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“Wir muten keinen anderen Menschen einen derartigen Irrgarten an Zuständigkeiten zu“

Für den 26. Juni hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu einem Runden Tisch in sein Ministerium geladen. Thema war, „die Versorgung Schwerstbehinderter Kinder zu stärken und Familien von Bürokratie zu entlasten.“ Dazu sollen die Bedarfe der Familien ermittelt werden. Mit von der Partie in dieser Runde in Berlin war auch Dagmar Elsen, Journalistin, Autorin und Initiatorin der Kampagne Happy Baby No Alcohol. Es bot sich ihr die Chance, auf das Grundübel für alle Menschen, die unter fetalen Alkoholschäden leiden, hinzuweisen: die fehlende Festschreibung Fetaler Alkoholspektrumstörungen (FASD) in der Versorgungsmedizinverordnung. Hier ihr Bericht aus Berlin:

Werden Eltern von Kindern mit Behinderungen gefragt, was sie sich zur Entlastung ihres Lebens wünschen, so steht an erster Stelle der Ruf nach Entbürokratisierung. Als nächster Punkt wird unzulängliche Beratung genannt. Das ergab unter anderem eine aufwändige Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus den Jahren 2021/2022 mit dem Titel “Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe und Hinweise auf Inklusionshürden“. Das 123 Seiten starke Forschungsergebnis war denn auch eine Grundlage für den Plan des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach, ein „Barrierefreies Gesundheitswesen“ zu schaffen, das er noch in diesem Sommer vorstellen will. Das Auftaktgespräch dafür fand im April diesen Jahres statt, in dessen Folge von ihm zu diesem Runden Tisch geladen wurde. Ziel war es, auch von Medizinern und Vertretern sozialer Einrichtungen und Verbänden zu hören, wo die Defizite in unserem Gesundheitssystem liegen und wie die Versorgung Schwerstbehinderter Kinder verbessert werden kann. Es handelt sich um „eine sehr vernachlässigte Gruppe unserer Gesellschaft“, konstatierte der Bundesgesundheitsminister. 

Dafür schaffte Lauterbach das Novum einer ressortübergreifenden Runde in Berlin. Denn Ausrichter des Runden Tisches war zwar das Bundesgesundheitsministerium, dies aber in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales. Zudem waren Bundestagsabgeordnete der Koalition vertreten. Und in der Tat – „diese Runde ist ein Meilenstein“, äußerte denn auch Professor Dr. Florian Heinen aus München unter allgemeiner Zustimmung.

Wie schon die genannte Studie gezeigt hatte, wurde auch in der Berliner Runde hervorgehoben, dass eine Entbürokratisierung oberste Priorität haben müsse. „Es ist ein trägerübergreifender Ansatz notwendig“, sagte der Bundesbehindertenbeauftragte Dusel. Viele Eltern wüssten gar nicht um ihre Leistungsansprüche. Und weiter: “Wir muten keinen anderen Menschen einen derartigen Irrgarten an Zuständigkeiten zu.“ Beklagt wurde außerdem, dass sich Betroffene immer als Bittsteller fühlten, die Regeln zu starr seien, mangelnde Wertschätzung, unzureichende Beratung, fehlendes Fachwissen, zu wenig Fortbildung, fehlende Unabhängigkeit von Verfahrenslotsen, Mangel an Fachkräften und vieles mehr. 

In der Runde im Bundesgesundheitsministerium wurde schnell sichtbar, dass, egal in welcher Form und wie schwer die Kinder beeinträchtigt sind, alle mit den gleichen oder ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Ebenso ihre Familien und Betreuer.

Allerdings, trug ich vor, haben Betroffene fetaler Alkoholschäden on top mit der Tatsache zu kämpfen, dass FASD in der Versorgungsmedizinverordnung bislang nicht festgeschrieben sind. Das bedeutet, allein schon die Anerkennung der Diagnose ist ein aufreibender Akt, der leider oft nicht von Erfolg gekrönt ist. Dass diese Festschreibung endlich geschieht, dafür mache mich seit geraumer Zeit stark. Zu meiner wunderbaren Unterstützung habe ich die SPD-Staatssekretärin Kerstin Griese und den Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel gewinnen können. So ist es gelungen, FASD auf die Agenda des Gremiums zu setzen, das aktuell dabei ist, ein Update von der Verordnung zu machen. 

Ich wies darauf hin, dass eine Parallelisierung zu Autismusspektrumstörungen, die bereits in der Verordnung gelistet sind, keine große Sache sei. Ein entsprechender Gesetzestextentwurf von Professor Dr. Hanns-Rüdiger Röttgers aus Münster liege bereits vor. Jetzt fehle noch die Unterstützung des Bundesgesundheitsministerium. Lauterbach stimmte mir ohne Wenn und Aber zu, dass fetale Alkoholschäden thematisch sowohl gesellschaftlich als auch im medizinischen Bereich absolut unterrepräsentiert sind. In anderen Ländern wie beispielsweise Skandinavien oder Kanada sei man da viel weiter. Er bat mich, mein Anliegen und den Stand der Dinge zu verschriftlichen, damit die Sache entsprechend geprüft werden könne.

Endlich sagt es mal jemand!

Ein Leserbrief zum Sachbuch „Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr“ von Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2022, ISBN: 978-3824813032:

Ich bin Pflegemutter. Seit 2008. Pflegemutter eines damals gerade zwei Jahre alten Kindes mit dem Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS). Blauäugig sind wir in die Pflegschaft gestartet, naiv, unwissend, hoch motiviert. Heute, 14 Jahre später, lese ich das Buch der Autorin Dagmar Elsen und wünschte mir aus vollem Herzen, dieses Buch hätte es schon 2008 gegeben!

Wieso? Weil unserer persönlichen Erfahrung nach einzig Professor Hans-Ludwig Spohr von der Charite´ uns damals auf einige, bei weitem nicht alle Probleme, Sorgen, Auffälligkeiten des fetalen Alkoholsyndroms aufmerksam gemacht hat. Informationen zur Gesundheit des Kindes, zum Ausmaß des bekannten Alkoholkonsums der Mutter, zur Perspektive des Kindes mit seiner angeborenen Behinderung, gab es von Seiten des Jugendamtes nur sehr spärlich. Gut in der Hinsicht, dass wir damals dachten: wird schon! Schlecht, weil wir garantiert aus Unwissenheit, Unsicherheit und aus dem Bauch heraus Entscheidungen getroffen haben, die ich mit meinem jetzigen Wissen natürlich anders machen würde.

Und dabei hätte mir ein Buch wie das der Autorin Elsen sehr helfen können!                                      

Nicht nur, weil sie akribisch zum Thema FASD recherchiert hat und selbst Nichtkenner der Materie hier im Buch alles über die fetalen Alkoholschäden, deren Folgen und Auswirkungen, nachlesen können. Nein, ihr gelingt es, dem rein Fachlichen eine persönliche, gar menschliche Note zu geben, indem sie Kontakt zu Betroffenen aufgenommen hat und deren Geschichten einfühlsam niederschreibt. Und was für Geschichten! Ohne aufdringlich oder reißerisch zu wirken, erzählt sie hier von Alltagsepisoden und Problemlagen, die in den Familien mit FASD- Kindern jederzeit und immer anzutreffen sind.

Oh, wie habe ich mich wiedergefunden: die Seiten über die Schulkonflikte, die Berichte zum Umgang des Jugendamtes mit der von der Charite´ gestellten Diagnose, die Unkenntnisse über die vielen „Gesichter“ von FASD…vieles kenne ich auch aus unserem privatem Umfeld!

Es mag dem einen oder anderen Leser vielleicht vorkommen, als gäbe das Buch zu wenig Zuversicht, zu wenig Mut! Meiner Meinung nach klärt das Sachbuch auf: DAS LEBEN MIT EINEM FASD – KIND IST ANSTRENGEND, HERAUSFORDERND und OHNE HILFE KAUM ALLEIN ZU BEWERKSTELLIGEN.

Endlich sagt es mal jemand! Aufklärung tut Not und Beschönigen der Diagnose hilft niemandem, schon gar nicht dem betroffenen Kind.

Dagmar Elsen schreibt in ihrem Vorwort von „kämpferischen Menschen, die aufstehen, die sich trauen, ihre Rechte zu benennen und einzufordern, die ihre Stimme erheben und an die Öffentlichkeit gehen“. Diese Menschen braucht es, es braucht Initiatoren wie Dagmar Elsen, deren Sachbuch eine notwendige Folge Ihrer Kampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL ist. Denn ganz ehrlich, es wird auch in der nahen Zukunft Kinder wie Luca und Max, Erwachsene wie Jenny und Dörte geben.

