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Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr

Im Schulz-Kirchner-Verlag erscheint in Kürze das Buch “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” der Journalistin Dagmar Elsen, die seinerzeit auch die Aufklärungskampagne Happy Baby No Alcohol initiiert hat. Wie es dazu kam und was sie angetrieben hat, sich für die Thematik zu engagieren, beschreibt sie in ihrem Vorwort. Eine ausführliche Leseprobe findet sich unter: https://www.skvshop.de/shop/images/files/editor/file/9783824813033_elsen_alkohol_fasd_1aufl2022_leseprobe.pdf

Vorwort

„Du bist doch Journalistin, schreib drüber, sonst gibt‘s immer mehr wie mich“, sagte Luca zu mir nach seiner Diagnose im FASD-Fachzentrum Walstedde. Das war just, nachdem der damals 14-Jährige realisiert hatte: Alkohol hat mein Hirn zerstört als ich ein Baby war im Bauch meiner Mutter. Als er außerdem erfuhr, dass unglaublich viele Menschen gar nicht wissen, dass Alkoholkonsum in der Schwangerschaft derart gefährlich ist. So viele, dass jede Stunde in Deutschland ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt. So viele, dass wir inzwischen über 1,6 Millionen Betroffene sprechen. Mindestens. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Für Luca, der mit seinem wirklichen Namen nicht genannt werden möchte, war sofort klar: Wüssten die Menschen darüber Bescheid, dann würden doch alle alles tun, damit so etwas nicht weiter vorkommt. Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

So weit, so simpel.

Ich musste nicht lange überlegen. Luca wurde zur Triebfeder einer sehr intensiven und langen Recherchereise, die mich Woche für Woche, Monat für Monat, immer fassungsloser machte. Zahlen, Daten, Fakten in Dimensionen, die deutlich machen: Das hier ist kein Randphänomen der Gesellschaft. Nein. Das Fetale Alkoholsyndrom ist mitten unter uns. Es betrifft alle – die Bankiersgattin ebenso wie die Frau an der Kasse im Supermarkt oder die unwissentlich Schwangere. Und es geht nicht nur die Mütter an, sondern jeden. Weil jeder wissen sollte, was der Alkohol im Mutterleib anrichtet. Damit niemand mehr auf die Idee kommt zu behaupten, ein Gläschen schadet nicht, der Mutterkuchen ist ein sicherer Schutzmantel. Nein, ist er nicht. Alkohol in der Schwangerschaft ist immer gefährlich – zu jeder Zeit und in jeder Menge!

Durch Luca, den ich aus meinem persönlichen Umfeld kenne und den ich habe aufwachsen sehen, waren mir die Probleme und Defizite von FASD-Betroffenen vertraut. Ich habe miterlebt, wie der hübsche, fröhliche Junge, dem man seine Behinderung nicht im Mindesten ansieht, erst schleichend, dann immer deutlicher begann zu straucheln. Schneller und schneller drehte sich das Rad, immer tiefer zog es ihn in der Pubertät in den Abgrund. Es war die Hölle. Die Hölle für ihn, für seine Familie. Kein Arzt wusste Rat. Keine Klinik stellte die richtige Diagnose. Alle meinten, na ja, das Drama wird der Adoption geschuldet sein. Dann ein Tipp, ein Zufall, über eine Bekannte, die der Adoptivmutter die Aufnahme in der Kinder- und Jugendklinik Walstedde empfahl.

Es hat mich mit Entsetzen erfüllt, dass weder ein Kinderarzt, noch ein Ergotherapeut, Psychologe, Psychiater, Lehrer, Erzieher, eben niemand auf die Idee gekom- men ist, der Junge könnte fetale Alkoholschäden haben. Das, obwohl Luca einer von tausenden typischen Fällen ist – körperlich unauffällig, mit durchschnittlichem Intelligenzquotienten, aber kognitiv stark de zitär, ebenso in den Exekutivfunktionen, orientierungslos, ohne Zeitgefühl, Mathe ist ihm ein Gräuel, seine unkontrollierten Wutanfälle legendär.

Warum nur ist dieses Syndrom so unbekannt, fragte ich mich. Ich forschte im Internet, las alles, was ich kriegen konnte. Ich interviewte auf dem Gebiet der fetalen Alkoholschäden renommierte – ja, es gibt sie, wenige, aber doch! – Ärzte, Psychologen, Therapeuten, FASD-Fachberater. Ich sprach mit Eltern, mit leiblichen, Pflege- und Adoptiveltern, sprach mit erwachsenen Betroffenen. Sie erzählten stets atemlos und aufgebracht. Allesamt waren es aufwühlende Geschichten, die das facettenreiche, fatale Ausmaß der von unserer Gesellschaft vertuschten Thematik offenbarte. Die schlimmste Geschichte von allen war die von Max. Sie bricht einem das Herz. Ein Kind von elf Jahren hält die Pein des Lebens nicht mehr aus und be- geht Selbstmord. Es ist der blanke Horror.

