet Sabine Schubert immer noch. Außerdem auch die Tatsache, dass für Pflegekind Taylor inzwischen das Jugendamt Bremerhaven zuständig ist. Seitdem heißt es wieder kämpfen, kämpfen kämpfen; zur Zeit gerade um die Fortsetzung der Schulassistenz. Dennoch kann Sabine Schubert mit voller Inbrunst sagen, dass sie glücklich ist.

*Die Namen der Kinder sind geändert

**Bethel im Norden (www.bethel-norden.de) gehört zu den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

*** Pfiff für Pflegekinder und ihre Familien e.V. (www.pfiff-hamburg.de)

Autorin: Dagmar Elsen

Spielgefährten und Sport ohne Leistungsdruck

“Wer etwas erreichen will, der muss kämpferisch sein”, bringt es Heike Schöffler stellvertretend für alle Eltern mit Kindern, die das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) haben, auf den Punkt. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat selbst ein Kind mit FAS und leitet die Selbsthilfegruppe “FASD Herrenberg” in Baden-Württemberg. Hier hat sie im Laufe der Zeit von all den betroffenen Eltern mitbekommen, dass man sein Recht oft genug sogar nur mit einem Anwalt durchboxen kann.

Das liegt in der Region Herrenberg wie überall daran, dass das FAS nur wenigen Menschen ein wirklicher Begriff ist. Kaum jemand weiß um die Symptome, insbesondere die neurologischen Beeinträchtigungen, die gern als psychologische Verhaltensstörungen diagnosdiziert werden – getreu dem Motto, das wächst sich wieder aus. Im örtlichen Jugendamt bekam Heike Schöffler sogar zu hören, dass FAS eine “Modererscheinung” sei. Eine Schulbegleitung “wegen seelischer Belastung” werde einem Kind mit Autismus zugestanden, einem FAS-Kind nicht, hat Heike Schöffler die bittere Erfahrung machen müssen. Für die engagierte Mutter ein Unding.

Da es bei den 25 Mitgliedern, die Heike Schöffler derzeit in ihrer Kartei gelistet hat, niemanden gibt, der sich nicht permanent im Rechtfertigungsmodus für sein FAS-Kind befindet, tut die Gemeinschaft der Selbsthilfegruppe allen sehr gut. “Hier fühlt sich ein jeder aufgehoben und verstanden”, berichtet Heike Schöffler. Jeder weiß, wie anstrengend die Erziehung eines FAS-Kindes ist. Bei den monatlichen Treffen muss sich deshalb niemand großartig erklären. Hier tauscht man sich aus über die extremen Stimmungsschwankungen der Kinder, die belastenden Wutausbrüche, oder über die Schwierigkeiten Freundschaften zu pflegen. Alle betroffenen Eltern bekommen es am eigenen Leib zu spüren: Mit FAS-Kindern stößt man ständig auf Ablehnung oder Unverständnis.

Von sozialer Isolation sind auch die FAS-Kinder selbst bedroht. Sei es, dass sie im Kindergarten und der Schule von anderen wegen ihres Verhaltens gemieden und nicht nach Hause eingeladen werden. Sei es, dass sie im Sportverein auf Missfallen stoßen, weil sie Schwierigkeiten haben sich an die Regeln zu halten und dem Leistungsdruck nicht standhalten, einem Leistungsdruck, der für andere “völlig normal” ist.

Das Fehlen von Spielkameraden und geeigneter sportlicher Bewegung für ihre Schützlinge hat die Selbsthilfegruppe Herrenberg auf die Idee gebracht, das Projekt “Bewegung ohne Leistungsstress für Kindergarten- und Grundschulkinder mit FAS” aus der Taufe zu heben. Aufgrund persönlicher Kontakte konnte die örtliche Kindersportschule Kiss für dieses Projekt gewonnen werden. Diese steht für eine langfristige und breite motorische Grundlagenausbildung ohne frühe Spezialisierung.

