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Hebamme spricht Klartext: “Nicht mal medizinisches Personal ist aufgeklärt”

Hebammen sind neben den Gynäkologen mit die wichtigsten Berater und Begleiter in der Schwangerschaft und der ersten Zeit nach der Geburt. Sie sind unter anderem gefragt, Frauen und ihre Partner darauf hinzuweisen, wie gefährlich der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und Stillzeit ist. Tun sie das denn auch? Immerhin trinken 58% der deutschen Frauen Alkohol in der Schwangerschaft, 54% selbst dann noch, wenn sie wissen schwanger zu sein.Und 44% der Deutschen wissen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom nichts anzufangen.** Unsere Botschafterin, die Hebamme Christine Kruschinski aus Waldshut, hat sich unseren Fragen gestellt und spricht knallhart Klartext:

 

Wenn Du in der Schwangeren-Beratung über die Gefahren von Alkohol aufklärst – wie sind die üblichen Reaktionen?

Christine: Leider dominiert ein großes Maß an Ungläubigkeit: Von “Meine Mutter/Oma hat auch in der Schwangerschaft mal ein Gläschen Wein getrunken oder an Silvester das Glas Sekt und es hat mir/uns nicht geschadet”, bis hin zu “Aber im Wehencocktail ist doch auch Alkohol?”

Das Bewusstsein darüber, dass die Gefahren von Alkohol über den Kater am nächsten Morgen hinausgehen, ist leider kaum vorhanden. Es scheint sogar manchmal so zu sein, dass mein Anliegen in der Aufklärung über die Gefahren als “übertrieben” wahrgenommen werden.

Ist den Schwangeren bewusst, dass Alkohol ein Zellgift ist, das die Zellteilung des Ungeborenen verhindert?

Christine: Überhaupt nicht. Ich denke sogar, dass der durch Nikotin verursachte Schaden eher wahrgenommen wird, als die Gefahr durch Alkohol für das Ungeborene. Dies mag allerdings zum großen Teil auch daran liegen, dass Alkohol im Alltag nahezu keine Stigmatisierung erfährt, sondern als alltägliches Lebensmittel betrachtet wird. Manchmal wird er im Übermaß genossen, aber selbst dieser Zustand des Katers ist ja nur “ab und zu” und vergeht. Welche Schäden das Zellgift hinterlässt, ist den Schwangeren überhaupt nicht bewusst.

Sind die Reaktionen der Schwangeren nach Alter unterschiedlich?

Christine: Interessanterweise habe ich persönlich sogar die Erfahrung gemacht, dass sehr junge Schwangere eher bereit sind, sich mit der Thematik wenigstens ansatzweise auseinander zu setzen. Mit zunehmenden Alter und einem gefestigteren Platz im Leben, scheint es umso schwerer zu sein, die Problematik anzuerkennen.

Welches sind die meist gestellten Fragen der Schwangeren?

Christine: Die häufigste Frage lautet: “Aber man weiß ja nicht sofort, dass man schwanger ist. Was ist, wenn ich in den ersten Wochen beim Feiern getrunken habe? Macht das dann was?”

Die nächste ist: “An Silvester ein Glas Sekt schadet aber nicht, oder?”

Und: “Mein Frauenarzt und meine Oma/Tante etc. haben gesagt, dass ab und zu Alkohol nicht schlimm ist für das Baby. Früher wurde da ja auch nicht drauf geachtet und uns hat es nicht geschadet. Ab und zu ein Glas Wein geht doch, oder?”

Und ganz selten wird dann doch mal gefragt, ob Alkohol in Lebensmitteln wie Schokolade etc. ein Problem ist. Aber dies passiert meistens nicht beim ersten Gespräch darüber, sondern ab und zu nach einer gewissen Zeit des “Sackenlassens”.

Welches sind die größten Fehlinformationen, die die Schwangeren haben?

Christine: “Ab und zu ein Glas schadet nicht.” Es gibt auch immer noch oft genug die Information, dass beim Kind im Mutterleib kaum noch etwas von der Wirkung und dem Wirkstoff des Alkohols ankommt, weil der mütterliche Organismus auf dem Weg zum Kind schon so viel abbaut.

Und: “Rotwein hilft die Geburt einzuleiten und regt Wehen an. Am besten in der Badewanne.” – Ich weiß wirklich nicht, warum sich diese vollkommen überholten Vorstellungen immer noch sogar beim medizinischen Personal halten.

Sind das Fetale Alkoholsyndrom und seine Auswirkungen bekannt?

Christine: Nein! Oftmals wurde der Begriff des Fetalen Alkoholsyndroms noch nie gehört. Und leider muss man sagen, dass ausgerechnet an den Stellen, wo Schwangere oder Frauen mit Kinderwunsch, oder generell Menschen, diese Informationen eigentlich ständig vor Augen haben sollten – sprich beim Arzt, der Hebamme, im Krankenhaus, eigentlich schon angefangen in der Schule – nichts davon zu sehen und zu hören ist.

Selbst Hebammen klären leider viel zu selten darüber auf. Und auch in der ärztlichen Schwangerschaftsvorsorge und Sprechstunde wird dem Thema Fetales Alkoholsyndrom kaum bis gar kein Raum gegeben.

Wie verhält es sich bei den Männern hinsichtlich ihrer Fragen, ihrer Kenntnisse, ihres Interesses?

Christine: Die Kenntnisse der Männer sind zumeist noch weitaus geringer als die der Frauen. Allerdings tendieren doch einige werdende Väter dazu, aus einem “Beschützerinstinkt” heraus dem ungeborenen Kind gegenüber, die werdenden Mütter ernst anzuschauen und zu sagen: “Hörst Du, lass es lieber für den Rest der Schwangerschaft.”

Gleichzeitig würden Sie sich mit Ihren Kumpels aber gegenseitig auf die Schulter klopfen, wer mehr verträgt. Da wird dann separiert: Meine Leber. Die Leber meines Kindes – wenn ich das mal so platt ausgedrücken darf.

Studien kommen zu dem Ergebnis, dass statistisch gesehen akademisch gebildete Frauen mehr Alkohol in der Schwangerschaft zu sich nehmen, als Frauen aus sozialen Brennpunkten. Hast Du das auch beobachtet?

Christine: Ich habe dazu eine eigene Idee, die sich allerdings mit den Studien deckt. Es ist tatsächlich so, bei dem was ich beobachten konnte, dass Frauen aus sozialen Brennpunkten zwar eher weiter während der Schwangerschaft rauchen, aber durchaus die Problematik des Trinkens kennen und deswegen in der Schwangerschaft aufhören.

Akademisch gebildete Frauen tendieren eher dazu, bei dem geselligen Trinken des guten Tons wegens zu bleiben. Auch der “gediegene Wein am Abend” gehört irgendwie dazu. Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist. Denn im Grunde würde man dies ja genau anders herum erwarten. In akademischen oder gut situierten Kreisen ist der Alkoholismus anders vertreten als in sozialen Brennpunkten.

In sozialen Brennpunkten steht das Bier morgens auf dem Tisch und jeder weiß und sieht unmissverständlich: Der ist ein sogenannter Alki. Die Auswirkungen des Alkoholismus sind für alle offenkundig und deutlich sichtbar. Das bedeutet, dass Schwangere und überhaupt Frauen in sozialen Brennpunkten viel eher den durch Alkohol verursachten Schaden sehen. Mehr oder weniger bewusst heißt das für sie: “Das will ich nicht, ich bin ja schwanger.”

In akademisch geprägten Kreisen findet der Alkoholkonsum viel verdeckter statt, werden die Auswirkungen geschickt kaschiert, so dass der Schaden nicht so deutlich zu Tage tritt. Das macht es für das Umfeld schwerer, die Problematik dahinter zu erkennen. Wobei ich betonen möchte, dass das nur meine Idee eines Erklärungsversuches ist.

Kennst Du den Ratschlag: Trink nach der Geburt Bier, dann hast Du einen besseren Milcheinschuss?

Christine: Ich kenne den Ratschlag mit Malzbier; auch, um generell die Milchmenge zu steigern, sollte sie mal nachlassen. Leider ist Malzbier in den Köpfen immer noch ein “Kinderbier” und wird als alkoholfrei betrachtet. Wobei auch da zumeist zwei Volumenprozent Alkohol enthalten sind und ich es deshalb nicht empfehlen kann.

Ab welchem Zeitpunkt kann ich als frisch gebackene Mutter wieder Alkohol trinken?

Christine: Wenn eine frischgebackene Mama Alkohol trinken möchte, empfiehlt es sich, dies erst dann zu planen und umzusetzen, wenn der Milcheinschuss erfolgt ist und sich die Milchproduktion so gut eingespielt hat, dass sich die Trinkmahlzeiten planen lassen. Die ist in der Regel nach einem guten Monat nach der Geburt der Fall.

Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Sie nutzt bereits im Vorfeld auf Vorrat abgepumpte Milch aus dem Kühlschrank. Oder sie stillt, trinkt dann den Alkohol und lässt dann eine Pause von mehreren Stunden, bevor sie wieder stillt, um so sicher gehen zu können, dass der Alkohol wieder aus dem Körper verstoffwechselt wurde und nicht in die Muttermilch gelangt. Dass dabei die getrunkenen Alkoholmengen gering bleiben, ist selbstverständlich vorausgesetzt.

*Quelle: Charité Berlin

**Quelle: Sucht- und Drogenbericht 2018

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Als wäre der Teufel ausgestiegen”

Hannah* liebt Kinder. Nicht umsonst ist die 35jährige Kinderkrankenschwester geworden und hat gemeinsam mit ihrem 40 Jahre alten Mann Paul* drei Kinder, für die sie Vollzeitmama ist. Alle drei sind Pflegekinder, neun, sieben und drei Jahre alt. Die Familie lebt in einer sauerländischen Idylle am Waldrand mit Blick auf den Dorfweiher. Das Leben ist entspannt, die Kinder friedlich miteinander und heiter, auch wenn natürlich alle drei ihr Päckchen zu tragen haben, da alle drei aus Verhältnissen stammen, die für sie lebensbedrohlich gewesen sind.