Menschen, die auf die Aufklärung zum fetalen Alkoholsyndrom angewiesen sind. Damit sie Hilfen bekommen und ein barrierefreies, sicheres Leben leben können. Dieses Sachbuch klärt auf!

Hat mich persönlich das Buch davon abhalten können, mit einem FASD-Kind zusammen zu leben?

Ganz klar: Nein!

Trotz aller familiären Schwierigkeiten, der immer noch vorhandenen Unwissenheit und der Halbwahrheiten über FASD bei Kita, Schule und Behörden, der vielen Unwägbarkeiten im Jugend- und Erwachsenenalter haben mein Mann und ich beschlossen, einem weiteren alkoholgeschädigtem Kind Familie zu sein und Zukunft zu geben.

Gerade weil es solche Bücher wie „Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr“ gibt, dass ich jetzt verschenken kann, um aufzuklären, zu erklären und Hilfe für uns und unser Kinder zu bekommen.

Gerade weil diese Kinder am wenigsten dafür können, als sogenannte „Systemsprenger“ in der Gesellschaft abgestempelt zu werden.

Und gerade weil die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft immer noch unterschätzt wird.Kathrin Niedermanner, Dozentin für Kindeswohlgefährdung

Neue FASD-Beratungsstelle in Rostock

Und plötzlich kommt der Tag, an dem man offene Türen einrennt. So war es bei Conny Kirsten aus Rostock, als sie nach erfolglosen Versuchen anderswo bei der Rostocker Stadtmission e.V. anklopfte, ihr Konzept für eine FASD-Beratungsstelle vorstellen zu wollen.  „Die haben dort schon eine Wohngruppe, in der Kinder mit FASD leben. Die Chefin ist selbst FASD-Fachkraft. Deshalb war sie für das Thema sehr offen und sehr interessiert“, erzählt Conny, selbst FASD-Fachkraft und Pflegemutter eines Kindes mit FASD. Schnell war entschieden, bei Aktion Mensch e.V. eine Projektförderung zu beantragen. 

Morgen, 29. März, nun, ist die offizielle Eröffnung der FASD-Beratungsstelle für Mecklenburg-Vorpommern, auch wenn die engagierte FASD-Akteurin schon längst tätig ist und reichlich Anfragen zu verzeichnen hat. Diese kommen bislang von Hebammen, Jugendhilfeeinrichtungen, Pflegefamilien und den Gesundheitsämtern. „Aus dem Jugendhilfebereich sind es vor allem die Familienhelfer, die frühen Hilfen, die Landeskoordinierungsstelle Sucht, die Sucht- und Psychiatriekoordinatoren“, listet Conny auf. Es seien die übergeordneten Stellen, die sie auf dem Schirm hätten. In den Jugendämtern herrsche allerdings eher Zurückhaltung – bis auf einige Fallmanager. „Tatsächlich haben sich mehrere Fallmanager für die Eröffnungsveranstaltung angemeldet. Es ist das erste Mal, dass ich merke, die springen an oder auf. Das ist ganz toll, das macht mich glücklich“, freut sich Conny. 

Das Portfolio, das sich die Beratungsstelle auf die Fahne geschrieben hat, ist groß und muss Conny mit Unterstützung einer Assistenz zunächst allein wuppen. Viel Raum nimmt ein die persönliche Beratung, ob vor Ort, telefonisch oder digital; selbstverständlich, wenn gewünscht auch anonym. Dabei kann es um allgemeine Fragen zu FASD gehen, um familiäre Herausforderungen für Angehörige und ihre Bezugspersonen, um FASD-Themen in professionellen Kontexten. Helfen will die Fachfrau aber auch bei der Suche nach pädagogischer, therapeutischer und medizinischer Unterstützung. Nicht zu kurz kommen sollen außerdem Prävention und FASD-Fortbildungen. Bislang seien insbesondere Schulsozialarbeiter, Inklusionsbegleiter und Pflegeeltern geschult worden. „Es ist auch Schulung angedacht für Adoptivbewerber und Menschen, die bereits adoptiert haben“, berichtet Conny. Am schwierigsten sei es, mit der Ärzteschaft in Kontakt zu kommen: „Da stoßen wir auf sehr viel Vorbehalt und Widerspruch.“ Die FASD-Fachfrau macht es an einem Beispiel deutlich. 

Vor einiger Zeit hatte Conny mit ihrem seinerzeit gegründeten Verein eine Broschüre zum Thema entwickelt. Diese verteilten sie an Arztpraxen, Hebammen, Erziehungs-, Schwangeren- und Suchtberatungsstellen. Zwei symptomatische Antworten: „Meine Praxis ist in der Innenstadt. Solche Patientinnen habe ich nicht“, oder, „so viele kranke Frauen behandle ich nicht in meiner Praxis.“

Desinteresse herrsche auch in den politischen Reihen in Mecklenburg-Vorpommern. Zu den Einladungen zur Eröffnungsveranstaltung seien nur Absagen gekommen. Immerhin sitzt Conny demnächst im Ministerium in einigen Arbeitsgemeinschaften, in denen sie sich wird vorstellen dürfen. „Inwieweit das in Politikerkreise vordringt, werde ich sehen“, so Conny.

Beirren von derlei ablehnender Haltung lässt sich Conny Kirsten jedenfalls nicht und treibt ihre Planungen voran: Flyer entwickeln, eine Netzwerkkarte mit Angeboten rund um FASD erstellen, Kunstprojekte, ein Schreib-, ein TikTok-Workshop, eine Wanderausstellung. Einzig hadert Conny ein wenig mit der Tatsache, dass sie noch nicht so viele Kontakte zu erwachsenen Betroffenen hat. Das liege wohl ein bisschen an dem Flächenland Mecklenburg-Vorpommern. Conny: „Die Informationen fließen hier noch schlechter als anderswo. Und es ist ja auch so, dass viele die Diagnose noch gar nicht haben. Die Zahl ist vermutlich sehr hoch, da wir ja traurige Spitzenreiter bei vielen alkoholbezogenen Studien sind.“

Wer Lust hat, bei der Eröffnung mit von der Partie zu sein – es gibt zwei Vorstellungsrunden: um 9 Uhr und um 10.30 Uhr. 

Wer außerdem Kontakt knüpfen möchte: Cornelia Kirsten, Bergstraße 10, 18057 Rostock, Tel. 0381-4613616, mobil 0151-22420953 

Autorin: Dagmar Elsen

Seit 13 Wochen illegale Inobhutnahme

Keine Telefonate, keine Mails, geschweige denn irgendwelche Besuche vom Pflegekinderdienst. Keine Vormundschaft für niemand, keine Ausstattung, keine Ausweise, keine U3-Untersuchung, kein Geld. Seit einiger Zeit liegt wenigstens das gelbe Heft vor, später kam noch eine Kopie der Geburtsurkunde hinzu. 

Das ist der Faktencheck von Carla (Name geändert), die als Pflegemutter von zwei Kindern mit fetalen Alkoholschäden im Spätherbst des vergangenen Jahres vom Jugendamt gefragt worden war, ob sie jemanden kenne, der im Dezember ein Kind mit FASD aufnehmen würde. Die schwangere Frau habe selbst FASD, ihr geschädigtes Erstgeborenes sei ihr seinerzeit auch schon weggenommen worden. Wochen später ein Anruf, ob Carla bereit sei den Säugling aufzunehmen. Man würde jetzt zur Mutter fahren und das Gespräch suchen. „Eineinhalb Stunden später riefen sie mich erneut an und sagten, dass sie sich jetzt auf den Weg machen zu mir“, erzählt die Pflegemutter. Und weiter: „Ich habe schnell Windeln geholt. Alles andere werden die ja wohl dabeihaben, dachte ich mir.“

Von wegen. Nur eine Tüte mit wenigen Klamotten, ein Fläschchen und ein halbes Paket Milchpulver. Carla regt sich noch immer auf: „Sie erzählten, der Säugling habe zum letzten Mal vor fünf Stunden getrunken.“ So schnell wie die Damen vom Jugendamt gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder. „Ich habe immer wieder den Kontakt gesucht“, klagt Carla. Nur der Allgemeine Soziale Dienst, der das Kind zunächst in Obhut genommen hatte, habe reagiert und seine Verzweiflung gezeigt, dass man einfach nicht weiterkomme. Obwohl es Vorschrift sei, dass der Pflegekinderdienst innerhalb von drei Wochen überprüfen müsse, wo das Kind hingekommen sei. Das sei definitiv eine illegale Inobhutnahme, habe der Pflegekinderdienst verlauten lassen.