Schockiert hat mich bei meiner Recherche obendrein, wie sehr Ängste vorherrschten offen zu reden, sich selbst zu benennen und die Personen und Ämter, die maßgeblich an den vielschichtigen Missständen beteiligt sind, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. FASD, das gibt es hier nicht. Hokuspokus. Modediagnose. Lassen die Pflegeeltern nicht locker, zeigen auf, was mit ihren Kindern los ist, fordern Hilfe und Unterstützung ein, müssen sie darum fürchten, dass ihnen die Kinder wieder weggenommen werden. Eine bedrückende Tatsache. Bitte uns im Text anonymisieren, hieß es deshalb auch immer wieder. Ein weiterer Grund für den Wunsch nach Anonymität, der einmal mehr die Gesinnung unserer ach so integrativen Gesellschaft offenlegt: die Sorge, stigmatisiert und gesellschaftlich isoliert zu werden.

Drei Jahre liegen nun hinter mir, seit ich mich intensiv mit FASD auseinandergesetzt habe. Eine lange Zeit. Aber viel Zeit ist notwendig, um zu erfassen und zu verstehen. Nicht nur das Syndrom an sich ist so komplex in seinem Erscheinungsbild und seinen Auswirkungen. Es stellt das ganze Leben der Betroffenen und ihrer Familien und Freunde auf den Kopf. Wie sagt Luca immer so schön: „Ich bin kein normaler Behinderter.“ Was er damit meint, versteht man, wenn man all die Geschichten dieser besonderen Menschen gelesen hat.

Die Recherchen haben aber glücklicherweise nicht nur die dunklen Seiten des Syndroms offenbart. Immer mehr kämpferische Menschen stehen auf, trauen sich ihre Rechte zu benennen und einzufordern, erheben die Stimme und gehen an die Öffentlichkeit. Und wenn sie es geschafft haben, die Unterstützung zu erhalten, die ihnen zusteht, zeigt sich sofort, dass das Leben für Menschen mit fetalen Alkoholschäden einen ganz anderen, einen so positiven Verlauf nehmen kann. Es muss den Eltern, ihren Kindern, den erwachsenen Betroffenen lediglich die Chance darauf gewährt werden. Schließlich ist es eine Chance, die rechtlich verbrieft ist.

Ich danke von Herzen allen, die es mir möglich gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Die Offenheit und das Vertrauen, das mir dafür geschenkt wurde, haben mich sehr berührt. Viele Tränen sind bei den Gesprächen genossen. Vor Kummer, vor Sorge, vor Wut und Angst, aber auch vor Freude und, das ist besonders schön, vor lauter Lachen. Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind grundsätzlich sehr humorvolle, ausgestattet mit einer ganz anderen Logik im Kopf, die zu den lustigsten Anekdoten führt. Sie sind von rührender Naivität und einer großen Herzenswärme. Sie leben im Hier und Jetzt. Und das macht sie beneidenswert unbekümmert.

Herzlich Dagmar Elsen

FASD-Assistenzhunde – Therapeuten auf vier Pfoten

Kinder mit fetalen Alkoholschäden (FASD) leiden häufig sehr unter Reizüberflutung, sind hyperaktiv, haben Impulskontrollstörungen. Viele haben Probleme Nähe zuzulassen oder Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Wieder andere können Gefahren zum Beispiel im Straßenverkehr nicht erkennen. Genau wie bei Autismus können bei Kindern mit fetalen Alkoholschäden sogenannte FASD-Assisstenzhunde wahre Wunder bewirken – sind sie Therapeuten und Lebensretter auf vier Pfoten. Jesse Reimann, founder von happyhunde.de, hat sich der Thematik angenommen und einen Gastbeitrag dazu geschrieben:

Tiere öffnen das Herz und wirken auf angenehme Weise beruhigend und anregend zugleich. Im Therapiebereich schaffen Hunde und andere Tiere oft mit Leichtigkeit das, was menschliche Therapeuten und Ärzte nicht können.

Wie sie das tun, ist bis heute das große Geheimnis der Tiere. Therapiehunde unterstützen Menschen durch ihre reine Anwesenheit. Assistenzhunde sind hoch spezialisierte Helfer, die Behinderten oder erkrankten Menschen Alltags-Aufgaben erleichtern. FASD-Therapiehunde sind eine Mischung aus beiden Spezialisierungen.

1. Es ist immer jemand da

Viele Krankheiten, Behinderungen und Syndrome werden von Verlustängsten, Panik oder anderen Ängsten begleitet. Hunde sind nicht so leicht zu verunsichern, wie wir Menschen. Insbesondere Therapiehunde strahlen unendliche Ruhe und Gelassenheit aus.

Ein Therapiehund bietet auf diese Weise das gute Gefühl, immer eine zuverlässige und solide Persönlichkeit an der Seite zu haben.

2. Die Seele streicheln

Tiere bringen uns mit einer Ebene in Kontakt, die uns in unserer rationalen Welt nur zu häufig verloren gegangen ist.

Gerade bei Menschen mit sozialen oder psychischen Problemen, Behinderungen, Autismus, Nervenstörungen oder Anfallsleiden kann dieser spezielle Kontakt zur Natur und unserer Seele von unschätzbarem Wert sein.

3. Aktive Lebensretter und Therapeuten

Einige Therapie- und Assistenzhunde verfügen über ganz spezielle Fähigkeiten. FASD-Assistenzhunde können wahrnehmen, wenn Patienten in stereotype und schädigende Verhaltensweisen abdriften. Betroffene fetaler Alkoholschäden haben oft Schwierigkeiten mit der Reizverarbeitung. Die Überflutung mit Sinneseindrücken löst unterschiedlich starke Symptome aus. Der Hund erkennt das und unterbricht die Verhaltensweisen, indem er den Patienten anstupst oder ihm in beruhigender Weise den Kopf auf die Beine legt.