Mit Beginn diesen Jahres wird ca. alle sechs Wochen samstags für zwei Stunden ein fachlich kompetenter Trainer in einer vielseitigen Bewegungslandschaft die Kinder betreuen. Die Eltern treffen sich parallel am selben Ort, besprechen Ihre Themen und sind somit auch greifbar, wenn irgendetwas aus dem Takt gerät.

Das Sportangebot hat noch einen weiteren Aspekt, berichtet Heike Schöffler: “Die Kinder der Sportgruppe lernen sich kennen mit dem Bewusstsein – da sind ja noch andere wie ich. Ich bin nicht allein. Es gibt noch andere, die besonders sind.” Nicht zuletzt bereitet das den Kindern die Möglichkeit, sich unter ihresgleichen auszutauschen.

Möglich geworden sei dieses Projekt, weil die Arbeit der Selbsthilfegruppe FASD Herrenberg über die Selbsthilfeförderung der Krankenkassen gemäß § 20h Sozialgesetzbuch V gefördert wird.

 

Die Selbsthilfegruppe

Wer ist Ansprechpartner der Selbsthilfegruppe FASD Herrenberg?

Heike Schöffler, mail: fasd-herrenberg@web.de, www.fasd-herrenberg.de

Wann und wo finden die Treffen statt?

Jeden 3. Mittwoch im Monat im Klosterhof Herrenberg, Bronngasse 13, 71083 Herrenberg

Wie sind die Treffen gestaltet?

Heike Schöffler: Zu Beginn erzählt jeder Teilnehmende von dem, was ihn derzeit beschäftigt. Daraus ergeben sich zumeist die Themen des Abends. Im Anschluss überlegen wir gemeinsam, ob wir für bestimmte Fragestellungen Referenten einladen, z.B. zum Pflegegesetz Mitarbeiter der Lebenshilfe oder Mitarbeiter der Adoptionsstelle.

Mit welchen vordringlichsten Problemen rund um das Fetale Alkoholsyndrom haben die Menschen aus Ihrer Gruppe am meisten zu kämpfen?

Heike Schöffler: Mit dem Verhalten der Kinder in der Familie, in der Schule, in der Ausbildung. Mit dem Unverständnis im persönlichen Umfeld von wegen “stellt Euch nicht so an, unsere Kinder hatten auch mal solche Phasen”, oder auch “Ihr seid einfach zu streng” und “die Kinder sind schlecht erzogen”. Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen mit den Lehrern der Schulen, die die Probleme nicht wahrnehmen. Die Eltern fühlen sich von den Behörden (Jugendamt, Agentur für Arbeit) allein gelassen. Die Eltern müssen für alles kämpfen, sei es für den Pflegegrad oder die Schulbegleitung. Auch fehlen Ausbildungsangebote und Wohnformen für Jugendliche und junge Erwachsene.

In welchen Bereichen kann die Selbsthilfegruppe Hilfestellung geben?

Heike Schöffler: Wir als begleitende und erziehende Erwachsene wollen uns gegenseitig unterstützen und Lösungen für Probleme suchen. Wir sammeln Informationen und Material und geben das auf Anfrage weiter.*

Was vor allem fehlt an Unterstützung in Ihrem Einzugsgebiet?

Heike Schöffler: FAS-kompetente Therapeuten der verschiedenen Fachrichtungen, Fachärzte für Diagnostik und weiterführende Begleitung, Freizeitangebote für betroffene Kinder und Jugendliche, Unterstützung und Entlastung für die Eltern.

*Über die Selbsthilfegruppenförderungdie federführend von der AOK-Stuttgart-Böblingen koordiniert wird, ist so z. B. ein Aufklärungsbüchlein entstanden für Eltern, die einen Weg suchen, mit ihrem Kind über dessen Handicaps, hervorgerufen durch das Fetale Alkoholsyndrom, zu sprechen – “Jens rennt” ist sein Titel, geschrieben von Heike Schöffler und illustriert von Christiane Heinrichs.