Selbst das Gericht, das innerhalb von vier Wochen über den weiteren Verbleib hätte entscheiden müssen, zucke desinteressiert mit den Achseln. Man sei sich der Tatsache, dass es sich um unrechtmäßige Inobhutnahme handele, bewusst. Man habe aber schlicht keine Zeit. Man könne doch froh sein, dass die Pflegemutter das Kind genommen habe, sonst wäre es tot. Die leibliche Mutter sei sowieso unauffindbar. Außerdem überlege man, ob man den Fall an das örtliche Gericht abgebe, wo sich das Baby nun aufhalte. 

Carla empört über die lapidare Haltung des Gerichts engagierte dann einfach auf eigene Faust die Hebamme, marschierte zum Kinderarzt und buchte für den Säugling, der inzwischen zu einem propperen Baby geworden ist, Physiotherapiestunden. „Die würden das Baby gar nicht mehr erkennen“, sagt die Pflegemutter. Deshalb schickt sie sicherheitshalber immer wieder Fotos ans Amt.

Finanziell sieht es nicht minder düster aus. Die aufgelaufenen Kosten betragen inzwischen fast 4000 Euro. Carla hat noch nicht einen Cent gesehen. Sie weiß von Pflegeeltern, die schon seit 18 Monaten auf das Pflegegeld warten. Carla überlegt nun, ob sie eine Untätigkeitsklage einreicht.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Ein MUST-Read für alle, die mit Kindern arbeiten

Rezension des 2022 im Schulz-Kirchner Verlag erschienen Sachbuches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, der Autorin Dagmar Elsen – von Annika Rötters, @psychotrainment, Diplom-Psychologin und Gesprächstherapeutin

Das Buch beginnt mit einem Knall. Eine Fallbeschreibung, deren Dramatik und Tragik die Ernsthaftigkeit der Lage so deutlich machen, dass ein Wegschauen unmöglich ist.

Schritt für Schritt arbeitet Dagmar Elsen anschließend heraus: Bei vorliegenden Alkoholfolgeschäden – wie stehen sich Kindesrecht und Elternrecht gegenüber? Welche Stigmatisierung kommt mit der Diagnose? Wie leicht wird es Fachpersonal gemacht, wegzuschauen (durch z.B. einen fehlenden Standard an Informationen zur fetalen Alkohol-Spektrum-Störung).

Das Buch ist leicht zu lesen – und schwere Kost. Es wirft Fragen auf, wie etwa die Frage nach der echten/vermeintlichen/vielleicht in manchen Fällen möglicherweise gar wissentlich vorgetäuschten Unwissenheit, mit der im Nachhinein oft argumentiert wird.

Neben weiteren Fallbeispielen geht Dagmar auf den aktuellen Stand des wissenschaftlichen Wissens ein – FASD und Abgrenzungen zu ADHS, gibt einen kurzen geschichtlichen Abriss und beantwortet noch einmal prägnant und schlüssig argumentiert, warum Aufklärung „auch heute noch“ bzw. GERADE heute zwingend notwendig ist.

Das Buch enthält viele sinnvolle Informationen über FASD, Wirkungen von Alkohol, erste Anzeichen und Ansätze, um Verständnis für Menschen mit fetalen Alkoholschäden zu schaffen.

Aus verschiedenen Perspektiven zeigt Dagmar einfühlsam, jedoch stets auch klar und prägnant, wie gesellschaftlich verwurzelt, stigmatisiert und stigmatisierend und gleichzeitig lebensbedeutend die Diagnose und die damit verbundene Hilfestellung ist. Dabei kommen sowohl Betroffene zu Wort als auch in einem Kapitel eine Mutter, die selbst Alkohol in der Schwangerschaft konsumiert hat. 

Anhand des Roten Fadens der Lebensentwicklung eines Kindes geht Dagmar auf frühzeitige Diagnosen, frühe Hilfen und fehlende Konzepte ein, beschreibt Therapien, diskutiert das Thema Schwerbehindertenausweis, zeigt verschiedene Perspektiven für Schule, Ausbildungs- und Berufswege auf.

Immer wieder gibt es echte Fälle, Beispiele mitten aus dem Leben, die zeigen: Deutschlandweit ist der Umgang mit (Verdacht auf) FASD momentan leider Glückssache. Und gleichzeitig zeigt Dagmar Wege auf, stets mit dem Fokus: Wie stoppen wir Syndrom, Stigmatisierung und Ausgrenzung?

Dieses Buch ist ein MUST-Read für alle, die mit Kindern arbeiten.

“Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2022

Tauscht euch im Team aus, holt euch Hilfe durch Experten, seid offen für die Ideen der Eltern, vermeidet Besserwisserei!

Immer wieder machen Eltern von Kindern mit fetalen Alkoholschäden die für sie erstaunliche Erfahrung, dass selbst Sonderpädagog:innen auf Förderschulen FASD nicht auf dem Schirm haben. Statt dass Lehrer:innen ihnen Glauben schenken, dass ihre Kinder einen entlastenden Umgang benötigen, müssen sich fassungslose Eltern immer wieder anhören, sie seien unfähig ihre verhaltensauffälligen Kinder zu erziehen. So ist es auch der Lehrerin und Mutter einer Adoptivtochter und eines Pflegesohnes mit fetalen Alkoholschäden Anne-Meike Südmeyer ergangen. Nach reichlich negativen Erfahrungen wuchs in ihr der Wunsch mitzuhelfen, die Schullandschaft zu verändern. Sie machte eine Ausbildung zur FASD-Fachkraft. Seitdem hält sie Vorträge und gibt Workshops in Förderschulen und Schulen für Behinderte. Positiv FASD-Wissen zu vermitteln ist der Schlüssel: Wird Anne-Meike gebucht, seien die Lehrer:innen in aller Regel sehr interessiert an der Thematik. Zugute komme ihr als Referentin dabei, dass sie sowohl Lehrerin als auch Pflegemutter sei. In dieser Doppelrolle kann sie authentisch punkten. Wir haben sie dazu im Rahmen eines Interviews eingehender befragt.

Anne-Meike, welche Erfahrungen waren es, die Dich dazu bewogen haben, eine Ausbildung zur FASD-Fachberaterin zu machen?

Anne-Meike: Als unser Pflegesohn bei uns einzog, stellte ich schnell fest: Alles, was ich bisher über Pädagogik gelernt hatte, funktionierte bei ihm nicht. Als Mutter habe ich noch einmal neu angefangen mich damit auseinanderzusetzen, wie ich ihm durch mein erzieherisches Handeln helfen könnte. Dabei bin ich nicht der Auffassung, dass Kinder mit FASD gar nicht erziehbar sind – vielleicht in Teilbereichen, aber nicht grundsätzlich. Nach meinen Erfahrungen braucht es oft deutlich mehr „Umdrehungen“, bis es zu einer Veränderung kommen kann. Von entscheidender Bedeutung ist ein wohlwollendes und der Behinderung entsprechend förderliches Umfeld.

Mein Mann und ich sind von Anbeginn an sehr offen mit den Besonderheiten unseres Sohnes umgegangen. Leider sind wir in Institutionen wie Kindertagesstätte, Schule und Jugendhilfe oft nur so lange auf Verständnis gestoßen, bis nichts Schlimmeres passierte. Sobald unser Pflegesohn andere Menschen unkontrollierbar beschimpfte oder seine Impulsdurchbrüche sich auch in körperlichen Attacken ausdrückten, kam man mit der Geduld schnell ans Ende.

Eine besondere Krise erlebten wir mit der Einschulung. Das Jugendamt war vom ersten Schultag an bereit, für zehn Stunden in der Woche eine Schulbegleitung zu finanzieren. Die Schule lehnte dies ab, man wollte es erst einmal allein versuchen. Nach einem Vierteljahr forderten seine Lehrer*innen von jetzt auf sofort rund um die Uhr eine Integrationskraft. Immer wieder hieß es: „Reden Sie mit Ihrem Sohn, so kann es nicht weitergehen.“ Ich verstehe bis zum heutigen Tag nicht, weshalb drei verschiedene Sonderpädagog*innen plus Kinderarzt plus Schulärztin unseren Pflegesohn ausgiebig getestet haben, aber niemand auf die Idee kam, dass eine fetale Alkoholschädigung vorliegen könnte.