Leiden Betroffene an Epilepsie oder anderen Anfallsleiden, spüren die Hunde das schon lange vor dem eigentlichen Anfall. Sie warnen ihr Herrchen und Frauchen und diese können so rechtzeitig eine geschützte Position oder ggf. Medikamente einnehmen.

4. Assistenzhunde verbessern das Familienleben

Begleiten Hunde junge FASD-Patienten oder andere Kinder und Jugendliche mit Problemen, werden die Hunde von den Eltern oder Erziehungsberechtigten mitgeführt. Je nach Schwere der Krankheit oder Behinderung wäre der Betroffene alleine gar nicht dazu in der Lage.

Dadurch nimmt der Hund in Familien mit FASD oder anderen Problematiken eine zentrale Stellung ein. Die reine Anwesenheit, die treue Hilfe sowie das Bedürfnis des Tieres nach Struktur und Anleitung schweißt Familien zusammen.

5. Sicherheit im Alltag

Autisten oder FASD-Patienten nehmen die Umwelt oft ganz anders wahr. Dadurch können sich im Alltag gefährliche Situationen ergeben.

FASD- und andere hoch spezialisierte Assistenzhunde warnen vor Gefahren, helfen beim Überqueren von Straßen, reichen Gegenstände oder können Knöpfe drücken.

Dazu verleihen die Hunde ihren Menschen im Alltag mehr Sicherheit. Wer mit einem Hund unterwegs ist, läuft weniger Gefahr von unverschämten oder übergriffigen Personen angepöbelt oder beleidigt zu werden.

6. Verbesserung des Selbstbewusstseins

Man kann sich nur wundern, wenn man liest oder hört, dass Therapiehunde Komapatienten wecken und stumme Kinder plötzlich zum Sprechen bringen konnten. Doch diese Wunder gibt es immer wieder.

Fast jeder Patient, der einen Hund an die Seite bekommt, verbessert durch die Interaktion mit dem Tier ganz menschliche Eigenschaften wie die Sprache, die Selbstreflektion und die Selbstwahrnehmung. Vermutlich schaffen die Tiere dies durch ihre bedingungslose Liebe zu uns Menschen und ihre vorurteilsfreie Art.

Das Fazit

Hunde spenden nicht nur Liebe und aufmerksame Präsenz. Therapie- und Assistenzhunde können bei FASD, Autismus, Epilepsie, für Rollstuhlfahrer, Senioren oder allgemein unsichere Menschen unglaublich viel leisten. Wenn du in den Genuss eines solchen Hundes kommst, wird dein Alltag auf jeden Fall schöner und einfacher.

Weitere Infos auch unter www.assistenzhunde-Zentrum.de

Udo Beissel: In den seltensten Fällen wird eine adäquate Leistung erbracht

Stellungnahme

Udo Beissel

FASD Peerberater

Vorstand des Fördervereins Aktionsbündnis FASD adult

In der Ablehnung einer bereits zu unserem Anliegen eingereichten Petition argumentierte der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags, „dass für die Feststellung einer Behinderung nicht die Diagnose und deren Einordnung in eine Klassifikation maßgeblich sei. Gemäß dem biopsychosozialen Modell des modernen Behindertenbegriffs seien vielmehr die Auswirkungen von Funktionsstörungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben relevant. Es sei deswegen nicht nötig, sämtliche der 36.00 möglichen Diagnosen aufzuführen. In der VersMedV sei festgelegt, dass alle Gesundheitsstörungen, die die Teilhabe beeinträchtigen, im Einzelfall zu berücksichtigen sind. Eine adäquate Beurteilung der vielfältigen Beeinträchtigungen bei FASD sei mit den vorhandenen Regelungen möglich.“

Die theoretische Möglichkeit einer adäquaten Beurteilung muss gar nicht in Frage gestellt werden. Diese wäre aufgrund der ICF-basierten Bedarfsfeststellungsinstrumente der Länder möglich. Allein die Praxis belegt eindeutig: In den seltensten Fällen kommt es zu einer adäquaten Leistungserbringung.

Als Vater von zwei erwachsenen Söhnen mit FASD und anderen komorbiden Erkrankungen, seit zwei Jahren ehrenamtlich tätiger Peerberater für betreuende Angehörige von adoleszenten bzw. erwachsenen Betroffenen, beratender Beistand einer EUTB-Stelle in Hamburg, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Zu bedarfsgerechten Leistungen, die den Defiziten der Betroffenen vollumfänglich gerecht würden, kommt es selbst dann nicht, wenn sogar ein Grad der Behinderung von mind. 70%, sowie die Merkzeichen G, B und H korrekt vergeben wurden. 