Autorin: Dagmar Elsen

Doktor Ela hilft mit aufzuklären

Mit Elena Leineweber aus Hamburg haben wir zu unserer großen Freude eine Frauenärztin gewinnen können, die unsere Kampagnenarbeit mit Aufklärungsvideos ergänzen wird. In unregelmäßigen Abständen wird sie erklären, was Alkohol im Körper einer werdenden Mutter macht, was das Fetale Alkoholsyndrom bedeutet, woran man es erkennt, wie es ist, wenn Babys mit Alkoholschäden auf die Welt kommen, nicht zuletzt, warum diese Kampagne so wichtig ist.

Doktor Ela hilft nicht nur bei uns aufzuklären, sie beantwortet auch in ihrem Blog www.dokotor-ela.de viele Fragen, die werdende Mütter und Väter ihr immer wieder stellen, wenn sie ihren Dienst im Hamburger Marienkrankenhaus leistet. Doktor Ela’s Leitmotiv: “Ich liebe Weiterentwicklung und fürchte Stillstand. Neue Herausforderungen und Projekte können mich total mitreißen, insbesondere wenn ich merke, dass sie sinnvoll sind.”

SCHULE – EIN ELENDER KAMPF

Ich bin so froh, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Die letzten Jahre in der Schule habe ich gehasst. Es war ein einziger, elender Kampf, den ich nicht gewonnen habe. Lange hatte ich geglaubt, dass ich schaffe, was ich mir vorgenommen hatte – einen qualifizierten Abschluss mit Englisch zu machen.

An Ehrgeiz hat es mir nicht gefehlt. Als ich das Abschlusszeugnis der zweisprachigen Montessori-Grundschule in den Händen hielt, war ich noch guter Dinge. Ich hatte ganz ordentliche Noten, sprach fließend Englisch, las sogar lieber englische als deutsche Bücher. Nur beim Schreiben hatte ich Probleme, aber das war im Deutschen genauso.

Tja, dann kam ich nach der Grundschule auf eine öffentliche weiterführende Schule in die Förderstufe. Und das Unglück nahm seinen Lauf. Nicht nur, dass all das Neue, die vielen Schüler, die fremden Lehrer, die vollkommen andere Art des Unterrichts, mich extrem stressten. Hier sollte ich plötzlich alles eigenständig machen. Sie sagten immer, jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Jetzt ticken die Uhren anders. Damit konnte ich gar nichts anfangen.

Ich brauche jemand, der mich ermuntert, auffordert, mir hilft, mir erklärt, mir Hinweise gibt. Auf mich allein gestellt war ich komplett überfordert und hatte bald überhaupt keine Motivation mehr. Ich konnte gar nicht mehr anders als wütend, aggressiv und frech zu sein. Ich konnte nichts dagegen machen. Das ging wie von selbst. Ich konnte mich selbst nicht stoppen. Zuhause bettelte ich immer wieder, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Es gab unentwegt Gespräche – ich mit den Lehrern, meine Eltern mit den Lehrern, ich mit den Sozialarbeitern, meine Eltern mit den Sozialarbeitern.

Schließlich stand fest: Ich sollte eine besondere Unterstützung bekommen – andere Bücher als die anderen in der Klasse und eine besondere Lehrerin. Mit noch anderen Kindern bildeten wir eine kleine Gruppe zum Lernen und Arbeiten und schrieben kürzere und weniger schwierige Klassenarbeiten. Inklusionsprogramm nannte sich das. Die besondere Unterstützung gab es allerdings nur in den Hauptfächern. Ansonsten wurde ich wie alle anderen behandelt. Und immer wieder die Argumentation, wenn ich nicht konnte wie ich sollte: So sind eben die Anforderungen. Wir haben hier noch 22 andere Kinder. Irgendwann wird er es schon lernen. Er muss nur wollen.