In dieser Zeit ist mein Wunsch entstanden, in meinem schulischen Umfeld dazu beizutragen, dass mehr Menschen über FASD Bescheid wissen. Deshalb habe ich Jahre später eine Ausbildung als FASD-Fachberaterin gemacht. Mit Hilfe dieser Ausbildung ist es mir möglich, Vorträge und Workshops anzubieten. Ich habe in der Ausbildung sehr viel gelernt und beeindruckende Menschen kennen gelernt. 


Untersuchungen in der USA zufolge gibt es in einer Gruppe von zwanzig Personen mindestens einen, der an fetalen Alkoholschäden leidet. Das bedeutet, dass in jeder oder jeder zweiten Klasse ein Schüler ist, der betroffen ist?

Anne-Meike: Ganz genau, das erzähle ich in meinen Moderationen auch. Auf der einen Seite kann man davon ausgehen, dass der Anteil in den noch verbliebenen Förderschulen vermutlich höher ist. Andererseits dürfen wir auch die Dunkelziffer der nicht Diagnostizieren nicht vergessen. Und die Kinder, die einigermaßen „sozial verträglich“ sind, finden wir auch in Grundschulen und weiterführenden Schulen. ADHS kennt jeder Lehrer und jede Lehrerin, über FASD ist noch viel zu wenig bekannt. 

Erfahrungsgemäß stößt man selbst bei Förderschullehrer*innen auf große Unwissenheit, was das Thema FASD angeht. Eltern von diesen Kindern wird deshalb selten geglaubt, was sie über ihre Kinder erzählen. Eher wird davon ausgegangen, sie seien erziehungsinkompetent. Wie sind Deine Erfahrungen mit Lehrerkolleg*innen an der Schule Deines Sohnes? 

Anne-Meike: Meine Erfahrungen sind ganz unterschiedlich. Dass wir erziehungsinkompetent seien, hat man uns anfangs auch unterschwellig unterstellt. Deshalb war ich so froh, als wir die Diagnose hatten!

Förderschullehrer*Innen beanspruchen gerne für sich, sich mit FASD auszukennen. Da hört man dann schon einmal Sätze wie „Ich hatte bisher in jeder Klasse mindestens ein Kind mit FASD“. Die Kenntnis darüber, dass es FASD gibt, führt jedoch nicht automatisch dazu, dass sich ein adäquates Handlungswissen ausbildet. Da sind mir Menschen lieber, die ehrlich bekennen, überhaupt keine Ahnung von FASD zu haben, mir dann aber voller Interesse zuhören und ihr eigenes Handeln überdenken. Sicherlich dürfen wir auch nicht vergessen, wie herausfordernd das Verhalten eines Menschen mit FASD sein kann. Als Mutter merke ich selbst, dass auch ich nach all den Jahren noch in die „FASD-Falle“ tappe.

Es braucht viel, um diesen Menschen in der Schule gerecht zu werden: kleine Lerngruppen, ein vertrauensvolles Miteinander im Kollegium, eine gute Zusammenarbeit mit Eltern, eine Fehlerkultur, die Bereitschaft sich selber in Frage zu stellen, ein gutes Krisenmanagement, Kraftquellen im Alltag, vielleicht Supervision, Humor, Gelassenheit, Phantasie und auf jeden Fall das Verlassen eingefahrener, angeblich „bewährter“ Pfade, ganz im Sinne von: „Der Kopf ist rund, damit das (pädagogische) Denken die Richtung wechseln kann.“ (Francis Picabia). Was auf keinen Fall hilft ist die Annahme, dass gelernte Maßnahmen zur Verhaltensregulierung  auch bei diesen Kindern helfen. Auch Ordnungsmaßnahmen erhöhen oft nur den Druck auf das ohnehin schon sehr belastende Familiensystem. 


Wie ist der Umgang mit Dir diesbezüglich an Deiner Schule? 

Anne-Meike: Ich habe im Sommer die Schule gewechselt. An meiner neuen Schule wissen noch gar nicht alle Kolleg*innen im Detail über unsere Kinder Bescheid. Die Kollegin, mit der ich am engsten zusammenarbeite, äußert sich mir gegenüber sehr wertschätzend. Neulich meinte sie, in der Zusammenarbeit mit mir würde sie spüren, dass ich in manchen Situationen aufgrund der Erfahrungen mit meinen nicht so ganz einfachen Kindern anders handeln würde. Davon hätte sie schon sehr profitiert. Ich freue mich, wenn ich dazu beitragen kann, Kindern mit einem anderen Verständnis zu begegnen. 

Wo siehst Du die größten Problemfelder im Umgang mit Schulkindern, die FASD haben?

Anne-Meike: Das größte Problemfeld sind für mich die Impulsdurchbrüche, unter denen viele Kinder mit FASD leiden. Es erfordert ein besonderes Standing, wüste Beschimpfungen nicht persönlich zu nehmen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Schule kein entspanntes Arbeitsfeld ist. Im Unterricht bin ich als Lehrerin in der Regel hoch konzentriert; diverse unerwartete Reize prallen gleichzeitig auf mich ein. In allgemeinbildenden Schulen stehe ich oft noch allein in einer Klasse. Das Kind beschimpft ja nicht nur mich, sondern auch seine Mitschüler*innen, die es zu schützen gilt. Nicht jede Integrationskraft ist in der Lage mit einem „hochexplosiven“ Kind umzugehen. Unser Pflegesohn hat manchmal in der Schule in Stresssituationen die Selbstkontrolle verloren. Mir hat es sehr weh getan, dass es den Pädagog*innen nicht gelungen ist, deeskalierend auf ihn einzuwirken. Statt beruhigend vorzugehen, haben sie manchmal seinen Wutanfall provoziert.

Es gehört sicherlich zur Königsdisziplin der Pädagogik, auf herausforderndes Verhalten nicht sogleich mit Konsequenzen zu reagieren, sondern unaufgeregt und geduldig dafür zu sorgen, dass der Betroffene wieder zur Eigensteuerung zurückfindet. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir uns in der Schule verstärkt mit diesem Thema auseinandersetzen und entsprechende Kompetenzen erwerben müssen. Gewalt geht nicht nur von Schüler*innen aus, sondern auch Lehrer*innen verhalten sich zuweilen übergriffig. 

Natürlich gibt es auch die anderen Schulkinder mit FASD, die sich den Vormittag über extrem zusammenreißen. Sie schaffen es mit letzter Kraft in das Auto der abholenden Pflegemutter. Dort entlädt sich dann ihre Wut. Lehrer*innen fällt es manchmal nicht leicht, sich das vorzustellen. Anerkennende Worte sind hier gegenüber den Pflegeeltern auf jeden Fall wichtig. Viele Pflegeeltern berichten davon, wie viel Konfliktpotential das tägliche Anfertigen der Hausaufgaben bedeutet. Ich wünsche mir, dass Lehrer*innen offener werden für alternative Lösungen. Hausaufgaben sind nicht der Nabel der Welt.

Vielen Kindern mit FASD tut eine gleichbleibende, enge Struktur sehr gut. Veränderungen können nur behutsam ertragen werden. Dieses enge Gerüst schränkt andere Kinder in ihrem explorativen und entdeckendem Lernverhalten ein. Sie genießen offenere Lernsituationen. Hier gilt es, einen guten Mittelweg zu finden. Ich wünsche mir, dass wir Schule ganz neu denken und endlich von einer Defizitorientierung hin zu einer Stärkenorientierung kommen. Ohne unser tradiertes Leistungssystem, mit kleineren Lerngruppen und mehr Personal könnten wir endlich dem Anspruch nach individueller Förderung gerecht werden. So lange viele Kinder mit FASD auf Förderschulen besser aufgehoben sind, haben wir den Anspruch auf Inklusion nicht annähernd erfüllt. 

Wann ist welche Schulform für FASD-Kinder geeignet?

Anne-Meike: Darauf gibt es keine generelle Antwort, so unterschiedlich sind die Begabungen und Besonderheiten bei Kindern mit FASD ausgeprägt. Es gilt für jedes Kind individuell zu gucken. Allgemein lässt sich wohl sagen: Je kleiner die Lerngruppe, desto besser. Überforderung tut auf keinen Fall gut. Aber gilt das nicht im Grunde genommen für jedes Kind? Allerdings könnten Kinder mit einer Hirnschädigung wie FASD schwierige Lernbedingungen wie Lautstärke, Reizüberflutung, häufige Lehrerwechsel etc. deutlich weniger gut kompensieren. Sehr viel hängt mit Sicherheit von der Persönlichkeit der Lehrer:innen ab, die das Kind unterrichten. Begegnen sie dem Kind mit Verständnis und Wertschätzung, ist das die halbe Miete. Leider ist das nicht selbstverständlich.