Das hat folgende Gründe:

  • FASD wird auch ´die unsichtbare Behinderung´ genannt. Nur in ca. 20% der Fälle zeigen die Betroffenen die typischen facialen und physischen Merkmale, nach denen nötigenfalls auch ohne Bestätigung des Alkoholkonsums der Mutter eine FASD-Diagnose gestellt wird.  
  • Es gibt eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen – die sich ihrer fetalen Alkoholschäden noch nicht einmal bewusst sind – und zahlreiche falsch diagnostizierte Fälle. Typische Fehldiagnosen mit dementsprechend falsche Behandlungszielen sind z.B. AD(H)S oder Borderline. Typische Verhaltensauffälligkeiten werden oft mit dissozialen Gewohnheiten erklärt. Als Erklärung dafür wird vorzugsweise das Elternhaus herangezogen.
  • Viele, z.T. erhebliche Defizite, z.B. bei den sog. Exekutiven Funktionen, werden nicht als Behinderung, sondern als therapierbare Dysfunktionalitäten eingestuft. Ihnen wird sodann mit Maßnahmen begegnet, deren Weiterbewilligung vom Erfolg der Zielvereinbarungen abhängig ist. Das hat fatale Konsequenzen:            
  • a) ist die hirnorganische Schädigung bei FASD grundsätzlich nicht therapierbar – ergo bleiben die Erfolge aus
  • b) führen die folgerichtig häufigen Abbrüche zu sekundären Störungen, die sich mit Traumatisierungen vergleichen lassen. Nicht als das wahrgenommen zu werden, was man ist, würde auch Menschen ohne Handicaps auf die Dauer zerrütten und demotivieren. Aber gemäß der Redewendung: wer nicht will, der hat … halt selber schuld, gilt mangelnde Compliance in den helfenden Systemen als Begründung dafür, keinen weiteren Bemühungen mehr nachgehen zu müssen. Es gilt das Recht der Selbstbestimmung und die folgende Verwahrlosung ist demnach ein freiwillig gewähltes Schicksal. Obwohl in den Leitlinien zur Inklusion nirgendwo steht, dass Inklusionsbemühungen aufgrund mangelnder Compliance aufgegeben werden dürfen, ist genau das der Grund, warum Betroffen bald unter dem Radar laufen – sie landen auf der Straße, im Strafvollzug oder gar in der Forensik. Bestenfalls belasten sie das Gesundheitssystem – sozusagen notfallbetreut – als sog. Drehtürpatienten in den Psychiatrien. Inwieweit hier das Selbstbestimmungsrecht als Ausrede für unterlassene Hilfeleistung mit schweren Folgeschäden für die Betroffenen herhalten muss, wäre eine interessante Aufgabe für den BGH. 
  • FASD wird in allen Ausbildungen relevanter Berufe so gut wie gar nicht berücksichtigt. Das führt zu grundlegenden Fehleinschätzungen und dadurch zu keinen oder nicht ausreichenden Leistungen. Die Unkenntnis ist natürlich auch unter den Personen verbreitet, die Widerspruchsfälle prüfen: Fachärzte, Gutachter, der MDK, die Krankenkassen, Vertreter von Kostenträger, Richter. Zudem fehlt es an korrekten Definitionen, zu denen die beklagten Fehleinschätzungen ins Verhältnis gesetzt werden könnten. Der ICD wird erst in der kommenden 11. Überarbeitung den Begriff FASD überhaupt als solchen erwähnen. 
  • Die allseits fehlenden akademischen Zertifizierungen nehmen viele Entscheidungsträger zum Anlass, die Relevanz von FASD zu unterschätzen, zu ignorieren oder gleich ganz in Frage zu stellen. Allein die Unterschiede bei diesem verbreiteten Verhalten lässt die Schlussfolgerung zu, dass ICF-orientierte Instrumente zur Bedarfsfeststellung alleine nicht reichen, um faktische Leitlinien zu ersetzen. Könnte jeder darauf zugreifen, könnte es dadurch zu objektiven Ergebnissen zu kommen. Eine Aufnahme von Leitlinien zu FASD in die VersMed würde sämtliche Diskussionen, ob es FASD überhaupt gibt, überflüssig machen. Ich möchte daran erinnern, dass es bei AD(H)S und Autismus anfänglich die gleichen Diskussionen gab, die sich mit der Anerkennung dann sofort erledigt haben.
  • Es mangelt allseits an Fachkräften und Sachbearbeitern mit Fachwissen zu FASD. Ohne die Kenntnisse und Tatkraft von Fachleuten können die Ansprüche von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht adäquat umgesetzt werden. In allen anderen Gewerken würde man sich wundern, wenn es durch einen Mangel an ausgebildetem Personal laufend zu Fehleinschätzungen käme, weil sie nicht wüssten, wie die „Instrumente“, die ihnen zur Verfügung ständen, angewendet werden. Warum das in den sozialen Berufen anders sein soll, leuchtet mir nicht ein, scheint aber absurderweise Common Sense zu sein.
  • Fachleute zu FASD sind sich unisono einig, dass FASD eine Art von Rundumbetreuung erfordert. Diese unterscheidet sich jedoch von der allgemeinen Vorstellung einer Rundumbetreuung bei schwerer Mehrfachbehinderung. FASD ist aber leider in den allermeisten Fällen ein schwere Mehrfachbehinderung, auch wenn diese Menschen sich in der Regel alleine anziehen, pflegen und ernähren können. Ohne dass es Leitlinien gibt, die das bestätigen, ist es sehr herausfordernd bis unmöglich, den durchschnittlichen Sachbearbeiter einer Behörde davon zu überzeugen. Man könnte es auch reine Glückssache nennen, die nötigen Bewilligungen zu bekommen. 

Wie bei vielen anderen innovativen gesellschaftlichen Projekten, hinkt die Praxis der Gesetzgebung hinterher. Das ist auch im Fall der durchaus visionären Reformen des SGB IX durch das vorübergehend gedachte BTHG so. Dem Gesetzgeber ist durchaus bewusst, dass vieles erst nach zahlreichen Auseinandersetzungen, inklusive den juristischen Möglichkeiten, zu gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit wird. Das wird sich auch nicht ganz verhindern lassen. Aber der im Verhältnis geringe Aufwand, für FASD die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse als Leitlinien in die VersMedV aufzunehmen, würde diese Auseinandersetzung erheblich vereinfachen, vieles verhindern und es würde Betroffenen wie Angehörigen sehr viele zermürbendes Elend ersparen. 

Alkohol in der Schwangerschaft: Jeder Tropfen kann schaden

Anlässlich des Tages des alkoholgeschädigten Kindes hat unser Kampagnenpartner dm-glückskind um ein Interview mit unserem Supporter und Berater im HAPPY BABY-Online-Team, dem Arzt Philipp Wenzel aus dem FAS-Fachzentrum Walstedde, gebeten. Seit 2019 unterstützt das Team von dm-glückskind die HAPPY BABY-Aufklärungskampagne und nutzt seine Reichweite, Menschen allerorten über die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und vor dem Fetalen Alkoholsyndrom zu warnen: https://www.dm.de/tipps-und-trends/schwangerschaft/ernaehrung/alkohol-in-der-schwangerschaft-52176

glückskind: Herr Wenzel, sind manche Kinder besonders von Schädigungen durch Alkohol in der Schwangerschaft betroffen? 

Philipp Wenzel: Bei mir in der Klinikambulanz werden Säuglinge, Kleinkinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr vorgestellt. Sie kommen aus allen Gesellschaftsbereichen. Alkohol während der Schwangerschaft ist nicht nur in unaufgeklärten, bildungsfernen Schichten ein Thema, sondern auch in bessergestellten Familien. Neben typischen Verläufen bei ganz jungen Schwangeren, die Partys feiern und dabei nicht auf das Wohl des Kindes achten, gibt es zum Beispiel wohlsituierte werdende Mütter, die sich während der Schwangerschaft zum Sektfrühstück treffen.

glückskind: Wie sehen die Schäden aus, die beim Ungeborenen durch Alkohol verursacht werden?

Philipp Wenzel: Wir unterscheiden drei verschiedene Unterdiagnosen: Bei der Alkohol-Spektrum-Störung weisen die Betroffenen keine körperlichen Auffälligkeiten auf. Beim Partiellen Fetalen-Alkohol-Syndrom zeigen sich Auffälligkeiten im Gesicht: ein verschmälertes Oberlippenrot, schmalere Lidspalten – die Augen sind schmaler – oder ein ebenes Filtrum, das ist die Rinne zwischen Nasenspitze und Oberlippe. Beim Vollbild des Fetalen-Alkohol-Syndroms (FAS) gibt es zudem Auffälligkeiten bei der Längen- und Gewichtsentwicklung. Die Kinder sind kleiner und leichter als 90 Prozent der Gleichaltrigen. Wir sehen bei FAS auch oft Herzentwicklungsstörungen, etwa Löcher in der Herzscheidewand, Entwicklungsstörungen im Uro-Genitaltrakt, dass etwa bei Jungen die Hoden vom Bauchraum nicht in die Hodensäcke wandern, und verkleinerte Organe.

glückskind: Gibt es etwas, das Betroffene aller drei Formen/Unterdiagnosen von Alkoholschädigungen gemeinsam haben?

Philipp Wenzel: Ja, was sie alle eint sind sehr vielfältige seelische Auffälligkeiten und ein verändertes Verhalten. Wir beobachten eine verminderte Intelligenz (IQ von unter 70), eine verzögerte Entwicklung, Störungen im Bereich Sprache und Feinmotorik, Probleme mit der räumlichen Wahrnehmung und Orientierung, fehlende Aufmerksamkeit, Probleme der Lern- und Merkfähigkeit sowie Schwierigkeiten komplexe Probleme und Handlungsabfolgen zu bewältigen. Soziale Fähigkeiten sind eingeschränkt. Psycho-soziale Problematiken und Defizite sind an der Tagesordnung. 

glückskind: Welche Verhaltensauffälligkeiten sind für das Vollbild von FAS typisch, bei dem die Alkoholschädigung am meisten ausgeprägt ist?

Philipp Wenzel: FAS-Betroffene kann man quasi als trockene Alkoholiker ansehen. Sie haben eine starke, massive Neigung zu Suchtmitteln: Drogen, Alkohol, aber auch Spiel- und Mediensucht. Betroffene können Gefahren nicht gut einschätzen, zeigen ein hohes Risikoverhalten, sind sehr draufgängerisch und dadurch als junge Erwachsene nicht selten in Straftaten involviert wie etwa Diebstahl. Sie sagen dann als Begründung etwa: „Ich finde das interessant, ich nehme das mit, das steht ja da“ – nicht nachvollziehbar für jemanden, der die Problematiken dieser von Alkohol geschädigten Menschen nicht kennt. 

glückskind: Es gibt immer wieder Mütter, die erzählen, sie hätten in der Schwangerschaft hin und wieder Alkohol getrunken. Aber ihre Kinder sind vollkommen gesund. Wie kann das sein? 

Philipp Wenzel: Es gibt keine sichere Menge an Alkohol für Schwangere. Wir können nicht sagen, ab wann beim ungeborenen Kind eine Schädigung auftritt. FAS kann ein Phänomen von Schwangeren sein, die Alkoholikerinnen sind, aber auch eines von „drei Tropfen zum falschen Zeitpunkt“. Das ist ganz unterschiedlich. In meiner Arbeit sehe ich Kinder, deren Mütter sagen: „Ich habe aber nur einmal getrunken“ – deren Kinder sind aber massiv betroffen, und dies ist dann auch wirklich nicht anders zu erklären. Und es kommen Kinder zu mir, deren leibliche Mütter angeben: „Ich habe fast jeden Tag Alkohol getrunken, auch in höheren Mengen“ – und die Kinder haben davon keine so starken Schäden davon getragen, wie ich es erwarten würde. Es kann auch sein, dass eine Schwangere einen Schluck trinkt und ihr ungeborenes Kind bekommt glücklicherweise keine Schädigung. Das Risiko ist aber sehr hoch, dass das Kind eine Schädigung bekommt, wenn eine werdende Mutter Alkohol trinkt. 

glückskind: Gibt es eine Phase in der Schwangerschaft, in der Alkohol ungefährlich ist? 

Philipp Wenzel: In der Frühphase der Schwangerschaft treffen Samen und Eizelle aufeinander und sind erst mal nicht mit dem mütterlichen Organismus verbunden. Wer also zum Zeitpunkt der Zeugung getrunken hat, muss keine Alkoholschädigung befürchten. Und dann gibt es eine lange Phase in den ersten zwei Wochen der Schwangerschaft, in denen sich die Zellen teilen, bevor sich die Eizelle einnistet. Tritt dann eine Schädigung auf, kommt es nicht zur Einnistung oder der Körper bricht die Schwangerschaft sehr früh ab. 

glückskind: Wen sehen Sie außer der Mutter in der Verantwortung, ob ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt? 

Philipp Wenzel: Der Alkoholkonsum der Mutter ist das, was das Kind am Ende schädigt. Sagen wir: „Klar, es liegt nur an der Mutter“, machen wir es uns aber viel zu einfach. Wenn eine Schwangere zum Beispiel auf eine Geburtstagsfeier geht und sagt: „Ich bin schwanger und möchte nur Wasser trinken, Cola oder Saft“, gibt es immer wieder Leute, die sagen: „Ach komm, ich habe gehört, das ist doch gar nicht so schlimm, nur ein Schluck macht nichts.“ Oder eine werdende Mutter ist auf einer großen Familienfeier – alle haben ein Sektglas in der Hand und sie fühlt sich ausgeschlossen. 

Da lassen sich manche Mütter durch die Gruppendynamik davon überzeugen, Alkohol zu trinken. Es liegt immer in der Verantwortung von allen, die im sozialen Gefüge näher an der Schwangeren dran sind, ihr den Verzicht einfacher zu machen und ihr zu helfen, diese neun Monate zu überbrücken. Gibt es einen Partner oder eine Partnerin, finde ich wichtig, dass diese enge Bezugsperson der Schwangeren ebenfalls keinen Alkohol trinkt.

glückskind: Was ist eigentlich in der Stillzeit in puncto Alkohol zu beachten?

Philipp Wenzel: Alkohol, der von stillenden Müttern getrunken wird, geht in die Muttermilch über. Er wird aber von der Mutter abgebaut und geht nicht wie in der Schwangerschaft sofort auf das Kind über, da die beiden Organismen nun getrennt sind. Alkohol in der Stillzeit ist daher möglich aber nicht ungefährlich: Es muss nach dem Konsum zwingend eine Zeit abgewartet werden, bis der Alkohol den mütterlichen Körper verlassen hat beziehungsweise abgebaut ist. Diese Zeit richtet sich unter anderem nach dem Gewicht der Mutter und der konsumierten Alkoholmenge, aber auch nach individuellen Gegebenheiten. Zur Berechnung gibt es Faustregeln – die sind aber meistens sehr unsicher. Alkohol in der Stillzeit richtet nicht so schwere Schäden an, wie in der Schwangerschaft. Da die meisten Organe des Kindes vollständig entwickelt sind. Trotzdem ist Alkohol in der Stillzeit gefährlich. Die Leber der neugeborenen Kinder braucht doppelt so lange zum Abbau von Alkohol. Der Alkohol kann also länger wirken und als Giftstoff die empfindlichen Nervenzellen des Kindes schädigen. Alkohol bei Neugeborenen führt oft zuIntelligenzminderungen und Entwicklungsstörungen.
Daher ist auch in der Stillzeit meine Empfehlung, auf Alkohol vollständig zu verzichten.

glückskind: Wird unsere Gesellschaft und Politik der Verantwortung, das Ungeborene vor Alkohol zu schützen, gerecht?