Allerdings – mit der Mittleren, es ist Lena* – da sagte Hannah’s Bauchgefühl von Anfang an: “Irgendetwas stimmt mit ihr nicht.” Doch was genau, das lässt sich nicht ausmachen. Eines Tages dann stellt Hannah fest, Lena hat kein Schmerzempfinden, mag der Backofen noch so heiß sein. Auch wenn Lena hinfällt – kein Brüllen, nichts. Lena wischt sich über die Knie und weiter geht’s. Das kann nicht normal sein, meint Hannah.

Eine mit Hannah bekannte Ergotherapeutin sagt schließlich zu ihr, das Kind habe definitv Wahrnehmungsstörungen und gehöre zur Untersuchung in ein Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ). Zumal Lena obendrein sehr zappelig und tolpatschig ist.

Der Kinderarzt sperrt sich, will so gar kein Federlesens aus der kindlichen Unruhe und der angeblichen Wahrnehmungsstörung machen. Ist doch nur ADHS. Zur Beruhigung der Mutter stellt dieser dann aber doch einen Überweisungsschein aus. Im SPZ ähnliches Spiel. Selbst als das Kind bei der Untersuchung vom Stuhl fällt und sich mit Gedonner den Kopf an der Heizung stößt ohne dafür ein Träne zu vergießen, heißt es gegenüber Hannah nur lapidar: “Die ist doch noch so klein, wir gucken erst mal.”

Genau! Wir gucken erst mal!

Wäre da nicht das dritte Pflegekind in die Familie gekommen, lebten Hannah und ihr Mann wahrscheinlich noch heute mit Selbstzweifeln. Doch dieser Junge soll auf Weisung des Jugendamtes auf fetale Alkoholschäden untersucht werden, da bekannt ist, dass die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken und andere Drogen konsumiert hat. Oliver* zeigt zwar nicht im geringsten Auffälligkeiten, doch man möchte sicher gehen. Wie bei FAS bekannt, kann, muss aber nichts passiert sein aufgrund des Alkoholgenusses der Mutter – und der kleine Oliver hat offenbar Riesenglück. “Wir gehen regelmäßig mit ihm zu Untersuchungen in die FAS-Fachklinik Walstedde, aber bis heute haben sie nichts feststellen können”, freuen sich Hannah und Ehemann Paul.

Das Leben geht weiter. Noch ist alles soweit friedlich. Lena ist ein sehr fröhliches Kind und entwickelt sich im übrigen normal. Nach den Sommerferien 2019 steht die Einschulung an. Der erste Schultag ist vorüber, Hannah steht an der Bushaltestelle und wartet auf ihre Tochter. Noch heute läuft ihr ein Schauer über den Rücken. “Die Bustür ging auf und der Teufel stieg aus – im wahrsten Sinne des Wortes”, erinnert sie sich, “dieser Gesichtsausdruck – seitdem ist dieses Kind nicht mehr fröhlich, so wie man sie kannte, diese Fröhlichkeit, diese Leichtigkeit, die sie immer hatte, die ist wie weggeflogen. Es gibt nicht mehr viele Tage, an denen sie gut drauf ist und die man mit ihr genießen könnte. Lena ist von jetzt auf gleich aggressiv. Das nicht nur verbal, sondern auch gewalttätig, indem sie beißt, kratzt, schlägt. Dazu brüllt sie.”

Die Eltern sind entsetzt. Was haben sie verkehrt gemacht? Sie haben Lena doch gar nicht anders behandelt und erzogen als die anderen beiden Kinder? Zwischen all den Zweifeln beginnt das Bauchgefühl wieder zu dominieren: Mit dem Kind ist irgendetwas!

“Im vergangenen Jahr hat man in den Medien viel über Alkoholkonsum in der Schwangerschaft lesen können, auch das Fernsehen berichtete – da fiel es uns wie Schuppen von den Augen”, erzählt Hannah. Das Jugendamt habe sofort zugestimmt, Lena in der FAS-Fachklinik Walstedde untersuchen zu lassen. “Schon beim Ausfüllen der Fragebögen dort haben wir gedacht – wenn das mal Lena nicht hat”, so die Pflegemutter. Allein die Fragen nach Selbstmordgedanken – “sie hat schon mit vier Jahren gesagt, sie wünschte, sie sei tot, sie springe jetzt in den See, denn sie wisse, dass sie nicht schwimmen könne und dann ertrinken würde.” Und Hannah weiter: “Das macht einem schon Angst, woher sie das hat.”

Im März 2020 schließlich die Diagnose: alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störungen (ARND).

“Wir sind erleichtert. Endlich wissen wir, warum sie so ist und dass sie nichts dafür kann,” konstatieren die Eltern. Hannah und Paul empfinden die Diagnose nicht als schlimm, weitreichend ja, da irreversibel und deshalb das gesamte weitere Leben bestimmend. Aber so sei das eben, wenn man mit Behinderungen geboren werde. Dann müsse man eben das Leben umstellen, neue Strukturen schaffen. “Wir müssen jetzt zum Beispiel abwägen, was wir ihr zumuten können”, sagt Hannah. Heißt: Keine großen Veranstaltungen, Geburtstage, andere Feierlichkeiten. Klar, sie könne sich dort zusammenreißen. “Aber wenn wir nach Hause kommen, da platzt dann die Bombe”, beschreibt die 35jährige die Lage. Besser sei es, ein Elternteil bleibe mit ihr zu Hause. Hannah: “Lena ist gerne zu Hause. Die Kinder spüren ja selber, wenn sie überfordert sind. Zu Hause, das ist der Schutzraum.” Und nicht nur das. Kinder mit fetalen Alkoholschäden spüren zumeist selbst, dass mit ihnen etwas anders ist, dass etwas nicht stimmt. “Seit einigen Wochen sucht Lena nach Antworten”, weiß ihre Pflegemutter, “wir hatten auch schon zweimal die Situation, nachdem sie total ausgetickt war, dass sie danach weinend in unseren Armen lag und sagte – ich weiß nicht, warum ich Euch weh tue, warum ich Euch anschreie, warum ich Euch so beschimpfe. Könnt’ Ihr mir sagen, warum ich so bin?”

Glücklicherweise erfreuen sich Hannah und Paul toller Mitarbeiter des Jugendamtes: “Das Jugendamt kennt FAS. Die vertrauen uns voll und ganz. Die sagen – Ihr seid mit dem Kind 24 Stunden und sieben Tage die Woche zusammen und deshalb wisst Ihr am besten, was gut für das Kind ist. Sie haben immer ein offenes Ohr für uns.” Es bedurfte deshalb auch keiner weiteren Diskussion, dass die Eltern entschieden, dass Lena künftig auf eine sozial-emotionale Förderschule gehen soll. Außerdem kündigte das Jugendamt an, dass Lena einen Einzelfallhelfer für die Schule und Hannah Unterstützung für zu Hause bekommen soll. Das Hilfspaket runden ab Psychotherapie zur Aufarbeitung von Lena’s Biografie, Ergotherapie sowie therapeutisches Reiten. Medikamentös soll Lena im kommenden Jahr eingestellt werden.

 

Wie schafft Ihr Euch als Eltern Freiräume?

Wir haben eine supertolle Oma, die oft jeweils die Kinder nimmt, vor allem auch, wenn Lena schlechte Tage hat. So können wir ein wenig durchatmen und die anderen beiden kommen nicht zu kurz, die sonst bei Lena’s Anfällen immer zurückstecken müssen. Außerdem sind wir fest ins Dorfleben eingebunden und haben einen guten Freundeskreis. Wir gönnen uns regelmäßig einen kinderfeien Abend und gehen mit Freunden essen oder zu zweit.

Habt Ihr gegen Ressentiments zu kämpfen?

Viele Menschen wissen nicht, was mit Lena los ist. Sie können es sich nicht vorstellen, dass Lena derartige Ausraster haben kann. Sie sei forsch und neugierig, aber zickig sei doch jeder mal – das sind die häufigsten Kommentare.

Was fehlt Euch ganz besonders während des Lebens mit einem FAS-Kind?

Mehr Aufmerksamkeit, mehr Präsenz für das Thema. Viele Menschen fragen, was FAS ist, davon hätten sie noch nie gehört. Wir brauchen mehr Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit mit Flyern, Plakaten, Werbesendungen. Warum steht auf jeder Zigarettenschachtel, dass Rauchen tödlich ist, warum wird nicht ebenso auf alkoholischen Getränken vor Alkoholkonsum in der Schwangerschaft gewarnt? Es braucht vor allem auch Selbsthilfegruppen für Angehörige und Betroffene.

*Namen auf Wunsch anonymisiert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Der ist zu deppert aus dem Weg zu gehen”

Ausnahmezustand. Schon wieder Ausnahmezustand. Der andere ist noch gar nicht so lange her. Gefühlt gestern. Realiter vor ca. drei Jahren, als Anine* und ihr Mann Hannes* aus Nordrhein-Westfalen feststellten, dass mit ihrem Pflegesohn Liu* etwas Grundlegendes nicht stimmt und der Kampfes-Marathon um die richtige Diagnose, Unterstützung, Hilfsmittel und den richtigen Pflegegrad begann. Fetales Alkoholsyndrom eben – bundesweit nicht anerkannt, also Einzelfallentscheidung, also Hartnäckigkeit und Ausdauer gefragt. Die zahlte sich aus, die Pflegeeltern bekamen endlich angemessene Hilfe und Unterstützung. Und tatsächlich lief es dann mit ihren drei leiblichen und dem kleinen Liu richtig gut, so gut, dass Anine und Hannes sogar noch Liu’s kleine Schwester Tia* aufnahmen. Auch sie ist vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen.