In welcher Form können die meisten FASD-Kinder grundsätzlich unterstützt werden?

Anne-Meike: Ich glaube, dass sich das so grundsätzlich nicht sagen lässt, denn es gibt solche und solche Kinder mit FASD. Wenn wir aufhören würden, den Kindern bösen Willen oder Absicht zu unterstellen, wenn sie sich nicht an vorgegebene Regeln halten, und begreifen würden, dass sie oft nicht anders können, wäre schon viel gewonnen.

Welchen persönlichen Rat gibst Du Deinen Lehrerkolleg*innen im Umgang mit FASD-Kindern?

Anne-Meike: Einen besonderen Rat gibt es nicht. Ich versuche aufzuzeigen, wie diese Kinder ticken, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Ausprägungen ganz unterschiedlich sein können. Nach meinen Erfahrungen sind die Betroffenen selbst die besten Experten für sich. Deshalb sollten wir nicht nur über sie sprechen, sondern sie aktiv in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Ich selbst habe viel von unserem Pflegesohn im Umgang mit ihm lernen können und dies in meinem Buch ‚Schulkinder mit FASD‘* zum Ausdruck gebracht. 

Darüber hinaus kann ich nur empfehlen, sich frühzeitig Hilfe zu holen. Für einen Lehrer:in allein kann es nur sehr schwer möglich sein, die besonderen Herausforderungen zu bewältigen, die Kinder mit FASD mit sich bringen können. Mein Rat: Tauscht euch im Team aus, holt euch Hilfe durch Experten, seid offen für die Ideen der Eltern! 

Was sollten Lehrer*innen im Umgang mit den Eltern vermeiden?

Anne-Meike: Besserwisserei!!! Eine Lehrerin oder ein Lehrer muss nicht alles wissen; Pflege- und Adoptiveltern bringen oft einen großen Schatz an Expertenwissen mit. Sie freuen sich, wenn Lehrer*innen ihnen zuhören! Auch Moralisieren und Vorwürfe sollten Lehrer*innen vermeiden. Die Mutter eines Kindes mit FASD ist zunächst einmal eine Mutter. Und welche Mutter möchte nicht nur Gutes über ihr Kind hören? Pflege- und Adoptiveltern leisten oft täglich Schwerstarbeit. Es darf nicht sein, dass sie sich in Elterngesprächen wie auf der Anklagebank fühlen. 

Außerdem finde ich es wichtig, als Lehrerin auch eigene Fehler einzugestehen. Niemand kann mit solch einem Kind alles richtig machen. Das wissen die Eltern nur zu gut aus jahrelanger Erfahrung: Wenn es Eltern und Lehrer*innen gelänge, vertrauensvoll, den anderen achtend, humorvoll, kreativ und sich gegenseitig ermutigend zusammenzuarbeiten, wenn jeder dem anderen zugesteht, auch einmal an seine Grenzen zu kommen, und das offen kommunizieren darf, wenn keiner meint, die einzig richtige FASD-Weisheit zu kennen, dann kann eine Erziehungspartnerschaft entstehen, unter der auch ein Kind mit FASD wachsen und gedeihen kann.

*”Schulkinder mit FASD”, Anne-Meike Südmeyer, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2021

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Happy Baby-Kampagne

Viele Ärzte und Hebammen empfehlen immer noch Wehencocktail mit Alkohol

Immer wieder berichten uns verunsicherte Schwangere, dass ihnen von medizinischem Fachpersonal ein Wehencoktail mit Alkohol angetragen worden ist. Manche lehnen das ab, weil sie wissen, dass Alkohol immer schädigend für das Kind sein kann. Viele vertrauen ihrem Arzt, der Hebamme, dass sie wissen, was sie tun und trinken brav.

Nicht nur unsere Happy Baby-Botschafterin, Ergotherapeutin und Stillberaterin Bärbel alias @stillenentdecken reagiert darauf mit Entsetzen: „Ist es zu fassen? 2022 und sie empfehlen es noch!?“

Es umtrieb sie herauszufinden, in welchen Ausmaßen das stattfindet. Sie startete eine Umfrage: Hattest Du einen Wehencocktail mit Alkohol empfohlen bekommen? Wann?

Hier ein paar Antworten:

Habe keinen bekommen, aber wenn nötig, hätten sie einen mit Wodka! gegeben😡 August ’22

Wurde von Hebammen empfohlen und von Gynäkologin bestätigt, Februar ’22

2021, mit Sekt, noch als Hausmittel zur Einleitung auf dem Handzettel der Hebammen im Kreissaal

Hab keinen bekommen, aber Hebamme 09/22 hat ihn noch empfohlen

Ich hab meinen Wehen-Cocktail 31.07.2017 bekommen. Ein Piccolo Sekt war drin.

Juni 2021 im babyfreundlichen Krankenhaus nach Blasensprung ohne Wehen

April ’21, sollte 13 Tage nach Einleitung Sekt trinken, (Hebamme sagte das), ich habe mich geweigert

Die prozentuale Auswertung aller Antworten :

+ Ja, habe abgelehnt  – 7%

+ Ja, habe ihn auch getrunken   – 4%

+ Nein, wurde nicht empfohlen. – 83%

+ Bin noch vor der Geburt/nicht schwanger  – 6%

Die Auswertung brachte außerdem die Erkenntnis: 60 Frauen wurde Alkohol zur Geburtseinleitung angeboten, 37 haben ihn getrunken. 

Bärbel: “Das ist verstörend zu viel.”

Wozu soll der Alkohol im Wehencocktail eigentlich nötig sein?

Das hat uns unsere Happy Baby-Botschafterin Christine, die @hebammewaldshut anschaulich erklärt:

“Schaut man auf die Wirkungsweise des Wehencocktails, ist das darin enthaltene Rizinusöl der Hauptbestandteil. Es regt den Darm an und fördert die Peristaltik, also die Darmtätigkeit. Diese Darmtätigkeit wiederum wirkt wehenanregend, da sie die Muskulatur der Gebärmutter aktiviert.

Dafür ist der Alkohol nicht notwendig. Er dient allerdings als Emulgator. Was ist ein Emulgator? Es ist ein Hilfsstoff, zwei nicht miteinander vermischbare Flüssigkeiten – beim Wehencocktail das Rizinusöl und der Fruchtsaft – doch mischen zu können.

Jeder, der schon einmal zu Hause ein Salatdressing gemacht hat, wird sich jetzt denken: Aber Moment mal … Flüssigkeit mit Öl mischen .. . ohne Alkohol …. geht das nicht auch…? Genau: mit einem Mixer. 

Mixt man Öl mit Flüssigkeit, entsteht eine Öl-in-Wasser-Emulsion. Und das ganz ohne Alkohol als Hilfsmittel. Exakt das Gleiche funktioniert so auch bei dem Wehencocktail.”

Mehr dazu auch im Blogbeitrag: https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2020/09/16/alkohol-hat-im-wehencocktail-nichts-verloren/

Wie spannende Prosa, bei der man nicht aufhören kann zu lesen

Rezension des kürzlich erschienen Sachbuches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” von Anja Bielenberg, @fasd-schleswig-holstein.de, und Mutter von drei Pflegekindern mit der Diagnose Fetales Alkoholsyndrom:

Es ist das beste Buch über, von und mit FASD, da ich je gelesen habe. Es ist ein Buch, auf das ich und alle Eltern von Kindern mit FASD schon lange gewartet haben. Es berührt, es nimmt mit, es erschüttert und macht wütend, es klärt auf, gibt Hoffnung, weckt Lust die Stimme zu erheben und sich zu engagieren. Das Buch zeigt in allen Facetten auf, wie unterschätzt die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft ist. Und wie unser Gesellschaftssystem unsere Kinder sprengt, weil nicht geglaubt werden will, was Tatsache ist: FASD ist mitten unter uns.

Obwohl ich selbst mit meinen eigenen Kindern oft genug verzweifelt war und mich immer wieder den Behörden so hilflos ausgesetzt gefühlt habe – ich bin zutiefst erschüttert über die Situation in unserem Land. Das Ausmaß an Unwissen, Ungerechtigkeit, Willkür und Ignoranz raubt den Atem. Das Buch zeigt den riesigen Bedarf an Aufklärung und Sensibilisierung. Und den riesigen Bedarf an Hilfe und Unterstützung für die Menschen mit FASD, ihre Familien und ihr Umfeld.