Philipp Wenzel: Da stellt sich die Frage, ab wann ein Lebensmittel alkoholfrei heißen darf oder ab wann Alkohol deklariert werden muss. In Deutschland ist das nicht bei 0,0. Es dürfen auch alkoholfreie Biere am Markt sein, die 0,5 Volumenprozent Alkohol enthalten, was für das ungeborene Kind genauso schädlich ist. Schwangere sollten also auf die 0,0 achten, die manche Hersteller angeben. Es gibt keine sichere Menge Alkohol, auch zum Beispiel nicht in Tropfen gegen Übelkeit in der Frühschwangerschaft oder anderen pflanzlichen Medikamenten, die manchmal unbedacht eingenommen werden. 

Was mir fehlt ist Aufklärung. Das schockiert mich immer wieder, dass es zum Beispiel Frauenarztkolleginnen und -kollegen gibt, die Schwangeren raten: „Wenn Sie mal abends nicht schlafen können, dann trinken Sie doch mal ein Glas Rotwein.“ Oder: „Wenn Sie morgens nicht aus dem Quark kommen, lassen Sie doch mal den Kaffee weg und trinken ein Gläschen Sekt, das hilft Ihnen auch.“ Viele wissen gar nichts über die ganzen Alltagsrisiken, wie: Was ist alkoholfrei? Was darf man eigentlich wirklich in der Schwangerschaft? Und so „ein Schlückchen in Ehren, da wird schon nichts passieren“ – so viele Trugschlüsse und in Folge vermeidbare, ärgerliche, tragische Schicksale. Wir reden hier über eine vermeidbare Erkrankung oder ein Störungsbild. Auch wenn es meine Arbeit ist, ethisch betrachtet und aus meiner beruflichen Überzeugung heraus, wäre ich gerne arbeitslos und würde gerne sagen: „Es gibt keine alkoholgeschädigten Kinder, weil wir es endlich hingekriegt haben, gesamtgesellschaftlich und politisch und medizinisch dem einen Riegel vorzuschieben.“

glückskind: Wenn ein Kind körperlich unauffällig ist, aber hirnorganische Schäden davongetragen hat, wie stellen Sie fest, dass es sich um fetale Alkoholschäden handelt?

Philipp Wenzel: Eine Fetale Alkohol Spektrum Störung, bei der keine körperlichen Auffälligkeiten vorliegen, darf ich immer nur dann diagnostizieren, wenn es gesicherte Informationen darüber gibt, dass die leibliche Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Wir schicken im Rahmen unserer Diagnostik auch ein Schreiben an die Mutter, in dem sie Fragen zum Alkoholkonsum ankreuzen kann. Je weniger körperliche Auffälligkeiten vorliegen, desto sicherer müssen wir bei den Verhaltensauffälligkeiten sein und diese auch etwa von einer kindlichen Depression oder ADHS abgrenzen. Da bin ich als Diagnostiker, im Rahmen meiner Wahrnehmung, im Rahmen diagnostischer Leitlinien und normierten Tests (Intelligenztest, Tests dazu, wie schnell ein Kind etwas verarbeitet, Aufmerksamkeitstest etc.) gefragt.

glückskind: Wie viele Kinder werden überhaupt als alkoholgeschädigt erkannt?

Philipp Wenzel: Eines von sieben betroffenen Kindern wird diagnostiziert. Die Dunkelziffer ist hoch. Wir wissen, dass wir zu wenige Diagnostiker sind. Es gibt in Deutschland keine zwei Handvoll Zentren, die das leitliniengerecht und wirklich zuverlässig tun. Manche Kollegen agieren nach Gutdünken und nicht nach den Leitlinien. Sie sagen, „Zeigt das Kind keine Auffälligkeiten im Gesicht und am Körper, ist es auch kein FAS.“ Es gibt aber wie gesagt die Fetale-Alkohol-Spektrum-Störung – da sehen betroffene Kinder normal aus. Wir brauchen mehr Diagnostiker. Wie gut ist die Trennschärfe zwischen ADHS und FAS? Bei wie vielen Kindern wurde ADHS diagnostiziert, sie leiden aber (auch) an einer Fetale-Alkohol- Spektrum-Störung? Welche Kinder sind aufgrund der fehlenden Bekanntheit von FAS auch in der Fachwelt nicht hinreichend diagnostiziert und laufen unter anderen Diagnosen, die hirnorganische Schädigungen gar nicht berücksichtigen? Auf all diese Fragen habe ich keine Antwort. 

glückskind: Wie wichtig ist die Früherkennung und welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es für Betroffene?

Philipp Wenzel: Wenn eine Alkoholschädigung früh erkannt wird, können wir früh einschreiten und das betroffene Kind früh bestmöglich fördern. Wichtig ist, das Kind als Ganzes im Familien- oder seinem Bezugssystem zu betrachten und dann die notwendige Behandlung auf den Weg bringen, die nicht nur medikamentös, sondern auch strukturell und therapeutisch ist. Wir wissen, dass Frühförderung, Ergotherapie, Logopädie, therapeutisches Reiten, also die nicht klassische Psychotherapie, sondern gerade die Zusatztherapien, den Übergang in das junge Erwachsenenalter deutlich verbessern. Wichtig ist, dass die Therapieansätze individuell angepasst sind. Oftmals brauchen Betroffene im Kindes- und Jugendalter ständige Begleitung und Aufsicht, damit sie keine Fehlverhaltensweisen zeigen, von aggressiven Impulsausbrüchen, über Zündeln bis hin zu Diebstahl usw. 

glückskind: Was hilft betroffenen Kindern darüber hinaus?