Und nun wieder Ausnahmezustand. Ausnahmezustand, weil Liu nicht mehr in die Kita geht. Ein Paradebeispiel für gescheiterte Inklusion. Die Gründe in Kurzfassung: FAS? – eine Modediagnose! 1:1-Betreuung? – vielleicht sollte mal die Erziehungskompetenz zu Hause hinterfragt werden! “WIR hier kommen gut mit ihm zurecht”, hat Anine die Aussage der Erzieherin noch zu gut im Ohr. Vor Weihnachten sei dann die Grenze dessen, was ein Mensch wegzulächeln vermag, definitiv überschritten worden. Die Pflegeeltern zogen die Reißleine und nahmen ihren Jungen von einem auf den anderen Tag aus der Kita. Seitdem betreuen sie Liu zum größten Teil alleine. Anine: “Wir gehen gerade nicht nur ein bisschen auf dem Zahnfleisch, wir gehen gerade weit über unsere Grenzen.”

Dabei war eineinhalb Jahre alles recht gut gelaufen mit Liu in der nordrhein-westfälischen Kita. Schon sein älterer Bruder (allerdings nicht behindert) war dorthin gegangen und hatte sich sehr wohl gefühlt. Aber mit einer Strukturänderung, einem Leitungswechsel, einem anderen Personalschlüssel, der mehr Kinder und weniger Erzieher bedeutete, änderte sich plötzlich alles. Jeden Tag holten die Pflegeeltern ein Kind ab, das innerlich kochte wie eine Bombe und zu Hause dann so richtig explodierte. “Die Wutanfälle gerieten völlig aus dem Ruder”, berichtet Sonderpädagogin Aline, ebenso seine tourette-ähnlichen Anfälle. Kein Wunder also, dass Liu nicht mehr zu Kindergeburtstagen eingeladen wurde.

Hannes und Aline fragten immer wieder in der Kita nach, woran das denn liegen könnte. Aber stets hieß es, alles sei fein. Das ließen die Pflegeeltern nicht auf sich beruhen. Sie bekamen die Ärztin des Gesundheitsamtes mit ins Boot. Diese verschrieb für Liu sechs Stunden Kita-Assistenz. Mehr wollte die Kita nicht zulassen.

Und siehe da, die Assistenz beobachtete, dass in der Kita doch nicht alles reibungslos verlief. Sie beobachtete ein überangepasstes Kind, das ständig Angst hatte Fehler zu machen, weil es die vielen Abläufe und Regeln in der Kita nicht verstand und nicht umsetzen konnte. Ein Kind, das nicht realisierte, dass es zur Seite gehen muss, wenn jemand mit dem Essenswagen auf ihn zukommt und Kommentare erntete wie “der ist zu deppert aus dem Weg zu gehen.” Wurde Liu für Fehlverhalten bestraft, war die Aufregung groß, dass er das Gleiche am nächsten Tag wieder tat.

Was die Assistenz beobachtete und weitertrug, stieß natürlich in der Kita auf Missfallen und so wurde sie permanent attackiert und versucht sie einzuschüchtern.

Ein weiterer Höhepunkt, der das Fass mit zum Überlaufen brachte, war der plötzliche Vorstoß der Kita in Sachen Hygieneerziehung. Trotz Liu’s diagnostizierter und der Kita bekannten Stoffwechselstörung, wegen der das Kind bis zu sieben Mal am Tag in die Windel macht ohne das zu spüren, hieß es auf einmal ‘wir fangen jetzt mal mit Hygienerziehung an, der Junge muss endlich trocken werden.’ Liu’s Ärzte rieten unisono davon ab, jetzt schon das Thema anzugehen. Auf die Bitte der Pflegeeltern, das Thema mit der Kita gemeinsam zu besprechen, folgte die Reaktion: ‘Wir wissen gar nicht, was es da zu besprechen gibt.’

Nächste Maßnahme: Ein runder Tisch wurde einberufen. Es nahmen teil die Integrationsbeauftragte der Stadt und Vertreter des Trägers Erziehungsbüro Rheinland, die betroffenen Kita-Pädagogen und die Eltern. “Es war ein wirklich gutes Gespräch”, sagt Anine. Es herrschten Einsicht, Freude und der Wunsch nach Fortbildung, die allesamt kostenlos erhalten sollten, sowie die Einigkeit darüber, dass Liu 40 Stunden eine Assistenz an die Hand bekommen solle.

Eine Woche später kompletter Stimmungswandel. Komplette Ablehnung. “Einer Erzieherin rutschte über die Lippen, sie habe in ihrer Schwangerschaft jeden Tag ein Bier getrunken und ihr Kind habe nicht EINE Beeinträchtigung”, erinnert sich Liu’s Pflegemutter und klagt: “Diese Behinderung FAS wird so sehr tabuisiert, dass man sie lieber leugnet als sich den Tatsachen zu stellen. Was sie nicht sehen wollen, existiert auch nicht.”

Bis zum heutigen Tag wird Liu zu Hause betreut. Anine: “Aber wir erfahren gerade jetzt auch sehr viel Einsatz von unserem Träger, den Assistenzdienst und ganz besonders durch Liu’s persönliche Assistenz**. Wir haben Freunde, die unser Entsetzen teilen, uns sagen, dass wir keine unfähigen Eltern sind. Dass wir tolle Kinder haben. Wir haben ein gutes Netz. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen eine inklusive Gesellschaft.”

Zumindest für ihren Pflegesohn sehen Anine und Hannes ein Licht am Horizont. Mit vereinten Kräften haben Sozialamt, die Stadt, das Erziehungsbüro Rheinland und der Landschaftsverband Rheinland (LVR) einen Platz für Liu in einer Kita in Aussicht, wo man sich über eine 40-Stunden-Assistenz sowie kostenlose Fortbildungen freut. Gleichzeitig suchen die Pflegeeltern übrigens schon nach einer geeigneten Schule, in eineinhalb Jahren wird es soweit sein – ein kurzer Zeitraum, wenn es um ein behindertes Kind geht.

Die Geschichte ward geschrieben, da ereilt Hannes und Anine ein verrücktes Finale: Die Pflegeeltern werden aufgefordert ihr Kind umzumelden im städtischen online-Kitaportal. Ups, kein Liu registriert, ist die Rückmeldung. Wie das? Ohne im System registriert zu sein, hat man auch keinen Kita-Platz. Aber die Familie zahlt seit ehedem für diesen Platz. Oh, Systemfehler, stellt die Stadt fest, ein entsprechender Account wird wieder hergestellt. Doch – das bedeutet, Liu muss neu angemeldet werden. Heißt im Klartext: Das dauert drei Wochen, dann kommt das Kind auf die reguläre Warteliste.

Bitte? Wieder Stress. Alle Nerven lagen blank. Mit letzter Kraft nicht locker gelassen. Plötzliche Wende. Der neue Kita-Vertrag flattert auf den Tisch. Und Liu hatte tatsächlich schon seinen ersten Kita-Tag.

*Die Namen sind zum Schutz der Familie geändert

** Die Kita-Assistenz darf nicht zu Hause eingesetzt werden. Für die Unterstützung zu Hause ist die sogenannte Freizeit-Assistenz zuständig. Die Assistenz für die Kita zahlt üblicherweise der LVR, die für die Freizeit das Sozialamt aus den Mitteln des sogenannten persönlichen Budgets. Die beiden Behörden stritten zunächst wer die Kosten für die derzeitige Assistenz übernimmt und zahlten beide gar nichts bis der Streit geklärt sei. Anine und Hannes finanzierten die Freizeit-Assistenz deshalb erst einmal aus der eigenen Tasche. Inzwischen ist im Grunde klar, dass das Sozialamt zuständig zeichnen muss. Das ziert sich dennoch, fordert laut Anine immer neue Unterlagen und Nachweise für die Notwendigkeit der Maßnahme, weil man sich offensichtlich erhoffe, doch noch andere Kostenträger heranziehen zu können.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Therapie-Serie – “Achtet auf das, was gut tut!” – Teil 9 Neurofeedback

Das Fetale Alkoholsyndrom bringt nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen insgesamt 419 verschiedene Symptome hervor. Dazu zählen körperliche Beeinträchtigungen wie auch neurologische Entwicklungsstörungen. Die neurologischen Defizite sind nicht heilbar, die Betroffenen haben ein Leben lang mit den Auswirkungen zu kämpfen. Es ist jedoch möglich, die Kinder und Jugendlichen mit Hilfe von Therapien zu fördern.

Um bei der allgemeinen Flut von Therapieangeboten einen Überblick zu bekommen, welche Therapien sinnvoll sein können, haben wir unsere Botschafterin, die Diplom-Psychologin und Dozentin Annika Rötters, gebeten eine Auswahl zu treffen. Entstanden ist eine “Therapie-Serie”, deren Staffeln wir in loser Abfolge online stellen.

Grundsätzliches für jede Therapieplanung

Annika Rötters: “Das wichtigste überhaupt ist: Achtet auf das, was gut tut!”

Die Störungen der alkoholgeschädigten Kinder und Jugendlichen sind individuell, so dass es für die Therapieplanung notwendig ist, für jeden Patienten das Passende bzw. die passende Kombination zu finden. Dabei ist ‘mehr’ nicht unbedingt ‘besser’. Bedingt durch das Spektrum der Schädigungen und die oft damit einhergehende Intelligenzminderung sowie die schnelle bzw. schnellere Reizüberflutung, möchte ich mich dafür aussprechen, nicht zu viel auf einmal anzugehen. Es sollte immer im Fokus behalten werden, dass eine Tendenz zur Überforderung besteht, die es zu verhindern gilt.