Es ist zwar ein Sachbuch, aber nicht wie ein solches geschrieben. Es liest sich wie spannende Prosa,  bei der man nicht mehr aufhören kann zu lesen, auch wenn es unterfüttert ist mit reichlich Fach- und Sachwissen sowie Studienauswertungen. Man hat das Gefühl live dabei zu sein, wenn Dagmar einfühlsam, aber schonungslos die vielen dramatischen Geschichten erzählt, die Eltern von Kindern mit FASD oder erwachsene FASD-Betroffene erlebt haben. Welche Gedanken, Gefühle, Sorgen und Nöte sie umtreiben, wie sie kämpfen, scheitern, weitermachen, Erfolge erzielen, wie sie dennoch auch glücklich sind und warum.

Das zeigen auch die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die, ganz wichtig, ebenso zu Wort kommen. Man wird mitgenommen in ihre Welt, die so ganz anders ist als unsere. Selbst Menschen, die mit FASD bislang noch nicht in Berührung gekommen sind, werden durch dieses Buch FASD begreifen und die komplexe Thematik verstehen. 

Aber nicht nur die persönlichen Geschichten machen das Buch aus. Dagmar deckt alle relevanten Themenfelder von FASD ab. Ob es um Differenzialdiagnostik geht oder Suchtverhalten. Ob um die Bedeutung der Diagnose oder Therapiemöglichkeiten. Ob um FASD in der Schule, in der Arbeitswelt oder FASD im Erwachsenenalter. Oder auch die Problematik der angelegten Straffälligkeit. 

Und obwohl immer wieder gnadenlos der Finger auf die all die Wunden gelegt wird, die unsere Gesellschaft, unser Sozialsystem offenbart – der erhobene Zeigefinger findet sich nirgends. Dagmar schärft dem Leser den Blick und führt mit der Unterstützung ihrer fachlich hochqualifizierten Gesprächspartner Wege auf, wie den Missständen begegnet werden kann. Eltern wird es zum einen helfen, für sich Lösungswege zu entdecken.

Zum anderen wird das Buch ihnen emotional helfen. Weil sie sich nicht mehr allein fühlen werden. In dem Buch findet man sich wieder und erhält immer wieder die Bestätigung, dass man weder als Eltern unfähig ist und versagt, noch als FASD-Betroffene. Ganz im Gegenteil.

Kurzum: Wer dieses Buch liest, kann nicht umher, den Blick auf FASD verändert zu haben und sich dem Thema weiter zu öffnen. Ein wirklich großartiges Buch.

DDD – Danke dafür Dagmar!

“Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein, 2022

Jeder versteht ohne Mühe, was es mit diesem FAS auf sich hat

Rezension des neu erschienen Buches ‚Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” von Udo Beissel vom Aktionsbündnis FASD Adult, Hamburg, und Vater zweier Söhne mit fetalen Alkoholschäden:

Ja, ja, genau so ist es, durchflutet es mich beim Lesen immer wieder. Am liebsten würde ich dieses Buch einer Reihe von Leuten bis zur Erschöpfung um die Ohren hauen, um mich dann befriedigt verhaften zu lassen. Denn seit ich versuche, die Diagnose FAS bei meinen damals schon erwachsenen Kindern dem langjährigen Kinder- und Jugendpsychiater, den Therapeuten und Familienhelfern, den stationären Psychiatern und Bezugstherapeuten, dem Betreuungsgericht, dessen Gutachter und Sachverständigen, schließlich den berufenen gesetzlichen Betreuern, dann den sozialen Einrichtungen und ambulant psychiatrischen Diensten, als auch den Geschwistern der inzwischen verstorbenen Mutter zu erklären, ist mein Image im freien Fall.

Ein Gutachten, dass vom Gericht aufgrund einer Betreuungsverlängerung und Prüfung der Geschäftsfähigkeit meines ältesten Sohnes in Auftrag gegeben wurde und für das ich seitens der Gutachterin auch befragt wurde, hat es dann auf den Punkt gebracht: Ich bin ein schwer persönlichkeitsgestörter Mann, der seine Kinder mit sittenwidrigen Methoden manipuliert, um damit eigentlich nur seinen Eigennutz zu verschleiern, nämlich sich an ihrem Erbe zu bereichern, welches er seit dem Tod Mutter verwaltet. Es wird angenommen, dass ich mit diesem kranken Verhalten wohl auch zur Beeinträchtigung der Lebenstüchtigkeit meiner Kinder beigetragen habe, wenn nicht gar der Grund dafür bin. 

Gut, ich habe bei Fragen der Gutachterin kein Blatt mehr vor den Mund genommen, sogar mit Verweigerung gedroht, sollte ein weiterer Besserwisser auf meine Kinder losgelassen werden. Nach jetzt schon mehreren Jahren Inkompetenz und Ignoranz in Sachen FAS in den helfenden Systemen – und dazu gehört die Gutachterin ja letztlich auch – konnte ich einfach nicht mehr nett sein. Mit viel Sympathie, oder wenigstens Verständnis für meinen Standpunkt war also nicht zu rechnen. Aber dass sie den Irrsinn besaß, aus unverhohlener Kritik und verzweifeltem Eigensinn eines zugegeben überreizten Angehörigen den eigentlichen Täter zu basteln, das war schon krass unerwartet.

Aber geht´s hier nicht um ein Buch? Warum erzählt der das alles so manisch, mag man sich fragen. Ist wohl was dran, von wegen verhaltensauffällig. – Ja, ist es auch! Denn jahrelange vergebliche Mühen gehen nicht spurlos an einem vorbei. Aber hätte die Gutachterin dieses Buch von Dagmar Elsen gelesen, dann wäre es wohl zu dieser fast bösartigen Verleumdung im professionellen Kleid erst gar nicht gekommen.

Denn nicht nur die Gutachterin, sondern auch x-beliebige andere Leser und Leserinnen würden ohne Mühe verstehen, was es denn mit diesem FAS auf sich hat. Was Betroffenen wie Angehörigen passiert, wenn sie sich auf der Suche nach Information oder Unterstützung in die Arme helfender Systeme begeben. Sie erfahren auch, dass ein Glässchen doch schaden kann, dass FAS alles andere als ein Phänomen sog. sozial schwacher Gruppen ist und dass es nicht die Erziehungsfehler der Eltern sind, sondern eine handfeste hirnorganische Schädigung, die ihre Kinder durch alle Raster fallen lässt.

Sie werden nicht mehr einer verbreiteten Meinung folgen, dass FAS sich auswächst, sondern vielmehr behalten, dass Menschen mit FAS meist lebenslange Unterstützung benötigen. Sie staunen vielleicht, was sich alles ohne langes Studium zum Besseren wendet, wenn man bestimmte Eigenarten verstanden hat, aufhört sich selbst Vorwürfe zu machen oder wenigstens die unterschwelligen Enttäuschungen weglässt. Ich würde sogar sagen, dass dieses Buch es schafft, möglicherweise voreingenommene Leser und Leserinnen an ein Thema heranzuführen, gegen das es viele unbewusste Widerstände gibt. Denn Alkohol wird ja allgemein nicht wirklich als Droge gesehen, er wird eher vielfach unterschätzt, der eigene Konsum wird heruntergespielt. Die leckeren Tröpfchen sollen wirklich dermaßen umfassende Schäden bewirken? Wird hier nicht wieder eine neue Sau durch das Dorf der Spaßverderber getrieben?

All diese möglichen Reflexe lässt die Art der Präsentation und der Ton der Schilderungen in diesem Buch gar nicht erst aufkommen. Man kann es also jedem und jeder in die Hand drücken. Es wird keine Rückmeldungen geben, was man denn da jemand zugemutet hätte. Es eignet sich also bestens dazu, es weiter zu verschenken. 

Du bist volljährig – sieh’ zu, wie Du klar kommst

Jenny, wie sie zumeist genannt wird, mit 25 Jahren eigentlich noch ein Küken, ist „wahrhaftig aber schon eine alte Seele“, wie sie über sich selbst sagt. Im Gespräch mit ihr wird schnell klar, warum sie das meint. Ihre Biografie ist alles andere als mal eben mit ein paar Zeilen beschrieben. Jenny kommt aus sehr gutem hanseatischem Hause. Als ihre Eltern sich in einer Klinik kennenlernen, brennen sie sofort leidenschaftlich füreinander. 1996 erblickt Jenny das Licht der Welt und das Drama, in dem sie die Hauptrolle spielt, beginnt. 