Philipp Wenzel: Dass sie in ein liebevolles familiäres System eingebunden sind ist superwichtig, aber das kann leider sehr oft nicht geboten werden. Die Kinder brauchen einen ganz stabilen Rahmen und wenig Veränderungen – und wenn, dann nur solche, die lange vorher angekündigt sind, sodass es zu wenig Irritation kommt. Dann ist hier der liebevoll stützende Rahmen wichtig: „Du bist hier, du bist hier sicher, du bleibst, alles bleibt so bestehen wie es ist und alle kümmern sich auch so um dich, wie sie es versprechen.“

… Bis man an den Punkt kommt, die Betroffenen zum Profi für die eigene Erkrankung zu machen, sodass sie die eigenen Defizite verstehen, aber auch im positiven Sinne sagen: „Ich kann aufgrund meiner Ressourcen meine Defizite ein Stück weit kompensieren.“ Es geht auch darum, dass sie akzeptieren, „Ich bin an der Stelle nicht gut aufgestellt, ich werde weiter Hilfe brauchen.“ Sodass wir später gemeinsam überlegen können, wie kann es im Berufsleben weitergehen. Viele Betroffene brauchen erfahrungsgemäß Zeit ihres Lebens Unterstützung – manche im Rahmen der Hilfe für schwerstbehinderte Menschen, manche aber auch nur im Rahmen von betreuerischer Unterstützung und juristische Betreuung. Fest steht: Wer von FAS betroffen ist, hat eine Schädigung fürs Leben. 

glückskind: Apropos „Experte für die eigene Erkrankung sein“, wie und wann können die Kinder die Diagnose Alkohlschädigung begreifen?

Philipp Wenzel: Man muss bedenken, FAS ist immer eine Diagnose für zwei, also auch für die Mutter. Die Diagnose ändert nichts mehr, erklärt aber, wo die Erkrankung herkommt. Man muss sehen, wie gut ist das Kind aufgestellt, versteht es das überhaupt? Können die Betroffenen die Tragweite verstehen? Das ist total unterschiedlich. Oft ist es auch ein Prozess. Manchmal sitze ich hier in drei, vier Terminen mit den Betroffenen, und wir reden darüber: „Warum ist das eigentlich bei mir so? Welche Erkrankung ist das? Ist das wirklich FAS? Habe ich noch etwas anderes? Ist jetzt meine Mutter schuld? Warum hat sie das gemacht?“ Es ist eben ein komplexes Thema. Was folgt ist die „Psychoedukation“, das heißt, Wege zu finden, wie die Betroffenen ihre Probleme meistern und kompensieren können und aus dieser schlechten Nachricht heraus, ich habe FAS, dennoch einen konstruktiven Weg gehen können. Die meisten Betroffenen müssen aus meiner Perspektive bis in ihre 30er-Jahre Medikamente nehmen. Allein, um sich konzentrieren und sich selbst regulieren zu können, nicht auszurasten, keine intensiven Stimmungsschwankungen zu erleiden, nicht zu klauen und Anforderungen annehmen zu können. Viele Betroffene brauchen dauerhaft Medikation.

glückskind: Wie steinig ist dieser Weg, den die Betroffenen gehen müssen?

Philipp Wenzel: Die Kinder tun mir wirklich leid. Auf der einen Seite zeigen sie sich – durch ihre intensiven Stimmungsschwankungen, aggressiven Verhaltensweisen und gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten – so igelig, stachelig nach außen. Und diese Kinder so zu akzeptieren, anzunehmen und wirklich zu mögen und zu lieben ist für Menschen, die FAS nicht verstehen, total schwer. Die sagen: „Ich komme an das Kind nicht heran, es verhält sich so oft fehl und es ändert sich nicht.“ Das Kind beteuert, etwas nie wieder zu tun, dreht sich um und macht dasselbe wieder. Es gibt wenige Erwachsene, wenige Eltern, die sagen: „Ich kann das, ich kann diesem Kind mit Liebe und Achtung begegnen.“ Die Kinder haben ja auch trotzdem ihre emotionalen Bedürfnisse wie andere Kinder auch. Im späteren Leben können FAS-Betroffene übrigens selbst gesunde Kinder zur Welt bringen – danach werde ich oft gefragt.

glückskind: Was brennt Ihnen noch auf den Nägeln zu sagen?

Philipp Wenzel: Einmal in der Schwangerschaft Alkohol getrunken und zehn Jahre später stehen wir in unserer Klinik und brauchen so viele Hilfesysteme, müssen mit allen Risiken ein Kind auch medikamentös behandeln, und müssen so viele Defizite auffüllen. Das ist teilweise unglaublich! Aus diesem einmaligen Alkoholkonsum wird ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es ist auch ein riesiges finanzielles Thema. Es sollte auch unserem Gesundheitssystem Wunsch und Wille sein, Präventionsarbeit zu betreiben und aufzuklären. 

glückskind: Danke, Herr Wenzel, für dieses Gespräch!