Nach meiner Erfahrung mit ‘besonderen Kindern’ kann ich empfehlen: Nicht zu viele Termine – und nicht mehr als einen Termin (egal ob Diagnostik oder Therapie) pro Tag und keinesfalls mehr als zwei pro Woche. Termine sind für alle anstrengend, und das, was innerhalb eines Termines geschieht, muss in ausreichender Zeit verarbeitet werden können. Notfälle sind von dieser Empfehlung natürlich ausgenommen.

Termine sollten außerdem so geplant werden, dass sie in den Tagesablauf des Patienten passen. Es darf beispielsweise nicht sein, dass für einen Termin der Mittagsschlaf geopfert wird. Nicht zuletzt sollte der Therapieplan individuell mit den jeweiligen Ärzten und Therapeuten des Vertrauens

Neurofeedback

Das Neurofeedback ist eine Spezialrichtung des Biofeedbacks und beruht auf der Erkenntnis, dass jeder Mensch lernen kann seine Hirnaktivität zu steuern. Beim Neurofeedback werden deshalb Gehirnstromkurven von einem Computer in Echtzeit analysiert, nach ihren Frequenzanteilen zerlegt und auf einem Computerbildschirm dargestellt. Dabei lernen die Patienten, eine bestimmte Körperfunktion besser wahrzunehmen und zu steuern. Dies geschieht per Elektroencephalogramm (EEG)Die Messergebnisse lassen sich am Computerbildschirm in Echtzeit als einfache Signale darstellen.

In der Praxis bedeutet das, dass in der Neurofeedback-Therapie Patient und Therapeut eng zusammenarbeiten. Denn die Gehirnstromkurven werden in Echtzeit über einen Computer ausgegeben und der Patient kann live sehen, welche Auswirkungen welche Trainingsbestandteile auf die eigenen Gehirnströme haben. Annika Rötters: “So kann sehr gut ein Gefühl der Selbstwirksamkeit für die Beeinflussbarkeit eigener Denk- und Handlungsmuster geschaffen werden.”

Die Abstraktionsfähigkeit auf Patientenseite für diese Vorgehen ist vergleichsweise gering – Rückmeldungen geschehen über den Computer und die unmittelbare Auswertung in einer oft visuellen oder auditiven Form, die leicht zu verstehen ist.

Neurofeedback arbeitet auf der Grundlage des klassischen Konditionierens, mit einer Komponente der Bewusstmachung / Aufmerksamkeitslenkung auf die laufenden Prozesse. So werden bei Erreichen „wünschenswerter“ Kurven oft ein bestimmter Ton oder eine bestimmte Tonfolge abgespielt. Es kann auch ein optischer Verstärker (Bild/Video) ablaufen.

Insgesamt sollen über diese Methode bestimmte „Pfade im Gehirn“ verstärkt werden. Neurofeedback wird häufig im Zusammenhang mit sogenannten neuronalen Fehl-Regulationen empfohlen – wenn etwa eine Über-Erregbarkeit vorliegt, eine Unter-Erregbarkeit (Stimulation), Hemmung oder Instabilität neuronaler Erregungsmuster. Ziel ist stets die Beeinflussung der auftretenden Symptomatik.

An dieser Stelle, so Annika Rötters, wird Neurofeedback durchaus auch kritisch gesehen: Ursachen von Symptomatiken werden nicht beachtet und möglicherweise komplexe Zusammenhänge, die erst die Entwicklung neuronaler Fehl-Regulationsmuster bewirkt haben, können durch die Nichtbeachtung dieser langfristig zu Äußerungen der zugrunde liegenden Ursachen in anderen Symptomen führen.

Die Meinung zu Neurofeedback der PsychologinInformiert euch bei einem Spezialisten. Habt Ihr das Gefühl, dass es passen könnte, die neuronale Regulation über Konditionierungsprozesse anzupassen, probiert das aus. Qualitätsmerkmale sind hier eine ausführliche Anamnese und Aufklärung über Vorgehen und Parameter, auf deren Grundlage Entscheidungen über die Steuerung der Konditionierungsprozesse getroffen werden.

Achtung: Bislang wurde Neurofeedback nicht in den Gegenstandkatalog der Krankenkassen aufgenommen. Trotzdem sollte man sich nicht scheuen, einen Antrag bei der zuständigen Krankenkasse auf Kostenerstattung zu stellen. Das hat durchaus Aussicht auf Erfolg, da die positive Wirkung der Therapieform nach jahrelangen Forschungen aus medizinisch-therapeutischer Sicht anerkannt ist.

Die Therapie-Serie auf einen Blick:

1. Tiergestützte Therapie

2. Musiktherapie

3. Physiotherapie

4. Ergotherapie

5. Logopädie

6. Motopädie

7. Psychotherapie

8. Ernährung

9. Neurofeedback

Informationen zur Diplom-Psychologin und Dozentin Annika Rötters: www.psychotrainment.de

Autorin: Dagmar Elsen

Therapie-Serie – “Achtet auf das, was gut tut!” – Teil 8 : Ernährung –

Das Fetale Alkoholsyndrom bringt nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen insgesamt 419 verschiedene Symptome hervor. Dazu zählen körperliche Beeinträchtigungen wie auch neurologische Entwicklungsstörungen. Die neurologischen Defizite sind nicht heilbar, die Betroffenen haben ein Leben lang mit den Auswirkungen zu kämpfen. Es ist jedoch möglich, die Kinder und Jugendlichen mit Hilfe von Therapien zu fördern.

Um bei der allgemeinen Flut von Therapieangeboten einen Überblick zu bekommen, welche Therapien sinnvoll sein können, haben wir unsere Botschafterin, die Diplom-Psychologin und Dozentin Annika Rötters, gebeten eine Auswahl zu treffen. Entstanden ist eine “Therapie-Serie”, deren Staffeln wir in loser Abfolge online stellen.

Grundsätzliches für jede Therapieplanung

Annika Rötters: “Das wichtigste überhaupt ist: Achtet auf das, was gut tut!”

Die Störungen der alkoholgeschädigten Kinder und Jugendlichen sind individuell, so dass es für die Therapieplanung notwendig ist, für jeden Patienten das Passende bzw. die passende Kombination zu finden. Dabei ist ‘mehr’ nicht unbedingt ‘besser’. Bedingt durch das Spektrum der Schädigungen und die oft damit einhergehende Intelligenzminderung sowie die schnelle bzw. schnellere Reizüberflutung, möchte ich mich dafür aussprechen, nicht zu viel auf einmal anzugehen. Es sollte immer im Fokus behalten werden, dass eine Tendenz zur Überforderung besteht, die es zu verhindern gilt.

Nach meiner Erfahrung mit ‘besonderen Kindern’ kann ich empfehlen: Nicht zu viele Termine – und nicht mehr als einen Termin (egal ob Diagnostik oder Therapie) pro Tag und keinesfalls mehr als zwei pro Woche. Termine sind für alle anstrengend, und das, was innerhalb eines Termines geschieht, muss in ausreichender Zeit verarbeitet werden können. Notfälle sind von dieser Empfehlung natürlich ausgenommen.

Termine sollten außerdem so geplant werden, dass sie in den Tagesablauf des Patienten passen. Es darf beispielsweise nicht sein, dass für einen Termin der Mittagsschlaf geopfert wird.

Nicht zuletzt sollte der Therapieplan individuell mit den jeweiligen Ärzten und Therapeuten des Vertrauens auf den Patienten abgestimmt werden.”

ERNÄHRUNG

Grundsätzlich sei gesagt: Eine ausgewogene Ernährung ist wichtig für unser Leben, unsere Gesundheit, unsere Lebensdauer – und eine nicht ausgewogene Ernährung ist ein Risikofaktor für viele sogenannte Gesellschaftskrankheiten. Sollte die Ernährung einseitig sein, bzw. nicht ausgewogen, ist es nach unserer Expertin in jedem Fall sinnvoll, die Ernährung – gegebenenfalls unter Hinzuziehen des Hausarztes – umzustellen oder anzupassen.

Bei Recherchen im Internet hat Annika Rötters die Erfahrung gemacht: “Im Internet kursieren verschiedenste „Anleitungen“, die mit zum Teil recht kuriosen Methoden einer Ernährungsumstellung versprechen, Krankheiten zu heilen.” Dazu möchte unsere Botschafterin noch einmal ganz klar betonen:

“Fetale Alkoholschäden sind nicht heilbar.” Und es ist auch nicht möglich, durch eine besondere Ernährung das Wachstum zu fördern.

Das hat folgenden Grund: Als Mitosegift hemmt Alkohol jegliche Form von Wachstum, was sich beim Kind als Hypoplasie und Hypothrophie äußert – einer verminderten Zellanzahl bzw. Reduktion des Zellvolumens. Genau das führt dazu, dass FAS-Kinder im allgemeinen zu leicht und zu klein sind für ihr Alter.

Hinzu kommt: Um die fetale Proteinsynthese zu gewährleisten ist es erforderlich, Aminosäuren aktiv zum Feten zu transportieren, da die Aminosäurenkonzentration zwischen Kind und Mutter unterschiedlich ist. Durch den Alkohol wird dieser Transport über die Plazenta behindert. Neben dem Transport ist auch die durch RNA gesteuerte Bildung von Proteinen gestört. Durch die wiederum gestörte Eiweißproduktion kommt es zu einem verminderten Aufbaustoffwechsel, was sich ebenfalls in Hypotrophie und Hypoplasie äußert. Dies ist die Ursache, warum FAS-Kinder trotz adäquater Ernährung und guter Förderung nicht gut wachsen.