Verdammt nochmal, ich wollte doch. Ich war doch nicht absichtlich unkonzentriert. Ich verstand doch nicht absichtlich nicht, was die Lehrer von mir wollten. Ich verlor doch nicht absichtlich ständig irgendwelche Schulsachen. Ich vergaß doch nicht absichtlich, was ich machen sollte. Ich brachte doch nicht absichtlich alles durcheinander. Absichtlich war ich nur dann böse, wenn ich unter Druck geriet, wenn ich etwas nicht konnte, was von mir verlangt wurde, wenn ich ausgelacht wurde, wenn ich wieder alles vergessen hatte, wenn ich auch nach der dritten Erklärung immer noch nicht verstand, wenn ich mich schämte. Aber selbst diese Absicht konnte ich nicht steuern.

Ich war verzweifelt. Ich schwänzte immer wieder die Schule, suchte meinen Frust zu betäuben und drohte zunehmend auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Schulleitung glaubte, ich hätte kriminelle Tendenzen. Sie wollten mich der Schule verweisen. Meine Eltern waren fassungslos. Das, was da alles mit mir passierte, passte nicht zu ihrem liebevollen, fröhlichen und neugierigen Luca der vergangenen Jahre.

Mama erzählt immer wieder gerne die Geschichte, dass sie der Landesschulbehörde gedroht hat, dass sie sich so lange auf die Eingangstreppen des Verwaltungsgebäudes setzt, bis sie zustimmen, ihren Sohn in eine Förderschule schicken zu können. Das wollten die nämlich auf keinen Fall. Die sagten, dass die Politik es wolle, dass möglichst alle Kinder Inklusion bekommen und es Förderschulen irgendwann nicht mehr geben soll.

Um es abzukürzen: Mama saß nicht lange auf der Treppe.

Ich ging dann in die Förderschule und war zunächst tatsächlich froh. In manchem war ich sogar besser als die anderen hier und das war ein gutes Gefühl. Vor allem in Englisch konnte ich glänzen. Das aber nur am Anfang. Weil ich alles wusste. Das wurde langweilig. Und wie. Die lernten Zahlen und Farben und Einkaufen gehen, Kleidungsstücke und solche Sachen. Und die Lehrerin sprach nur Deutsch. Ich rebellierte. Dabei traf ich nicht den richtigen Ton. Ich konnte das selbst nicht stoppen. Die Lehrerin wollte mich nicht mehr unterrichten. Im folgenden Schuljahr hatte ich eine andere Lehrerin. Aber auch die unterrichtete Englisch auf Deutsch und so verlernte ich das Sprechen. Wenigstens das fließende Verstehen auf Englisch ist mir geblieben, weil ich viel englische Musik höre, englische Videos und auch Filme schaue.

Gut für mich war, dass die Klasse in der Förderschule sehr klein war. Und es beruhigte mich, dass die anderen auch alle ihre Probleme hatten. Alle brauchten Unterstützung und besondere Förderung.

Aber dann, dann wurde es immer schlimmer mit dem Vergessen.

Die Ärzte erklärten, dass ich jetzt leider wegen der Pubertät eine schlimme Phase mit dem Gedächtnis habe. Das Gehirn sei sozusagen im Umbau, wie eine Baustelle. Für Jugendliche mit FAS wirke sich das noch schlimmer aus. Ich hatte immer größere Mühe mir Sachen zu merken, die ich lernen sollte. Hatte ich es dann drauf, sollte es am nächsten Tag wiedergeben, war es weg. Manchmal war es auch wieder da. Dann bekam ich gesagt, na also, geht doch, wenn Du es nur willst.

Das regt mich auf. Das hat doch nichts mit Wollen zu tun bei mir. Ich kann mein Wissen einfach nicht abrufen, wenn ich es möchte. Deshalb macht es mir keinen Spaß, theoretische Sachen zu lernen. In der Schule fiel das eben auch am meisten auf. Dann schämte ich mich, wurde wütend und oft aggressiv.