Schon nach der Geburt macht Jenny ihren ersten Entzug durch. „Meine Mutter ist Alkoholikerin“, sagt Jenny, „und will angeblich von der Schwangerschaft nichts gewusst haben bis zum Ende des achten Monats, als der Arzt ihr verkündet, dass sie bald ein Kind bekommen werde. Heißt, ich bin neun Monate im Alkohol geschwommen“, kommentiert Jenny trocken, „für die Verhältnisse bin ich körperlich eigentlich noch gut weggekommen.“ Jennys Zehen sind nicht fertig ausgebildet, sie sind zusammengewachsen, die Zehennägel fehlen fast komplett. Außerdem hat sie drei Nieren, was Jenny „eigentlich ganz praktisch findet“. Und: „Im Gesicht sieht man es mir auch an.“ Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Jenny in Berlin und ist eine gefragte Synchroncutterin und Music-Artist.

Jenny, was weißt Du über Deinen Start ins Leben?

Jenny: Nach der Hochzeit meiner Eltern hat sich mein Vater recht schnell von meiner Mutter getrennt. Ist ja auch nicht leicht, mit einer Alkoholikerin zusammenzuleben. Ich lebte also alleine bei ihr. Sie hat mich logischerweise völlig vernachlässigt. Ich habe nur geschrien, weil ich einen Entzug durchgemacht habe. Nach etwa eineinhalb Jahren hat sich die Nachbarin zum Glück ans Jugendamt gewandt und gesagt, wenn sie jetzt nicht eingreifen, dann stirbt dieses Kind. Meine Mutter hat mich ja auch in Kneipen vergessen. Wie das halt so läuft.

Die vom Jugendamt haben mich dann auch da rausgeholt, von einem zum Nächsten weitergereicht. Ich war wohl ganz süß, aber ich habe nur geschrien. Das war nicht auszuhalten. So bin ich irgendwann in einer Pflegefamilie gelandet.

Was war das für eine Pflegefamilie?

Jenny: Sie war alleinerziehend und hatte einen leiblichen Sohn, vier Jahre älter als ich, und lebte in einer Hamburger Erbsengegend. Natürlich hat sie ihn bevorzugt. Klar, war ja auch ihr leibliches Kind. Aber ich war auch extrem verhaltensauffällig. Sie wusste überhaupt nicht, was mit mir los ist. Sie hat mich von einem Psychologen zum nächsten geschleppt. Bis ich zehn war, bin ich auch da geblieben. Sie sagte mir immer, dass ich widerlich bin und niemals lebensfähig sein werde. Sie wurde mir gegenüber immer wieder gewalttätig.

Mein „Bruder“ hat dann, als ich acht war, angefangen mit sexuellen Übergriffen, was ich damals noch nicht so richtig verstanden habe. Der hat mich immer mit Süßigkeiten bestochen, weil ich damals nicht so viel zu essen bekommen habe. Insgesamt habe ich es vermieden, allzu viel zu Hause zu sein. Ich habe meine Kindheit vor allem auf dem Spielplatz und in der Schule verbracht. Was ganz süß war, waren die Eltern von Freunden, die haben ihre Kinder auf den Spielplatz geschickt und gesagt, hol‘ mal Jenny zum Essen rein‘. Ich habe tatsächlich Unterstützung von Seiten bekommen, wo ich es nie erwartet hätte.

Wie lange ging dieses Martyrium?

Jenny: Als ich zehn war, meinte meine Pflegemutter, sie könne mich sozusagen nicht durch die ganze Pubertät prügeln. Und dann war ich endlich bei der Sitzung mit dem Jugendamt dabei, was ich eingefordert hatte, denn es ging ja schließlich um mich. Bisher hatte mich niemand gefragt, was ich denn eigentlich will. Ich wollte normal sein, irgendwie, auch wenn ich wusste, dass ich nicht normal bin, aber ich wollte in eine normale Pflegefamilie. Das ging aber nicht. Also kam ich ins Kinderheim. Das war dort echt gut. Da waren super Pädagogen. Fünf Jahre lebte ich dort. Die haben mich echt auf Kurs gebracht. Obwohl ich eine schwere Pubertät mit mehreren Selbstmordversuchen hatte.

Trotz der Alkoholkrankheit Deiner Mutter ist niemand auf die Idee gekommen, was mit Dir ist?

Jenny: Aufgrund persönlicher Kontakte bin ich, da war ich 14 Jahre, mit meiner Omi zu Hans-Ludwig Spohr (seinerzeit Professor an der Charité und einer der führenden FAS-Experten mit internationalem Renommee) nach Berlin. Er stellte die Diagnose.

Wie hast Du auf die Diagnose reagiert?

Jenny: Als ich die Diagnose hatte, klar, hatte ich erst einmal Panik. Es wurde von Behinderung gesprochen. Und das wurde von mir gleichgesetzt, weil die Gesellschaft das so suggeriert, gleichgesetzt mit nicht gesellschaftsfähig und nicht lebensfähig und nicht eigenständig. Ich hatte aber auch sofort Angst, mich damit zu entschuldigen. Das wollte ich nicht. Ich habe sofort angefangen, mich selber über das Fetale Alkoholsyndrom schlauzumachen. Sobald dann diese Akzeptanz kam, dieses innere Okay, das ist jetzt nun mal so, hieß es für mich: lernen damit umzugehen.

Wie lange hast Du dafür gebraucht?

Jenny: Das war schon ein Prozess und auch eine spannende Entwicklung meiner Persönlichkeit. Ich habe gar nicht mit so vielen Menschen darüber gesprochen, weil ich das gerne mit mir ausmachen wollte. Ich hatte aber immer wieder die Angst, dass ich mich damit entschuldige, und sage, ja, na und, ich bin nun mal behindert. Das wollte ich nicht. Nie. Ich wollte das Beste daraus machen. Ich habe mir den Prozess gegeben. Ich musste mich jetzt noch einmal neu kennenlernen. Ich habe wirklich noch einmal ganz von vorne angefangen. Das war wirklich ein ganz faszinierender Prozess. Auch jetzt im Rückblick.

Was, denkst Du, unterscheidet Dich von anderen, positiv wie negativ?

Jenny: Was mich klar unterscheidet, ist meine geistige Reife. Ich bin dadurch, dass ich im Grunde keine Eltern hatte, und dadurch mein Weltbild so anders ist, weil ich nichts vorgegeben bekommen habe, dadurch bin ich so unglaublich frei, vorurteilsfrei. Und empathisch bin ich. Das ermöglicht es mir, einen ganz anderen Zugang zu Menschen zu haben. Ich merke es jeden Tag. Ich habe den Vorteil, alle frei und nicht wertend anzunehmen. Man kann nichts be- oder verurteilen, was man nicht probiert hat. Andere haben schon eine Meinung, ohne es je probiert zu haben, und das hängt meiner Meinung nach mit der Beeinflussung durch die Eltern zusammen. Ich bin sehr offen und zugänglich. Nur wenn mir Mitleid entgegengebracht wird, macht mich das eher wütend.

Bist Du leicht zu verleiten?

Jenny: Früher ganz doll. Gruppenzwang war ganz doll. Inzwischen nicht mehr so. Kommt darauf an. Ich habe gelernt, Nein zu sagen. Das kam aber auch über das Thema Selbstliebe, Selbstakzeptanz und Respekt. Ich bin stolz, dass ich mir das im Leben habe erarbeiten können.

Hast Du einen Schulabschluss?

Jenny: Schule war echt schwer. Ich hatte die klare Empfehlung Gymnasium. Aber ich wollte nicht. Ich wollte lieber auf die Gesamtschule, da ich der Überzeugung war, dass dort weniger Leistungsdruck herrschen würde. Aber es kam anders. Ich bin ja dann in Blankenese mit den ganzen Bonzen in die Schule gegangen und dann habe ich auch mehr von meiner eigenen Familie mitgekriegt. Zunächst war ich ja eigentlich in Armut aufgewachsen. In Blankenese habe ich dann erfahren, was Geld ist. Aber auch: dass Geld nicht glücklich macht. Und dass du mit Geld nichts kaufen kannst, was eigentlich wichtig im Leben ist. Das war unglaublich befreiend.

Auch wenn das schwierig war für mich mit den ganzen Bonzen. Aber schließlich hat sich dort eine tolle Clique formiert. Sie sind alle bei mir im Kinderheim ein- und ausgegangen, wir haben alle Geburtstage miteinander gefeiert und uns in den Sommerferien auf Sylt getroffen. Mit einigen von ihnen bin ich heute noch freund- schaftlich verbunden.

Was war eigentlich mit Deiner Verwandtschaft?

Jenny: Meine Verwandtschaft glaubte nicht, dass aus mir mal was wird. Ich komme aus einer sehr alten Familie, da herrscht sehr sehr viel Druck. Im Internat war ich Klassenbeste und wenn ich mit einer Eins minus nach Hause kam, hieß es nur, das hätte aber auch noch besser sein können.