“Selbstverständlich kann gezielt nach Nahrungsmittelunverträglichkeiten geschaut werden. Gerade intensive emotionale Schwingungszustände oder Ausbrüche können beispielsweise in manchen Familien ziemlich eindeutig mit einem sehr hohen Zuckerkonsum in Verbindung gebracht werden” stellt die Psychologin klar. Die Betonung liegt aber auf “sehr hohem Zuckerkonsum”.

Es gibt nämlich kaum einen Mythos, der sich so hartnäckig hält wie: Zucker macht Kinder hyperaktiv.

Dabei ist wissenschaftlich längst klar: Zucker verwandelt Kinder nicht in hyperaktive Zeitgenossen und sorgt auch nicht dafür, dass gesunde Kinder ADHS entwickeln. “Es gibt keine seriöse Studie, die belegt, dass Zucker hyperaktiv macht”, stellt unter anderem der ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Michael Schulte-Markwort, klar.


Aber: Oft werden
Kinder mit Zucker regelrecht bombardiert. Los geht das schon morgens mit gezuckerten Müslis und Nutella. Für die Schulpause gibt es, weil es schnell gehen muss, einen süßen Fertigsnack. Dann werden gerne Limonaden und Cola getrunken, dazu werden Süßigkeiten und Chips genascht. Was passiert? Es kommt zu einer Berg- und Talfahrt des Zuckerspiegels, der Insulinspiegel hat keine Zeit, auf den Normalwert abzusinken. Folge: Das Kind wird gereizt, aggressiv, unruhig, müde und unkonzentriert.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien und Beobachtungen, die belegen, dass Ernährung einen sehr starken Einfluss auf unser Verhalten bzw. auf das Verhalten unserer Kinder hat.
Eine davon ist die „Fragile Families and Child Wellbeing Study“ der Princeton University/USA. Ergebnis: Kinder, die mehr als drei stark zuckerhaltige Softdrinks pro Tag konsumieren, neigen eher zu aggressivem Verhalten und Aufmerksamkeitsstörungen, als Kinder die keine Softdrinks getrunken haben.

Es gibt außerdem einige Hinweise, dass der aktuelle Trend zu Fertiggerichten, Fast Food, stark zuckerhaltigen und stark verarbeiteten Lebensmitteln Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen hervorrufen können. Lehrer einer US-amerikanischen Schule stellten fest, dass ihre Schüler nach Umstellung von Fast Food auf gesunde Kost deutliche Besserungen in ihrem Verhalten zeigten. Während die Schüler vorher durch mangelndes Benehmen, Aggressivität und andere Probleme auffielen, waren sie nun wesentlich aufmerksamer, arbeiteten besser mit und konnten sich über einen längeren Zeitraum hinweg konzentrieren.

Quellen:

Dr. Reinhold Feldmann/http://www.uni-muenster.de

http://www.fet-ev.eu/ernaehrungsmedizin/143-ernaehrungstherapie-adhs

https://www.eltern-bildung.at/expert-inn-enstimmen/kann-ernaehrung-das-verhalten-unserer-kinder-beeinflussen/

 

Die Therapie-Serie auf einen Blick:

1. Tiergestützte Therapie

2. Musiktherapie

3. Physiotherapie

4. Ergotherapie

5. Logopädie

6. Motopädie

7. Psychotherapie

8. Ernährung

9. Neurofeedback

Informationen zur Diplom-Psychologin und Dozentin Annika Rötters: www.psychotrainment.de und @psychotrainment

Autorin: Dagmar Elsen

Therapie-Serie – “Achtet auf das, was gut tut!” – Teil 7 : Psychotherapie –

Das Fetale Alkoholsyndrom bringt nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen insgesamt 419 verschiedene Symptome hervor. Dazu zählen körperliche Beeinträchtigungen wie auch neurologische Entwicklungsstörungen. Die neurologischen Defizite sind nicht heilbar, die Betroffenen haben ein Leben lang mit den Auswirkungen zu kämpfen. Es ist jedoch möglich, die Kinder und Jugendlichen mit Hilfe von Therapien zu fördern.

Um bei der allgemeinen Flut von Therapieangeboten einen Überblick zu bekommen, welche Therapien sinnvoll sein können, haben wir unsere Botschafterin, die Diplom-Psychologin und Dozentin Annika Rötters, gebeten eine Auswahl zu treffen. Entstanden ist eine “Therapie-Serie”, deren Staffeln wir in loser Abfolge online stellen.

Grundsätzliches für jede Therapieplanung

Annika Rötters: “Das wichtigste überhaupt ist: Achtet auf das, was gut tut!”

Die Störungen der alkoholgeschädigten Kinder und Jugendlichen sind individuell, so dass es für die Therapieplanung notwendig ist, für jeden Patienten das Passende bzw. die passende Kombination zu finden. Dabei ist ‘mehr’ nicht unbedingt ‘besser’. Bedingt durch das Spektrum der Schädigungen und die oft damit einhergehende Intelligenzminderung sowie die schnelle bzw. schnellere Reizüberflutung, möchte ich mich dafür aussprechen, nicht zu viel auf einmal anzugehen. Es sollte immer im Fokus behalten werden, dass eine Tendenz zur Überforderung besteht, die es zu verhindern gilt.

Nach meiner Erfahrung mit ‘besonderen Kindern’ kann ich empfehlen: Nicht zu viele Termine – und nicht mehr als einen Termin (egal ob Diagnostik oder Therapie) pro Tag und keinesfalls mehr als zwei pro Woche. Termine sind für alle anstrengend, und das, was innerhalb eines Termines geschieht, muss in ausreichender Zeit verarbeitet werden können. Notfälle sind von dieser Empfehlung natürlich ausgenommen.

Termine sollten außerdem so geplant werden, dass sie in den Tagesablauf des Patienten passen. Es darf beispielsweise nicht sein, dass für einen Termin der Mittagsschlaf geopfert wird.

Nicht zuletzt sollte der Therapieplan individuell mit den jeweiligen Ärzten und Therapeuten des Vertrauens auf den Patienten abgestimmt werden.”

 

Psychotherapie

Psychologische Psychotherapeuten arbeiten klassischerweise entweder verhaltenstherapeutisch fundiert oder tiefenpsychologisch. “Es gibt auch die systmemische Psychotherapie und einige andere mehr”, sagt Annika Rötters, “aber diese sind zum Teil (noch) nicht kassenanerkannt und werden somit auch nicht ohne weiteres von der Krankenkasse übernommen. Es handelt sich oft um Angebote für Privatzahler.”

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TFP)

Kognitive Prozesse und Strukturen, das heißt unbewusste Mechanismen und Prozesse stehen bei der Behandlung durch TFP im Vordergrund. Es soll der sogenannte Kern einer Störung bearbeitet werden. “Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie arbeitet nicht primär symptomorientiert, sondern befasst sich mit den Auslösern der jeweiligen zu behandelnden Störung oder Krankheit”, erläutert die Diplom-Psychologin.

Bei fetal alkoholgeschädigten Menschen besteht zumeist eine Intelligenzminderung. “Das kann die Anwendung tiefenpsychologisch fundierter Methoden deutlich erschweren”, gibt Annika Rötters zu bedenken. Allerdings, und Rötters weiter: “Ursprünglich gehörte die aktive Einarbeitung von verhaltensorientierten Strategien nicht in die Ausbildung zum TFP. Inzwischen wird aber auch hier mit stabilisierenden Techniken gearbeitet. Das bedeutet, dass den Patienten durchaus konkrete Techniken für Belastungssituationen an die Hand gegeben werden. Diese sind jedoch häufig kognitiv basiert – ganz im Gegensatz zu den verhaltensorientierten Ansätzen der Verhaltenstherapie.”

Worauf muss geachtet werden?

Für den Patienten bedeutet es, dass im Vorfeld genau geschaut werden muss, ob er die geeigneten Fähigkeiten mitbringt, dass eine TFP Sinn macht und damit erfolgsversprechend ist. Ebenso muss auch der Therapeut die Fähigkeiten mitbringen, auf den Patienten angemessen eingehen zu können. Die Ausbildung zur Person des tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten ist ein Qualitätsmerkmal – die menschliche Passung zwischen Therapeut und Patient spielt aber auch eine große Rolle.

Verhaltenstherapie (VT)

Bei der Verhaltenstherapie liegt der Fokus – vereinfacht gesagt – auf dem Hier und Jetzt, und nicht primär darauf, die Probleme aus der Vergangenheit oder Kindheit aufzuarbeiten. Die Arbeit setzt an konkreten Verhaltensweisen im Alltag an, die den Patienten im täglichen Leben beeinträchtigen. Hierfür soll er sich neue Sicht- und Verhaltensweisen aneignen, um seine Probleme bewältigen zu können. “Oder auch neue Zugänge zu bereits vorhandenen, aber bisher nicht ausgeschöpften Ressourcen erlernen”, erläutert Annika Rötters. Dabei setzt der Psychotherapeut zum Beispiel Angstbewältigungsstrategien, Rollenspiele, Verhaltensübungen, Vorstellungsübungen (mentales Training) und Entspannungsverfahren ein.

Zu Bedenken ist laut Annika Rötters: “Aufgrund der häufig auftretenden Intelligenzminderung, sowie der konkreten Störungen des Sozialverhaltens bei FASD ist (rein theoretisch) Verhaltenstherapie auf den ersten Blick geeigneter als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Im Einzelfall ist jedoch für die konstruktive Zusammenarbeit eine vertrauensvolle Therapeuten-Patienten-Beziehung höchstwahrscheinlich bedeutsamer für den Therapieerfolg als das konkrete Ausbildungsverfahren des Psychotherapeuten.”

Verhaltenstherapie mit Softskills und Piktogrammen

Bei der Methodik der „Soft Skills“ geht es um die Stärkung zwischenmenschlichen Erlebens und Verhaltens – quasi das „Erlernen sozialer Kompetenzen“. Dies sei sinnvoll, sagt die Psychologin, aber gleichzeitig auch für Patienten mit FASD schwierig, weil entsprechende Grundlagen für ein „ungestörtes soziales Miteinander“, wie etwa Gerechtigkeitsempfinden oder Moralverständnis grundlegend anders angelegt sein könnten als bei anderen Menschen. Annika Rötters: “Nichtsdestotrotz kann es sehr sinnvoll sein, mit Patienten hier zu arbeiten – letztendlich sind angewandte Techniken nicht nur hilfreich für den Umgang mit anderen Menschen, sondern auch für den Umgang des Patienten mit sich selbst.”

“Piktogramme” sind Symbole oder einfache Bilder, mit deren Hilfe Kommunikation gestaltet werden kann. „So könnten beispielsweise manche Patienten mit Defiziten in der verbalen Kommunikation über Piktogramme ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern lernen”, erläutert die Fachfrau. Auch zur Strukturierung des Alltags, beispielsweise mit FASD-Patienten im Autismus-Spektrum, können Piktogramme sinnvoll eingesetzt werden.

Worauf muss geachtet werden?

Verhaltenstherapie darf nur durch zugelassene Verhaltenstherapeuten (etwa psychologische Psychotherapeuten VT) durchgeführt werden. Die vertrauensvolle Therapeuten-Patienten-Beziehung spielt eine wichtige Rolle für die Effektivität der Behandlung.

Neurokognitive Therapien

In der Neurokognition beschäftigen sich Psychologen, Neuropsychologen und Neurobiologen mit der Frage, wie kognitive Leistungen im Gehirn zustande kommen. Annika Rötters: “Neurokognitive Therapien setzen bei der Förderung von Aufmerksamkeit, Erinnerung, Lernen, Planungsfähigkeit, Orientierung, Kreativität und Imagination an. Neurokognitive Defizite werden gezielt bearbeitet und mit den Patienten Techniken erlernt, um sich im Alltag trotz vorhandener – nicht heilbarer – Beeinträchtigungen so eigenständig wie möglich zurechtfinden zu können.”

Worauf muss geachtet werden?

Neurokognitive Ansätze finden sich meist innerhalb Psychotherapeutischer Verfahren – eine „anerkannte Ausbildung zum neurokognitiven Therapeuten“ gibt es bisher in Deutschland nicht. Sowohl das Verfahren als auch der Therapeut sollte zum individuellen Patienten passen. Gerade bei vorliegender Intelligenzminderung mit Orientierungsstörung können neurokognitive Ansätze hilfreich sein – eine Garantie kann es trotzdem nicht geben.

 

Die Therapie-Serie auf einen Blick:

1. Tiergestützte Therapie

2. Musiktherapie

3. Physiotherapie

4. Ergotherapie

5. Logopädie

6. Motopädie

7. Psychotherapie

8. Ernährung

9. Neurofeedback

 

Informationen zur Diplom-Psychologin und Dozentin Annika Rötters: www.psychotrainment.de

Autorin: Dagmar Elsen

“Meine Mutter wollte mich wegtrinken”

Theresa war kein gewolltes Kind. Theresa vermutet, dass ihr Vater gar nicht ihr Vater ist. Theresa hat vier Geschwister. Alle vier sind kerngesund. Nur Theresa nicht. Theresa ist das zweitgeborene Kind der Familie und nur Theresa hat das Fetale Alkoholsyndrom. “Meine Mutter wollte mich wegtrinken”, ist Theresa der festen Überzeugung. Sie glaubte wohl, durch einen extrem hohen Alkoholkonsum werde es zu einer Fehlgeburt kommen. Theresa’s trockener Kommentar: “Das hat aber nicht funktioniert.” Wie so viele Menschen saß auch Theresa`s Mutter dem überlieferten Irrglauben auf, starker Alkoholkonsum in den ersten Wochen der Schwangerschaft führe sowieso zu einem Abort.*

Theresa erblickte schon in der 31. Schwangerschaftswoche das Licht der Welt – per Kaiserschnitt. Neun Tage musste sie beatmet werden im Brutkasten und wegen einer schweren Lungenentzündung bis August im Krankenhaus bleiben. Dann durfte sie nach Hause. “Ach, was heißt zuhause? Es war die Hölle. Meine Mutter wollte mich gleich weggeben, aber meinem Vater war das wegen des gesellschaftlichen Ansehens peinlich”, berichtet die heute 32jährige. Er habe es lieber zugelassen, dass Theresa in ein Zimmer mit einer Matratze auf dem Fußboden “weggesperrt” wurde. Zumindest seit sie sich erinnern kann, war das so.

So wie sie auch noch sehr gut weiß, dass sie immer Hunger hatte. So großen Hunger, dass sie dem mit ihr als Gefährten in dem Zimmer eingesperrten Papagei oft die Körner weggefuttert hat. “Ich hatte einen dicken Bauch wie die Kinder in Afrika”, erzählt Theresa, “meine Eltern meinten, das käme vom zu vielen Trinken. So bekam ich nichts mehr zu trinken. Ich habe dann aus der Toilette getrunken.”

Da Theresa es gewohnt war aus der Toilette zu trinken, tat sie dies auch im Kindergarten der Lebenshilfe. Hier ging sie hin, weil sie extrem entwicklungsverzögert war, außerdem wegen, so ist es im Jugendamtsbericht zu lesen, “sozialer Deprivation”.

Nicht zu lesen, aber zu sehen ist, dass Theresa eine von der Herdplatte verbrannte Hand hat. “Eine Strafe meiner Mutter”, erinnert sich die junge Frau. Ebenso, dass sie von der ewig auf sie wütenden Mutter die Treppe hinuntergestoßen wurde. Einmal brach sich das Kind den Arm, ein anderes Mal das Bein. “Beim Arzt hieß es, ich sei von der Schaukel gefallen, ich sei so tolpatschig”, sagt Theresa – für die Erwachsenen eine nicht aus der Luft gegriffene Erklärung, denn im Bericht des Jugendamtes steht geschrieben: retadierende Motorik und Muskelhypotonie; festgestellt durch regelmäßige Untersuchungen einer Ärztin. “Auf mich wollte keiner hören, da hieß es immer nur – die übertreibt”, so Theresa.

Nicht körperlich schmerzhaft, aber demütigend als Strafe der Mutter war das Haare schneiden für Theresa. Zornig und wahllos sei an ihr herumgeschnitten worden. “Komische Strafen waren das”, findet die junge Frau.

Mit sieben Jahren wurde Theresa eingeschult; in die Förderschule. Sie trank immer noch aus der Toilette und kam mit vollen Windeln in den Unterricht. Die Lehrerin informierte das Jugendamt. Theresa wurde umgehend Pflegeeltern übergeben, einem älteren Ehepaar, das Theresa schon kannte. “Ich war schon an den Wochenenden immer bei ihnen gewesen. Meine Mutter hatte eine Anzeige in der Zeitung geschaltet, dass sie übers Wochenende Betreuung suche”, erzählt die junge Mutter. Theresa kam vom Regen in die Traufe: “Sie hatten auch immer so komische Strafen für mich. Ich musste eine ganze Nacht lang vor ihrem Bett stehen bis ich vor Müdigkeit halluzinierte.”

Das Glück kam endlich mit den zweiten Pflegeeltern, die Theresa bis heute als ihre “wirklichen Eltern” betrachtet. Diese hatten bereits ein Kind aus Rumänien adoptiert, das Theresa schon aus der Schule kannte. Es war ihr bester Freund. Und das Leben in dieser Familie die Rettung.

Die Pflegeeltern kümmerten sich um “das traurige Kind”, bis der (vermeintlich) leibliche Vater sich unvermittelt meldete und Theresa überredete, zu ihm zurückzukehren. Da war sie 16 Jahre alt. “Meine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, an meine Geschwister, die bei ihm lebten, konnte ich mich nicht erinnern”, sagt Theresa, “und ich war voll in der Pubertät. Ich war ganz schlimm.” Delinquenz, Stehlen und Lügen standen auf der Tagesordnung. “Eigentlich habe ich damals nur noch gelogen, weil ich immer Angst hatte Ärger zu bekommen”, sagt Theresa. Beim Vater musste sie immer “irgendwelche Sachen” unterschreiben, die sie nicht verstanden hat. Aus dieser Zeit hat sie noch heute 30.000 Euro Schulden.

Trotzdem schaffte Theresa den Schulabschluss, machte den Führerschein und begann anschließend eine Ausbildung im Restaurant. Die junge Frau schien einen guten Lauf zu haben, bis sie eines Tages bei der Arbeit mir nichts dir nichts zusammenklappte.

Die Ärzte, die sie von Kopf bis Fuß untersuchten, fanden nichts. Aber in Theresa wehrte sich alles, wieder zur Ausbildungsstätte zurückzukehren. Sie spürte, dass die Arbeit nicht gut für sie war. Von da an meldete sich Theresa arbeitslos.

In der Zwischenzeit hatte sie ihren heutigen Mann, einen Maler und Lackierer, kennengelernt. Mit ihm bekam sie drei Kinder. “Das Amt hat sie mir alle weggenommen. Ich würde das eh nicht können. Die Richterin sagte wörtlich zu mir: Sie als Arbeitslose brauchen keine Kinder. Sie kriegen eh nichts gebacken”, kann sich Theresa bestens erinnern.

“Ich kann es aber offensichtlich doch, Kinder groß ziehen”, schiebt Theresa strahlend und triumphierend hinterher. Theresa: “Wir sind einfach in eine andere Stadt gezogen.” Damit änderten sich die Zuständigkeiten. Die hiesigen Behörden fühlten sich nicht auf den Plan gerufen. Theresa und ihr Mann bekamen noch zwei Kinder – inzwischen zehn und acht Jahre alt, beide gehen zur Regelschule. Zu den anderen drei Kindern haben sie und ihr Mann keinen Kontakt. Ein Hin und Her – das möchte Theresa nicht, nicht für sich und nicht für die Kinder.

Und wie kam es nun zur Diagnose Fetales Alkoholsyndrom? “Jemand hat mich auf mein Aussehen angesprochen und ich wunderte mich ja selbst immer, dass ich aussehe wie eine Ameise”, erzählt Theresa lachend, “ich weiß ja selbst, dass ich komisch bin und sag’ das anderen auch.” Nachdem sie ein Jahr lang auf einen Termin hatte warten müssen, ist sie für zwei Tage nach Berlin zu ihrer Schwester gefahren. Im FASD-Fachzentrum Sonnenhof wurde 2018 die Diagnose gestellt.

Die Liste ihrer Beeinträchtigungen ist lang. Für Theresa selbst besonders auffällig ist ihre extreme Orientierungslosigkeit. Auto fahren kann sie nur, wenn wenigstens ihre Kinder dabei sind. “Die sind dann mein Navigationssystem, ich vergesse alle Wege”, sagt sie. Die Führerscheinprüfung zu absolvieren, schaffte sie allerdings problemlos. Ihre Kinder fragt sie auch, wie alt sie ist. Das kann sie sich nicht merken. Zahlen sind für sie sowieso ein Buch mit sieben Siegeln: “Mathe geht gar nicht.” Kurz- und Langzeitgedächtnis – defizitär. Und mit Wutausbrüchen sei das speziell: “Ich kann wegen Kleinigkeiten mir nichts dir nichts explodieren. Und dann mir bloß nicht ‘beruhig Dich mal’ sagen. Dann wird es noch schlimmer. Am besten lässt man mich in Ruhe. Es geht dann nach einer Weile wieder.”

Noch etwas? “Oh ja, Ordnung halten, aufräumen” …. ganz schwieriges Thema für Theresa. Aufgefallen ist ihr außerdem: “Ich habe ein anderes Schmerzempfinden. Ich bin hart im Nehmen. So schnell tut mir nichts weh.”

Was kann Theresa besonders gut? – “mit Pferden umgehen – ich kann sie lesen.”

Nach all dem, was vor allem ihre Mutter ihr angetan hat – empfindet sie Wut auf ihre Mutter? “Nein, überhaupt nicht. Ich kann verstehen, dass sie mich hasst, wenn es tatsächlich stimmt, dass ihr Vater sie mit mir geschwängert hat” sagt Theresa. Theresa hätte ihre Mutter so gerne nach all den Jahren noch einmal kennengelernt, um ihr zu sagen, dass sie ihr verziehen habe. “Aber sie verleugnet mich komplett bis heute.”

Theresa’s Wunsch an die Kampagne: “Ich würde gerne Gleichgesinnte kennenlernen. Und ich würde gerne Eltern helfen ihre FAS-Kinder besser zu verstehen wie sie ticken. Wir sind nämlich sehr anders.”

*Bei Alkoholkonsum, insbesondere verstärktem Alkoholkonsum, besteht tatsächlich eine erhöhte Gefahr, dass es zu einer Fehlgeburt kommt. Relativ sicher ist dies aber nur in den ersten zwei Wochen der Schwangerschaft. In den ersten 14 Tagen post conceptionem wird der Embryo durch das Blut der Mutter ernährt, das durch das extraembryonale Zölom und den Dottersack diffundiert. Alkohol und Acetaldehyd erreichen den Trophoblasten in dieser Zeit, es wird jedoch angenommen, dass diese keine bleibenden Schäden hinterlassen. Entweder können in dieser Zeit geschädigte Zellen noch durch pluripotente Zellen ersetzt werden oder die  toxische Wirkung führt aufgrund ihres Ausmaßes zu einer Störung des Trophoblasten und zum Frühabort, ganz im Sinne eines „Alles-oder-Nichts-Prinzips“. Ist und bleibt die Eizelle also stark stark geschädigt, nistet sie sich nicht in der Gebärmutter ein und wird, in aller Regel mit der nächsten Blutung, unbemerkt abgestoßen.

Im übrigen verbietet sich eine Spekulation auf eine Frühgeburt auch deshalb, da der erste Tag der Schwangerschaft in aller Regel nur rückwirkend festgestellt wird.

Quelle: www.uni-muenster.de

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Erste-Hilfe-Kompetenz verleiht Sicherheit

Kindern, die fetale Alkoholschäden haben, neigen dazu, höhere Risiken einzugehen als andere Kinder. Sie haben kein gesundes Gefühl für Gefahren und können Konsequenzen nicht abschätzen, die ihr Verhalten nach sich zieht. Und dadurch, dass ihre Fähigkeit reduziert ist, aus Erfahrung zu lernen, setzen sie sich immer wieder aufs Neue gleichen oder ähnlichen Gefahren aus. Das bedeutet, dass Eltern und Großeltern von Kindern mit fetalen Alkoholschäden nicht nur doppelt aufpassen müssen. Sie sollten auch sicher sein in der Erste-Hilfe-Leistung.

Das befürwortet Jordis Kreuz*, Rettungssanitäterin und Erste-Hilfe-Ausbilderin aus dem Münsterland, unbedingt: “Jeder sollte eine gute Hausapotheke mit ausreichendem Inhalt haben und regelmäßig einen Erste-Hilfe-Kurs machen. Die Problematik, dass Kinder und Jugendliche mit fetalen Alkoholschäden hohe Risikobereitschaften an den Tag legen, ist der Mutter dreier Kinder aus ihrer langjährigen Arbeit in einer Außenwohngruppe mit von fetalen Alkoholschäden betroffenen Jugendlichen beim Stift Tilbeck-Havixbeck nur allzu bekannt.

“Gerade der Straßenverkehr stellt ein Problem dar, weil die Geschwindigkeiten gern unterschätzt werden. Die Betroffenen lassen sich leider auch gerne zu waghalsigen Dingen anstiften – Böller lange in der Hand halten, oder mit dem Rad Stunts machen.” Manche riskanten “Spielereien” ließen sich auch vermeiden, indem man scharfe Messer und Scheren wegschließe, Leitern unzugänglich mache, keine Streichhölzer und Feuerzeuge herumliegen lasse.

Hinzu käme in diesem Zusammenhang, dass Betroffene oft ein anderes Schmerzempfinden haben. Sie tun sich weh ohne Schmerzen. Das betreffe auch das Hitze-Kälte-Empfinden.

Erste-Hilfe-Leistung ist bei kleinen Kindern besonders schwierig, weil sie noch schlecht oder auch gar nicht beschreiben können, was genau passiert ist, wo und wie es ihnen weh tut. Deshalb rät Jordis Kreuz, bei unklaren Vergiftungen, Verätzungen oder Verbrennungen sofort medizinische Hilfe zu suchen. Oder auch, wenn das Kind beispielsweise eine Schonhaltung eingenommen hat. “Dann liegt der Verdacht auf einen Bruch sehr nahe”, sagt sie.

Eltern und Großeltern haben oft Angst, dass sie bei den Kindern im Rahmen der Ersten Hilfe etwas falsch machen könnten. “Erste Hilfe kann jeder, und wenn es nur der Notruf ist”, stellt die Rettungssanitäterin klar, “Ruhe ausstrahlen ist wichtig und trösten.” Das werde in der Panik gerne vergessen. Auch bei diesem Punkt helfe es definitiv, wenn man sicher sei in Erster Hilfe. Kompetenz verleiht Sicherheit.

Welcher Notfall wird von Eltern und Großeltern eigentlich gern verkannt? “Vergiftung durch Salz”, kommt die Antwort bei Jordis Kreuz wie aus der Pistole geschossen. Bei Kleinkindern reicht schon ein Teelöffel Salz, dass es zu Nierenversagen, Dehydrierungen sowie Blutungen und Schwellungen im Gehirn kommen kann.

*Jordis Kreuz hat bei den herkömmlichen Erste-Hilfe-Kurse festgestellt, dass das Thema Erste Hilfe für Babys und Kleinkinder dort meistens zu kurz kommt und Eltern sich nach Notfällen ihrer Kinder viele Vorwürfe machen, dass sie nicht richtig hatten helfen können. Das war für Jordis Kreuz die Initialzündung, mit ihrem Unternehmen “Erste Hilfe Party”durchzustarten. “Ich komme zu den Eltern nach Hause, oder eine ganze Familie mit Freunden bucht einen Kurs bei mir. Die Atmosphäre ist dann viel lockerer, weil man sich untereinander kennt. So trauen sich alle auch Fragen zu stellen, die man vor Fremden nicht stellen würde”, erläutert die Erste-Hilfe-Ausbilderin ihr Konzept.

Ihr Erfolg damit gibt ihr Recht. Jordis Kreuz wird auch weit über die Münsterländer Grenzen hinaus gebucht: www.erste-hilfe-party.de

Autorin: Dagmar Elsen

Zur Herzensangelegenheit geworden

Bewegt von dem Leid der Betroffenen und ihrer Familien und entsetzt von den Zahlen, Daten und Fakten zum Fetalen Alkoholsyndrom ist unsere Aufklärungskampagne auch für Stefanie von @windelprinz.de zur Herzensangelegenheit geworden.

Die Bloggerin und Mutter dreier Kinder hat sich nicht nur entschieden Botschafterin zu werden. Sie hat uns eine großartige Plattform geboten, ganz ausführlich in zwei aufeinander folgenden Blogbeiträgen über das Fetale Alkoholsyndrom und seine Folgen aufzuklären, über Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, nicht zuletzt die Notwendigkeit einer flächendeckenden Kampagne zu erläutern.

Stefanie sieht es wie wir: Jedes Baby, das durch unser aller Aufklärung von fetalen Alkoholschäden verschont bleibt, ist alle Mühe, Zeit und Energie wert.

Wir danken Dir von Herzen

Das Interview findet ihr auf: https://blog.windelprinz.de/fas-fetales-alkoholsyndrom/

Erweiterter Handlungsbedarf bei “FAS – Plus”

Im Rahmen der Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms tun sich immer wieder, und das sehr oft, zwei hochkomplexe Problemfelder auf.

Das betrifft zum einen die Differenzialdiagnostik im Zuge anderer psychiatrischer Erkrankungen wie beispielsweise bipolare Störung, psychotische Erkrankungen, ADHS oder Depressionen. Zum anderen betrifft es sogenannte Traumafolge-Erkrankungen. Denn auch das Umfeld, in dem sich ein FAS entwickelt, bietet oftmals eine Risikokonstellation für weitergehende Belastungen und Traumata. Auch können frühstrukturelle Störungen aufgrund eingeschränkter Sozialisierungsunterstützung in den ersten Lebensjahren eintreten.

Chefarzt Dr. Khalid Murafi* und Supporter der Kampagne (siehe Link “Team”), sieht bei dem sogenannten “FAS Plus” unbedingt erweiterten Handlungsbedarf: “Bei diesen Kindern und Jugendlichen hilft eine Reduktion allein auf das FAS oftmals nicht. Nach unseren Erfahrungen ist jenseits der üblichen Maßnahmen bei reinen FAS-Diagnosen weitergehende Unterstützung zwingend notwendig.”

FAS Plus war auch auf der FASD Fachtagung in Dortmund ein Thema, das Dr. Khalid Murafi im Rahmen einer Tagesdokumentation zusammengefasst hat:

FASD ist an sich schon eine komplexe Problematik mit vielen unterschiedlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Systemen der betroffenen Kinder.

Nicht nur, dass die Kinder durch verzögertes Wachstum und retardierende Reifung auffallen. Sie zeigen Organschädigungen, Stigmata, neurologische und motorische Entwicklungsverzögerungen, außerdem psychotische wie diverse andere Verhaltensauffälligkeiten.

Jenseits dieser schon äußerst komplexen Beeinträchtigungen, hervorgerufen durch Alkohol- und Drogenkonsum in der Schwangerschaft, sind diese Kinder prädestiniert für weitergehende Belastungsfaktoren.

Hintergrund hierfür ist eine vermehrte Neigung der Mütter, auch während der Schwangerschaft gegen besseres Wissen Alkohol zu konsumieren. Ursache dafür kann z.B. eine bestehende Abhängigkeitserkrankung sein und / oder eine mütterliche, nicht angemessene Einschätzung hinsichtlich der Wirkung des Alkoholkonsums. Beides wiederum kann einhergehen mit affektiven Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen sowie anderen psychiatrischen Erkrankungen – Psychosen, Angststörungen und unspezifische Affekt- und Impulsregulationsstörungen. Hierbei können genetische Komponenten eine Rolle spielen. Das wiederum führt dazu, dass hier ein erhöhtes Risiko besteht, dass die geborenen Kinder neben den alkoholbedingten Erkrankungen eigenständige psychiatrische Erkrankungen mit genetischen Komponenten entwickeln.

Bekanntlich ist die Zeit der Schwangerschaft mit einem höheren Risiko belastet, auch andere psychosoziale Stressoren aufzuweisen: Partnerschaftskonflikte, soziale Belastungen, Armut, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge im Rahmen eines übermäßigen Alkoholkonsums, Partnergewalt, etc. All diese Bedingungsfaktoren führen zu erhöhter Stressauslösung im mütterlichen Organismus, der sich wiederum negativ auf die kindliche Entwicklung im Mutterleib auswirkt. Das bedeutet, dass auch sog. epigenetische Faktoren, also stressbedingte Umprogrammierung genetischer Voraussetzungen in der kindlichen Entwicklung, mit dann erhöhtem Risiko z.B. depressive Erkrankungen entwickeln können.

Die Aspekte der schwerwiegenden lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren während der Schwangerschaft, oder auch mütterlicherseits vor der Schwangerschaft, können einhergehen mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter und einer komplexen Traumafolgeerkrankung. Diese Stressoren, die sich auch auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen, können zu einer deutlichen Beeinträchtigung der frühen nachgeburtlichen Interaktion mit dem Säugling führen. Das wiederum kann die notwendige basale Versorgung des Neugeborenen, sowie die im besonderen emotionale dringend notwendige Resonanz in den ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahren deutlich einschränken. Derlei Resonanzentziehungen können auch bei anderen, ebenso bestehenden psychiatrischen Erkrankungen mütterlicherseits ohne genetische Komponenten – so z.B. bei eigener mütterlicher frühstruktureller Störung (oftmals auch als Borderline-Störung benannt) – rederent sein.

Die eingeschränkte Resonanzfähigkeit mütterlicherseits führt zu einer desorganisierten chaotischen Entwicklung der emotionalen Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationsfähigkeit des Kindes. Das hat entsprechend weitreichende und tiefgreifende Folgen für die weitere emotionale und psychische Entwicklung des betroffenen Kindes; mit dann auch eben der Entwicklung einer sog. frühstrukturellen Störung (also früh entstehend und tief strukturell eingreifend). Das wiederum bedeutet einen sehr langfristigen negativen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, zumeist einhergehend mit den schon frühen Verhaltensauffälligkeiten in der Affekt- und Impulsregulation. Mit dem Eintreten in die Pubertät stellt sich dies noch einmal mehr mit aller Deutlichkeit in der Symptomentwicklung dar.

Eine der schwierigen Aufgaben für die betroffenen Kinder ist die Regulation von Gefühlslagen; dies im besonderen in Beziehungen. Das offenbart sich mit dem Eintritt in die Pubertät oftmals ganz besonders durch Brüche mit den Adoptiv- und Pflegefamilien. Die Jugendlichen fallen mit massivem destruktivem Verhaltensweisen auf. Oft sind diese auch gegen sich selbst gerichtet, oder auch gegen innerhalb der bisher vielleicht gerade noch tragfähigen Familienkonstellation bedeutsame und relevante Bezugspersonen.

Nicht selten gibt es bei den von fetalen Alkoholschäden betroffenen Kindern einen Adoptiv- oder Pflegestatus. Allein das Wissen darum stellt für die Kinder eine psychodynamische Last dar, die für sie schwierig zu integrieren ist, wenn sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder müssen. Zur eingeschränkten Fähigkeit, mit solchen emotionalen Aspekten umzugehen, kommt auf der Ebene des FASD dann auch noch im Sinne der frühstrukturellen Störung oder anderen bestehenden affektiven Erkrankungen eine hohe Neigung zur Dysregulation.

Dies heißt nicht, dass hier eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Psychotherapie besteht. Vielmehr müssen im Behandlungsgang sowohl diese biologisch psychiatrischen Aspekte, teilweise mit einer spezifischen Medikation ( z.B. antidepressiven Medikation oder neuroleptischen Medikation oder stimmungsstabilisierenden Medikation), angegangen werden, als auch psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. All dies unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge. Denn bei diesen Kindern kann es sein, dass eine isolierte Fokussierung auf die schon ausreichend komplexe Problematik der FASD-immanenten Folgen zu kurz greift und es eben zusätzlicher spezifischer Behandlungsangebote bedarf.

In diesem Kontext wurde das Konzept „FAS Plus“ in der Klinik Walstedde entwickelt: Eine weitergehende Diagnostik, sowohl bezogen auf biologische psychiatrische Erkrankungen, Traumafolgeerkrankungen, als auch frühstrukturelle Störungen mit dem Risiko der weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung wird sichergestellt und damit einhergehend spezifische Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickelt.

Bezogen auf eigene Traumafolgeerkrankung ist auffällig, dass das Milieu, in dem ein erhöhtes Risiko mit vermehrtem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht, eben auch ein Risikomilieu sein kann für frühe Traumatisierung, miterlebter Partnergewalt, selbst erlebter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen.

Nicht zuletzt ist zu beobachten und zu berücksichtigen, dass vor allem bei den Mädchen die fehlende Selbstwirksamkeit der FASD-Kinder bei gleichzeitig ausgeprägtem Wunsch sozial erfolgreich zu sein dazuzugehören, anderen zu gefallen, zu einer leichten Beeinflussbarkeit führen kann, die dazu führt, dass sie selber niederschwellig Opfer von Traumatisierungen werden durch sexuelle Ausbeutung und sexuelle Grenzverletzung.

Hier erleben die Kinder und Jugendlichen über die einfachen Aspekte von sexueller Attraktivität eine hohe Selbstwirksamkeit und eine inadäquate zunehmende Bedeutung für eine andere Person, können dies aber leider nicht genau differenzieren. Dadurch können sie sich selbst nicht ausreichend schützen und werden so nur Objekt der Begierde, aber nicht um ihrer selbst Willen begehrt und geliebt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Risikostruktur über die eigentlichen unmittelbar durch den Alkoholkonsum ausgelösten Belastungen der betroffenen Kinder teilweise deutlich hinausgeht, diese differentialdiagnostisch zusätzlich einer Untersuchung bedarf, im besonderen dann, wenn die bisherigen FASD-orientierten Behandlungsmethoden nicht ausreichend erscheinen, um schließlich noch einmal weitergehende spezifische Behandlungsmethoden angepasst an die individuellen Möglichkeiten zu etablieren.

In der Klinik Walstedde wird in der institutseigenen Ambulanz im Verbund mit der renommierten benachbarten FAS*-Ambulanz unter dem Stichwort „FAS Plus“ der Fokus auf weitergehende Erkrankungen im Rahmen des Fetalen Alkoholsyndroms gesetzt: www.klinik-walstedde.de