Die Abschlussfeier von der Schule war ein echter Freudentag für mich. Endlich vorbei. Nie wieder Schule. Jedenfalls so schnell nicht. Ich freute mich riesig, dass ich künftig arbeiten gehen würde. Das hatte ich schon bei den verschiedensten Schulpraktika gemerkt, dass das besser für mich war, wenn ich etwas Handwerkliches oder Pflegendes machen durfte.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS und Schule

In dieser Frage sind sich alle Experten des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) einig: Durch eine frühzeitige und geeignete Förderung und Begleitung und die richtige Wahl der Schulform kann viel Stress und Frustration bei den Betroffenen vermieden werden. Denn nichts ist für die FAS-Kinder schlimmer, als wenn sie sich aufgrund eines von ihnen empfundenen, übermäßigen Leistungsdrucks überfordert fühlen. Und das passiert auch dann, wenn die FAS-Kinder einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten aufweisen.

Die kognitiven Schäden aufgrund des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft führen dazu, dass die Kinder zum einen nicht in dem verlangten Tempo in der Schule mithalten können. Allein schon ihre Konzentrationsschwierigkeiten hindern sie daran. Zum anderen sind sie nicht ohne weiteres in der Lage, den Anweisungen der Lehrer zu folgen. Auch die Reizüberflutung durch zu große Klassen ist ein wichtiger Punkt. Die Folge: Die FAS-SchülerInnen reagieren mit äußerst negativen, unangemessenen, oft genug hochaggressiven Verhaltensweisen. Immer wieder müssen sich Eltern dieser Kinder anhören: Ihr Kind ist nicht beschulbar.

Vor Vollendung der Kindergartenzeit muss infolgedessen wohl überlegt werden, welche Schulform für das Kind am besten ist. Soll es in eine Regelschule mit oder ohne Inklusion gehen? Ist eine zusätzliche pädagogische Begleitung notwendig? Ist die übliche Förderschule die bessere Variante, oder vielleicht eine Förderschule für geistige Entwicklung? Eine weitere Option ist der Besuch einer anthroposophisch ausgerichteten Privatschule!

Getreu dem Motto “it needs a village to raise a child”, ist es auf jeden Fall sinnvoll, sich mit den Erziehern der Kindergarteneinrichtung, den behandelnden Ärzten und gegebenenfalls dem Jugendamt zu beraten. 

Leider machen Eltern von FAS-Kindern immer wieder die Erfahrung, dass das staatliche Schulamt darauf ausgerichtet ist, den Inklusionsgedanken voranzutreiben. Das bedeutet, dass darauf geachtet wird, möglichst wenig Kinder für die Förderschule zuzulassen. Dafür sollten sich Eltern keinesfalls vereinnahmen lassen, wenn klar ist, dass ihr Kind mit Inklusion in der Regelschule überfordert wäre.

Ist die Wahl der Schule gefällt, bedeutet das nicht, dass die Eltern sich nun entspannt zurücklehnen könnten. “Bisher wird die Förderung von Schülern mit FASD an Förder- und Regelschulen mehr oder weniger dem Zufall überlassen”, beklagt der Moses-Online-Dienst, der im Sinne von Pflegekindschaft, Adoption und Intergration derlei Themen aufgreift. Das liege daran, dass der Bekanntheitsgrad des Fetalen Alkoholsyndroms selbst bei Lehrkräften an Förderschulen zu gering ist. Aktuelles Wissen werde weder in der Ausbildung noch der Praxis erworben.

Deshalb sind alle Eltern gut beraten, die Lehrer umfassend über FAS an sich und im speziellen über die besonderen Beeinträchtigungen ihres Kindes zu informieren und während der gesamten Schullaufbahn im engen Austausch zu bleiben. “Denn nur das Wissen, dass das Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit FASD neurologisch bedingt und nicht böswillig oder eine Folge von Erziehungsfehlern ist, ermöglicht eine fruchtbare Zusammenarbeit und schulischen Erfolg”, weiß auch das FASD-Netzwerk Nordbayern unter der Leitung von Dr. Gisela Bolbecher.

Informationen und Literatur zum Thema:

www.moses-online.de

www.fasd-netz.de

“FASD und Schule – Eine Handreichung zum Umgang mit Schülern mit Fetaler Alkoholspektrumsstörung”, von Anne Schlachtberger, erschienen im Schulz-Kirchner Verlag

Autorin: Dagmar Elsen