Mit 15 Jahren bin ich ins Internat in die Lüneburger Heide, weil ich dachte, es tut mir gut, so eine Art Bootcamp, dachte, ich brauche ein soziales Gefüge. Hab‘ ich gedacht, aber: Ich bin durch die Hölle gegangen. Heute bin ich mit einigen Leuten von damals gut befreundet. Aber seinerzeit war das für mich wirklich wie ein Bootcamp. Ich hab dann drauf geschissen und habe gedacht, ich werde jetzt mal von der Klassenbesten zu versetzungsgefährdet.

Sie haben mich aber trotzdem versetzt, weil Privatschule und weil alle Lehrer wussten, dass ich es eigentlich alles drauf habe, aber ich das nur wegen meiner Familie mache, weil die mir so einen Druck machen. Nie war denen was gut genug. Ich habe da viel Scheiße gebaut. Mit 18 Jahren bin ich von der Schule geflogen.

Ab da, so geht der Klassiker, hat man Dir gesagt: Du bist volljährig, sieh‘ zu, wie Du klar kommst?

Jenny: Exakt. Dann saß ich da beim Jugendamt. Die sagten, du musst jetzt selber klar kommen. Du musst jetzt selber eine Schule finden, selber sehen, wo du unterkommst und selber sehen, wie du das alles bezahlst, beantrage doch erst mal Hartz IV. Mein Onkel, der bis dato für mich Vormund gewesen war, der sagte zu mir: So Jenny, du bist jetzt 18, dann guck‘, wie du klar kommst. Ich helfe dir gerne bei bürokratischen Dingen, aber ansonsten viel Spaß in deinem Leben. Ich sag‘ dir, ich war echt am Kämpfen. Denn, und das ist ja typisch für FAS, man tut sich schwer, um Hilfe zu bitten, man kapselt sich ab, man igelt sich ein und ist irgendwann nicht mehr erreichbar.

Schwer verständlich für Menschen, die sich mit den Auswirkungen von fetalen Alkoholschäden nicht auskennen. Heute habe ich übrigens wieder ein super Verhältnis zu meinem Onkel. Heute weiß ich auch, dass er immer sein Bestes für mich gegeben hat, und das war nicht immer einfach.

Ich habe mir dann ein Gymnasium gesucht. Gott sei Dank gab es noch meine Omi. Mein Arbeitslosenantrag wurde nämlich erst einmal zweimal hintereinander abgelehnt mit der Begründung, dass meine Familie ja so vermögend sei. Omi hat mir dann meine Unterkunft auf einem Reiterhof bei Uelzen bezahlt. Ich musste morgens um halb fünf Uhr aufstehen, um mit dem Bus in die Schule zu kommen, nachmittags wieder zurück, musste mich bis abends um 21 Uhr um die Pferde kümmern, dann essen, dann ins Bett.

Klar, als FASler bin ich dann irgendwann ausgebrochen. Ich bin zwar morgens noch mit dem Bus los, aber nicht in die Schule, sondern in irgendeine Raucherkneipe und habe da den ganzen Tag Weißwein getrunken, Zigaretten geraucht und täglich so 18 Seiten Tagebuch geschrieben. Es ging mir so schlecht. Das war die härteste Phase meines Lebens.

Wie hast Du die Kurve gekriegt?

Jenny: Ich bin dann zu meiner Omi zurück nach Hamburg gezogen. Außerdem habe ich einen Mann kennengelernt, der mich da rausgeholt hat. Wir waren fast fünf Jahre zusammen. Durch ihn bin ich zum Synchroncutten gekommen. Ich kann meine beiden Hirnhälften gleichzeitig benutzen. Das ist echt krass. Das ist eindeutig mein Ass im Ärmel. Ich staune echt selbst über mich, da ich doch FAS habe. Ich unterschätze mich immer.

Ich war so gut darin, dass mich mein Ausbilder schon während der Ausbildung an Firmen verkauft hat. Ich war dann so überarbeitet, dass ich den schulischen Bereich nicht mehr geschafft habe. Das war echt illegal, was der mit mir gemacht hat. Ein Jahr habe ich das durchgehalten, dann habe ich gesagt, ich kann nicht mehr. Mein FAS schlug durch. Ich wurde unzuverlässig, ich hab dauernd verpennt und kam zu spät zur Arbeit, ich kommunizierte nicht mehr, war nicht erreichbar. Typisch FAS eben – einfach weg.

Ich habe mich dann selbstständig gemacht und machte Projekte. Ich kriegte das alles ganz gut hin. Dann kam Corona und die ganze Branche klappte zusammen. Ich habe dann echt Schulden gemacht. Ich musste meine Wohnung in Berlin auf- geben und bin zu meiner Omi zurück nach Hamburg. Ab Mai 2021 kamen wieder die Jobs rein. Jetzt bin ich wieder in Berlin. Meine Jobs habe ich bis Mai 2022 durchorganisiert. Ich möchte meine Schulden zurückzahlen. Zurzeit komme ich bei Freunden unter, aber ich habe bald wieder eine eigene Wohnung. Ich habe tolle Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Da bin ich so froh drüber.

Was hast Du mit Blick auf Deine fetalen Alkoholschäden gelernt?

Jenny: Wichtig ist, dass man von seinen Problemen nicht überflutet wird. Mit FAS kann man nicht vorausplanen. Man hangelt sich von Monat zu Monat. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, was den psychischen Zustand angeht. Man kann immer nur versuchen, anzugleichen, und versuchen immer wieder Luft raus- zunehmen. Überforderung ist echt Gift.

Es hilft, wenn man lernt, weitsichtiger zu sein, alles etwas besser im Überblick zu haben. Man darf es nicht riskieren, überfordert zu werden. Viele wissen aber nicht, wie sie sich davor schützen können. Außerdem sehen sie immer die anderen, wie die alles auf die Reihe kriegen. Sie selbst aber nicht. Mir ging es auch viele Jahre so. Ich habe mir aber inzwischen ein Mindset aufgebaut und einen Workflow geschaffen. Dennoch: Es bleibt ein Kampf für alle.

Wie ist heute Dein Verhältnis zu deinen Eltern?

Jenny: Meine leibliche Mutter kenne ich bis heute nicht wirklich. Ich war mal lange Jahre verbittert wütend auf sie, jetzt aber nicht mehr. Ich habe ihr verziehen. Sie kann nichts dafür, denn sie ist schwach. Sie würde sich wünschen, es besser zu machen. Es ist schwer zu akzeptieren, dass man niemals eine Mutter haben wird. Sie tut mir inzwischen nur noch leid. Aber ich halte Abstand zu ihr. Es ist leichter, keinen Kontakt zu haben. Ich hatte immer wieder versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie ist immer betrunken.

Meinen leiblichen Vater kenne ich und habe sporadischen Kontakt, was mir sehr schwerfällt. Ich mache das nur für ihn. Er leidet unter Schizophrenie und hat eine Psychose. Das ist nicht leicht für ihn im Leben. Aber er hat es wenigstens versucht mit mir, auch wenn er es irgendwie nicht hinbekommen hat. Für mich wäre es leichter, einfach gar keinen Kontakt zu haben.

Ich mache das für ihn und meine Familie. Ich habe schon Gefühle für ihn. Ich bewundere ihn – für seine Intelligenz und seine vielen Talente. Er ist einer der gefühlvollsten Klavierspieler, die ich kenne und ich kenne viele Musiker. Ich bewundere sein unglaubliches Gedächtnis und es bricht mir das Herz zu wissen, dass er so unglaublich begnadete Talente hat und so intelligent ist, und trotzdem niemals Anschluss in der Gesellschaft finden wird aufgrund seiner Erkrankungen. Aber er hat super Gene. Und wenn er die nicht an mich weitergegeben hätte, wären die Auswirkungen des FAS bei mir noch so viel krasser.

Was bedeutet Deine Omi für Dich?

Jenny: Meine Omi hat mir Mama und Papa ersetzt. Sie ist jetzt 84 Jahre und ich habe so unglaubliche Angst davor, wenn meine Omi eines Tages von mir geht. Sie wünscht sich so sehr, dass sie in Ruhe gehen kann, dass ich mein Leben in geordneten Bahnen habe und dass jemand da ist, der mich unterstützt. Das Problem ist nämlich, dass es außer mir keinen Nachkömmling in meiner Familie gibt. Sie sind alle mindestens 30 Jahre älter. Meine Familie stirbt mir langsam weg. Und dann gibt es irgendwann nur noch mich.

Quelle: “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein