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“Ich durfte Schmiere stehen”

Als Dörte K., Mutter von drei Söhnen im Alter von 27, 25 und 14 Jahren, im Jahr 2016 mit ihrem Jüngsten zu einer Untersuchung in die Berliner Charité ging, wurde sie sofort gefragt, ob sie Alkohol in der Schwangerschaft getrunken habe. Ihrem Sohn fehlt nämlich ein Gehörgang, klassisches Indiz für fetale Alkoholschäden. Völlig überrascht wehrte Dörte, die in keiner ihrer Schwangerschaften Alkohol konsumiert hatte, die Vermutung ab. Und völlig überrascht ging sie anschließend mit Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom für sich selbst nach Hause.

Einige Zeit später sollte der Berliner FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr diesen Verdacht bestätigen. Da war die Brandenburgerin schon 44 Jahre alt und hatte bis dato immer nur gedacht, dass sie “eben dumm” sei. “Wie soll man sich seine Defizite denn auch sonst erklären?”, fragt sie. Ihrer Seele habe das nicht gut getan, konstatiert Dörte: “Ich habe wenig Selbstwertgefühl. Immer noch. Nicht mehr so schlimm. Es ist besser geworden.”

Was hat die Ärzte veranlasst, den Verdacht auf FAS zu äußern?

Dörte: Sie fragten mich über meine Vergangenheit aus. Ich erzählte ihnen von meinen Gefühlsausbrüchen, meinen Ängsten und Depressionen, von meiner Vergesslichkeit, der Unordentlichkeit und meiner Überforderung. Und ich erzählte von dem Alkoholproblem meiner Mutter.

In welcher Form hatte sie ein Alkoholproblem?

Dörte: Sie hat heimlich getrunken. Sie war unauffällig, weil sie ja alles geschafft hat – den Haushalt, alles familiäre, sich gut um mich zu kümmern.

Wie hast Du es gemerkt?

Dörte: Da war ich zwölf Jahre alt. Eine Freundin hat mich darauf gebracht, als sie sagte, dass meine Mutter immer nach Alkohol rieche. Und dann habe ich zufällig mitbekommen, dass sie Alkohol in Schraubgläser und andere Gefäße in der Küche abgefüllt hat. Als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie. Das ist jetzt unser großes Geheimnis. Auch der Papa darf davon nichts wissen.

Wie war Deine Reaktion?

Dörte: Meine erste Reaktion war positiv. Wie toll, ich habe ein Geheimnis mit meiner Mutter. Im Urlaub durfte ich dann Schmiere stehen auf der Toilette, wo sie Alkohol abgefüllt hat.

Dein Vater muss das doch mitbekommen haben?

Dörte: Ja schon, aber er war Musiker und sehr viel unterwegs. Ich erinnere mich aber, dass er viel mit ihr geschimpft hat. Und er hat mich geschimpft. Er meinte, ich hätte mich zur Co-Alkoholikerin gemacht.

Wann hast Du gemerkt, dass der Alkoholkonsum Deiner Mutter ein großes Problem ist?

Dörte: Sie war morgens, wenn sie nüchtern war, ganz anders als am Abend. Das war eine völlige Wesensveränderung. Das hat mir Angst gemacht.

Trotz Deiner persönlichen Schwierigkeiten und der Situation zu Hause hast Du die Schule geschafft und eine Ausbildung zur Wirtschaftspflegerin gemacht.

Dörte: Weil meine Mutter mich bei allem immer unterstützt hat. Und dann gab es noch meinen Großvater. Da hatte ich immer einen festen Halt.

Wie hast Du die Diagnose aufgenommen?

Dörte: Ich war erst einmal erleichtert. Aha, jetzt weiß ich wenigstens, warum ich so bin. Jetzt weiß ich, dass ich nicht einfach nur dumm bin. Es war gleichzeitig aber auch beschämend. Eine zeitlang hatte ich große Wut auf meine Mutter. Jetzt habe ich ihr aber vergeben. Ich habe meine Mutter ja auch geliebt. Ich hatte einen Jenseitskontakt und das war sehr schön und da kam viel Liebe rüber. Außerdem ist Alkoholsucht eine Krankheit. Noch dazu herrschte in den 70er Jahren noch große Unwissenheit über die Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.

Wie hat Dein persönliches Umfeld auf die Diagnose reagiert?

Dörte: Meine Eltern sind beide schon verstorben. Meine Söhne haben total unterschiedlich reagiert. Am liebevollsten war der Jüngste. Der interessiert sich sehr dafür. Mama, wenn das so ist, ich hätte Dir früher schon viel mehr geholfen und helfe Dir jetzt auf jeden Fall mehr. Mein Ex-Mann, der Vater von den drei Söhnen, sagte: Ach deshalb warst Du so.

Zu meinem jetzigen Mann war ich ganz ehrlich gewesen als wir uns kennen lernten. Er hatte nichts besseres zu tun, als es allen seinen Freunden zu erzählen. Ich habe mich dann gewundert, als eine Frau auf mich zukam und sagte, ich solle doch mal meine Lippen zeigen. Mein Mann und ich hatten daraufhin einen Riesenkrach, weil ich ihm vorwarf, dass er mich doch nicht als behinderte Anschauungspuppe darstellen könne. Für ihn bin ich abgestempelt. Wenn ich mal wütend bin, dann sagt er immer, na siehste, bist halt bekloppt.

Wirst Du ärztlich versorgt?

Dörte: Ich habe eine Neurologin. Die hat auch die Diagnose von Spohr. Aber die glaubt mir nicht. Sie sagt immer, Sie können mehr – weil ich ja auch die Rente beantragt habe. Sie sagt immer, Sie trauen sich zu wenig zu, sie sehen immer so gut und gesund aus. Das kann nicht sein, dass sie krank sind. Ich denke mir, das hat doch nichts mit dem Aussehen zu tun. Das Problem liegt doch innen.

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Studien-Reise Fetales Alkoholsyndrom – Was gibt’s Neues 2021?

Unsere Botschafterin, die Diplom-Psychologin Annika Rötters, hat sich auf Studien-Reise begeben zu erkunden, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse im Jahr 2021 zum Thema fetale Alkoholschäden veröffentlicht worden sind. Dabei ist sie auf drei große Themenkomplexe gestoßen. Der erste Komplex widmet sich den Fragen, welche Bereiche, wie, durch Alkohol-Exponation in der Schwangerschaft geschädigt werden. Der zweite Themenblock beschäftigt sich mit den Besonderheiten bei der Diagnose fetaler Alkoholschäden. Im dritten Teil geht es um die Herausforderungen und Strategien für Eltern, seien es leibliche, Pflege- oder Adoptiveltern von Kindern, die fetale Alkoholschäden haben.

Die wichtigsten Erkenntnisse nach heutigem Wissensstand:

+ Nach wie vor gilt: Es gibt keine sichere Menge Alkohol in der Schwangerschaft, die unschädlich wäre für das Kind

+ Die aktuelle Diagnostik wird dem breiten Spektrum alkoholbedingter Schädigungen noch nicht gerecht

+ Eine frühe Förderung von Sprache und Sprachverstehen kann definitiv auch andere Entwicklungsbereiche positiv beeinflussen

+ Eine frühzeitige Diagnose fördert die Entwicklungsmöglichkeiten Betroffener und macht sie selbständiger

+ Bei der Diagnostik von kognitiven Beeinträchtigungen sollte auch das Schlafverhalten in die Behandlung miteingeschlossen werden

+ Auch im Erwachsenenalter kann eine Diagnose noch von Vorteil sein, da sie besseren Zugang zu Unterstützungsleistungen ermöglicht, sowie das persönliche Verständnis und die Anpassungsfähigkeit fördern können.

+ Interventionen stärken das soziale Umfeld eines betroffenen Menschen. Dazu zählt, die Betreuungspersonen darin zu unterstützen, ressourcenorientiert den eigenen Alltag so zu gestalten, dass eine selbstfürsorgliche Haltung nicht vor lauter Terminen, Stress und Hindernissen untergeht. Das kann sich positiv auf die gesamte Familie und auch auf die Entwicklung betroffener Kinder auswirken.

Wie schädigt der Alkohol und kann sich das wieder erholen?

Zu den konkreten Wegen, auf denen der Alkohol die Entwicklung des Ungeboreren beeinträchtigt und nachhaltige Schäden durchführt, gibt es neue Erkenntnisse. Sullivan und Kollegen untersuchten 2020 die MRT-Daten von 115 betroffenen und 59 nicht betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Im Fokus stand der Volumen der „lobulären grauen Substanz“ – also quasi die „grauen Zellen“ im Kleinhirn.

In ihrer Analyse fanden sie abgestufte Defizite, die ein Spektrum von Schweregraden fetaler alkoholbedingter Schädigungen unterstützen. Bei weiteren neuroradiologischen Messungen wurden insgesamt zwanzig Anomalien festgestellt, von denen acht das Kleinhirn betrafen. Sullivan und Kollegen schlussfolgern daraus, dass die diagnostisch charakteristischen funktionellen Beeinträchtigungen der emotionalen Kontrolle, der visuomotorischen Koordination und der Haltungsstabilität über diesen Schädigungsweg erklärt werden könnten. Offensichtlich ist das Kleinhirn nicht nur an allen diesen Handlungen beteiligt, sondern ist auch durch seine ausgedehnte pränatale Wachstumsphase besonders empfindlich gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen.

Auch Inkelis, Moore, Bischoff-Grethe & Riley untersuchten 2020 altersbedingte Unterschiede im Volumen verschiedener Gehirn-Strukturen (Corpus callosum, Basalganglien und Kleinhirn) im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Die Unterschiede führen sie auf die Empfindlichkeit dieser Regionen gegenüber pränataler Alkoholexposition zurück. Die Forscher fanden deutliche Unterschiede in Größe und Volumen einiger Hirnregionen: Alle Subregionen waren in der FASD-Gruppe im Vergleich zu den Kontrollen signifikant kleiner. Außerdem unterschieden sich die FASD- und Kontrollgruppen in ihrer Beziehung zwischen Alter und Gesamtvolumen des Corpus callosum, des Caudatus und des Kleinhirns. Ältere FASD-Personen hatten ein kleineres Gesamtvolumen in diesen Regionen. In der Kontrollgruppe wurden keine altersbedingten Unterschiede im Volumen gefunden.

Wichtig ist bei der Betrachtung der Veränderungen zudem das biologische Geschlecht: So wiesen männliche Kontrollpersonen vor allem im Pallidum und im Kleinhirn größere Volumina auf als die weiblichen Kontrollpersonen. Die Geschlechtsunterschiede wurden in der FASD-Gruppe abgeschwächt, blieben jedoch bestehen.

Auch zu möglichen Schutzfaktoren vor Alkoholschädigungen gibt es neue Erkenntnisse – zumeist aus der Tierforschung. Hier möchte ich auf die Experimente von Bottom et al. und Cadena et al. aus dem Jahr 2020 eingehen. Beide Studien befassen sich mit möglichen Schutzfaktoren gegen starke Auswirkungen des Alkohols. In beiden Studien wird betont, dass die Schädigungen des Nervensystems durch Alkohol permanent sind und es keine Heilung gibt.

Gleichzeitig fanden beide Forschungsgruppen Hinweise darauf, dass das Ausmaß der verursachten Schädigung reduziert werden könnte. Cadena und Kollegen untersuchten die mütterliche Versorgung mit Folsäure im Zusammenhang mit Schädigungen durch Alkohol bei Zebrafischlarven. In der Experimentalgruppe wurden die durch Alkohol verursachten Defekte durch die zusätzliche Gabe von Folsäure bei den Larven reduziert (wenn auch nicht vollständig verhindert).

In einem anderen Versuch setzten Bottom und Kollegen trächtige Mäuse während der gesamten Trächtigkeit 25 % Ethanol (Alkohol) und zusätzlich 642 mg/L Cholinchlorid (Cholin) aus. Sie wollten die Auswirkungen der Cholin-Supplementierung auf die Entwicklung des Gehirns, Nervensystems, sowie auf das Verhalten des Nachwuchses messen.

Resultat:

+ Eine gleichzeitige Cholin-Supplementierung neben dem Alkoholeinfluss verhinderte grobe Entwicklungsanomalien (die mit Alkohol in Verbindung gebracht wurden), wie zum Beispiel das verringerte Körpergewicht und Hirngewicht.

+ Die Schädigung von bestimmten (intraneokortikalen) Schaltkreisen war in der Experimentalgruppe mit Cholin geringer.

+ Auf genetischer Ebene sowie der Wirkweise bestimmter Gene, die durch Alkohol verändert wird, beobachteten Bottom und Kollegen Verbesserungen.

+ Die Verbesserung sensomotorischer Verhaltensstörung

+ Verbessert war das teilweise erhöhte Angstverhalten, das bei trächtigen Mäusen durch Alkohol-Exponation entstanden war.

Inwieweit diese Daten auf Menschen zu übertragen sind, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erforscht.

Zunehmend gibt es Hinweise, die darauf deuten, dass die Umweltbedingungen, unter denen Menschen mit fetalen Alkoholschäden leben, für ihre Entwicklung ein wichtiger Faktor sind.

Die Analysen der Canadian National FASD Database von Burns und Kollegen (2021) zeigen, dass Kinder, die von der Sozialhilfe betreut werden, deutlich häufiger sexuell und körperlich missbraucht werden als Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern oder bei Pflege-, Adoptiv- oder anderen Familienmitgliedern leben. Auch der Anteil der Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Gesetz hatten, war bei denjenigen, die in der Kinderfürsorge leben, höher als bei denjenigen, die bei Adoptiv- oder anderen Familienmitgliedern leben. Umgekehrt war die Rate der diagnostizierten Stimmungsstörungen bei Kindern, die bei Pflege-, Adoptiv- oder anderen Familienmitgliedern lebten, deutlich höher als bei Kindern, die von der Sozialhilfe betreut wurden.

Auch Vega-Rodriguez und Kollegen (2020) kommen zu dem Schluss, dass Umweltfaktoren häufig für Menschen mit fetalen Alkoholschäden nachteilig sind – nämlich dann, wenn sie entweder nicht frühzeitig diagnostiziert werden, oder die Betroffenen keine angemessene Unterstützung erfahren. Vega-Rodriguez und Kollegen beschreiben einen symptomatischen Einzelfall: Ein 9-jähriges Kind, bei dem sie alle zum jetzigen Zeitpunkt bekannten relevanten Variablen, die seine Entwicklung beeinflussen (FASD-Diagnose und sozio-ökologische Bedingungen), beobachtet und analysiert haben.

Beschrieben werden seine frühe Kindheit in Heimen, der Umzug in eine Pflegefamilie im Alter von sechs Jahren und verschiedene Bewertungsmaßnahmen von der Pflegefamilie bis heute. Festgestellt wurden Schwierigkeiten in den Bereichen Wortschatz, Zugang zum Wortschatz, Morphologie, Syntax, Grammatik, mündliche Erzählung, Pragmatik, Sprache und Kommunikation. Kognitive Schwierigkeiten fielen auf in den Bereichen Gedächtnis und Wahrnehmung. Bei den exekutiven Funktionen gab es Probleme in der sozialen Anpassung, beim Lernen und dem Sozialverhalten.

Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass eine frühzeitige Diagnose und ein frühzeitiger Ansatz es Betroffenen ermöglichen kann, trotz ihrer neurologischen und verhaltensbedingten Einschränkungen Fähigkeiten in verschiedenen Dimensionen zu entwickeln, um frühe Widrigkeiten zu bewältigen. Auch wenn fetale Alkoholschäden nach wie vor als nicht heilbar gelten, kann ein unterstützendes Umfeld betroffene Kinder sehr wohl dazu befähigen, im Laufe ihrer Entwicklung Bewältigungsstrategien zu erwerben und aufzubauen, mit ihrer Diagnose so eigenständig und selbstbestimmt wie möglich zu leben.

Gibt es neue Empfehlungen zur Diagnose und Behandlung?

In vielen Ländern ist man der Überzeugung, dass eine frühzeitige Diagnostik für Kinder von Vorteil ist, da sie frühzeitig Zugang zu Unterstützung durch frühe Hilfen, Förderung der Entwicklung sowie eine bessere psychosoziale Versorgung auch der Betreuungspersonen bekommen können. Es gibt aber auch Länder, die das vollkommen anders sehen und nur Vollbild-Diagnosen stellen. So in Schweden.

Karin Heimdahl Vepsä befasst sich (2020) in ihrem Paper mit der pragmatischen, der ethischen und der wissenschaftlichen Perspektive. Und sie sagt: Eine Diagnose, etwa durch Stigmatisierung der Mütter aufgrund des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft, kann auch mit Risiken verbunden sein, die möglicherweise im Einzelfall die Vorteile einer Diagnostik nicht überwiegen. In Schweden ist das Vorgehen daher bisher klar begrenzt: Es wird nicht das gesamte Spektrum diagnostiziert.

Andernorts gewinnt zunehmend die Frage an Bedeutung, ob es sinnvoll sein kann, auch noch im Erwachsenenalter zu diagnostizieren:

Temple, Prasad, Popova, & Lindsay befassten sich im Jahr 2020 mit der Frage, ob auch eine Diagnose von fetalen Alkoholschäden im Erwachsenenalter Betroffenen Vorteile bringt. Sie befragten zwanzig Erwachsene, die zum Zeitpunkt ihrer Diagnose zwischen 18 und 45 Jahren alt waren. Insgesamt fanden sie deutlich erhöhte Raten von klinisch relevanten psychischen Störungen (mehr als die Hälfte der Befragten) und eine Arbeitslosenquote von 85 % (17 von 20) – vor der Diagnose bezogen zwei der Befragten ein Erwerbsunfähigkeitseinkommen und drei von ihnen hatten Anspruch auf Leistungen für geistig Behinderte (ID).

Bei der Nachuntersuchung erhielten 90 % der Teilnehmer (18 von 20) ein Erwerbseinkommen und 85 % (17 von 20) hatten Anspruch auf ID-Leistungen. Alle zwanzig befolgten mindestens eine Beurteilungsempfehlung und fünfzehn der Befragten befolgten sogar zwei. Die meisten (15) gaben an, dass eine Diagnose von Vorteil war, da sie eine bessere Anpassung und ein besseres Selbstverständnis ermöglichte.

Temple et al. kommen somit zu dem Schluss, dass auch im Erwachsenenalter eine Diagnose noch von Vorteil für Betroffen sein kann, da sie besseren Zugang zu Unterstützungsleistungen ermöglicht, sowie das persönliche Verständnis und die Anpassungsfähigkeit fördern könne.

Und auch bezüglich der Diagnostik selbst gibt es neue Daten: Pei und Kollegen haben einen Datensatz von Entwicklungsfragebögen aus Kindergärten untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Prävalenz der fetalen Alkoholspektrumsstörung (FASD) möglicherweise unterschätzt werde, da sie in der frühen Kindheit schwer zu diagnostizieren sei. Sie fanden eine Prävalenz (Anteil von erkrankten Kindern im Vergleich zur Gesamtpopulation von Kindern im gleichen Alter), die von 0,01 bis 0,31 % reichte. Ein größerer Prozentsatz der Kinder mit FASD hatte nach Angaben der Lehrer häusliche Probleme, die sich auf ihr Verhalten auswirkten.

Auch May und Kollegen befassen sich in ihrem Papier (2021) mit der Prävalenz fetaler Alkohol-Spektrum-Störungen und untersuchten eine Zufallsstichprobe auf kindliche Merkmale und mütterliches Risiko für fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) in einem Bezirk im Südosten der Vereinigten Staaten. Alle 231 freiwillig an der Studie teilnehmenden Kinder wurden auf Dysmorphologie und Wachstum untersucht, 84 wurden auf ihr Neuroverhalten getestet und bewertet, und 72 Mütter wurden auf ihr mütterliches Risiko hin befragt.

Es gab signifikante Unterschiede zwischen den Kindern, bei denen FASD diagnostiziert wurde gegenüber der Gesamtstichprobe bei Größe, Gewicht, Kopfumfang, Body-Mass-Index und den Gesamtwerten für die Dysmorphologie sowie bei allen drei Hauptmerkmalen des fetalen Alkoholsyndroms: Länge der Lidspalte, glattes Philtrum und schmales Zinnoberrot. Die intellektuellen Funktionen und die Hemmungsfähigkeit unterschieden sich nicht signifikant innerhalb der Stichprobe. Aber zwei Messungen der exekutiven Funktionen und eine Messung der visuellen/räumlichen Fähigkeiten näherten sich der Signifikanz. Insgesamt sechs Verhaltensmessungen waren in der FASD-Gruppe signifikant schlechter: von den Lehrern bewertetes aggressives Verhalten, oppositionelles Trotzverhalten und Verhaltensprobleme sowie von den Eltern bewertete Probleme bei der Kommunikation, dem täglichen Leben und der Sozialisierung.

Als signifikante mütterliche Risikofaktoren wurden postpartale Depressionen, die Häufigkeit des Alkoholkonsums und die Erholung vom problematischen Alkoholkonsum angegeben. Die Prävalenz von FASD betrug 71,4 pro 1.000 oder 7,1 %. Das bedeutet, dass jedes 14. Kind fetale Alkohol-Spektrum-Schädigungen aufweist. Diese Rate liegt innerhalb des Prävalenzbereichs, der in acht größeren Stichproben anderer Gemeinden im Rahmen der Collaboration on FASD Prevalence (CoFASP)-Studie in vier Regionen der Vereinigten Staaten ermittelt wurde. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine sorgfältige und detaillierte klinische Bewertung von Kindern aus kleinen Zufallsstichproben für die Schätzung der Prävalenz und der Merkmale von FASD in einer Gemeinde nützlich sein kann.

Dass hierbei gleichzeitig möglichst auf eine breite Diagnostik zu achten ist, zeigen die Ergebnisse von Mattson et al. Sie befassen sich mit fehlenden Zusammenhängen zwischen elterlichen Berichten und aufgabenbasierten Leistungsmessungen bei Kindern mit FASD in bisherigen Studien und vergleichen die Ergebnisse längerer Aufgaben mit elterlichen Leistungseinschätzungen ihrer Kinder. Sie untersuchten, ob Veränderungen in der Leistung im Laufe der Zeit innerhalb einer Aufgabe (d.h. erste Hälfte versus zweite Hälfte) besser mit den elterlichen Berichten über exekutive Funktionen und Temperament bei Kindern mit FASD übereinstimmen. Sie interpretieren ihre Ergebnisse so, dass Leistungsunterschiede innerhalb einer Aufgabe individuelle Unterschiede in der exekutiven Funktion und im Temperament, wie sie von den Eltern berichtet werden, genauer widerspiegeln und dazu beitragen, die Art und Weise, wie kognitive Prozesse bei Kindern mit FASD gemessen werden, zu verbessern. Insgesamt deuten auch diese Daten darauf hin, dass die Diagnostik dem weiten Spektrum von alkoholbedingen Schädigungen noch nicht gerecht wird.

Die Daten von Dylag und Kollegen aus dem Italian Journal of Pediatrics (2021) zeigen auf, dass auch Schlafstörungen bei Personen mit fetalen Alkoholschäden ein wichtiges Gesundheitsproblem zu sein scheinen. Sie untersuchten vierzig diagnostizierte Patienten (Durchschnittsalter acht Jahre), und vierzig normal entwickelte Kinder (Durchschnittsalter zehn Jahre) mittels eines Screening von Schlafproblemen über einen Fragebogen, der von einer Betreuungsperson ausgefüllt wurde. Diejenigen aus der FASD-Gruppe, die mehr als 41 Punkte erreichten, qualifizierten sich für die zweite Phase der Studie und ließen eine Polysomnographie im Labor durchführen. Die Messungen umfassten ein Elektroenzephalogramm, Elektrookulogramme, ein Kinn- und Schienbein-Elektromyogramm, ein Elektrokardiogramm, Beatmungsüberwachung, Atemanstrengung, Pulsoxymetrie, Schnarchen und Körperposition. Die Ergebnisse wurden mit den Referenzdaten des PSG-Labors verglichen.

Die Zahl der Teilnehmer mit Schlafstörungen war in der FASD-Gruppe deutlich höher als bei Kindern mit normaler Entwicklung (55 % gegenüber 20 %). Auf den folgenden Subskalen fanden sich signifikante Unterschiede zwischen der Gruppe von Kindern mit der Diagnose FASD im Vergleich zur Kontrollgruppe: Verzögerung des Einschlafens, nächtliches Aufwachen, Parasomnien, schlafbezogene Atmungsstörungen und Tagesschläfrigkeit. Kinder aus der FASD-Gruppe, die sich einer PSG unterzogen, erlebten im Vergleich zu den PSG-Laborreferenzdaten mehr Arousals (Wachheitszustände) während des Schlafs. Die Atmungsindizes in der FASD-Gruppe scheinen höher zu sein als die zuvor veröffentlichten Daten von Kindern mit normaler Entwicklung. Dylag und Kollegen fordern auf der Basis ihrer Ergebnisse mehr Aufmerksamkeit für Schlafstörungen bei Menschen mit FASD.

Dies bringen Mughall und Kollegen in Zusammenhang mit anderen Merkmalen von Kindern mit FASD: Sie untersuchten Schlaf und seinen Zusammenhang mit der Kognition, also der Funktionsweise des Denkens bei Personen mit FASD. Dazu verglichen sie den Schlaf bei Kindern mit fetalen Alkoholspektrumstörungen mit dem Schlaf von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen. Alle Kinder wiesen eine signifikant kürzere Gesamtschlafdauer, eine geringere Schlafeffizienz und mehr nächtliches Aufwachen auf als die Kinder der altersgerecht entwickelten Kontrollgruppe. Der Schlaf stand bei allen drei Gruppen in signifikantem Zusammenhang mit den Ergebnissen der kognitiven Tests. Diese Ergebnisse unterstützen die These, dass Schlaf für die kognitiven Funktionen bedeutsam ist – für genaue Aussagen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind jedoch weitere Untersuchungen notwendig.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Sprache und Denken nicht unabhängig voneinander sind – ebenso weisen die Studien auf Zusammenhänge zwischen Schlaf und Denken hin.

Vega-Rodríguez und Kollegen (2020) kommen in ihrer bereits erwähnten Einzelfallstudie zu dem Schluss, dass es für die Diagnose und Behandlung der für dieses Syndrom charakteristischen Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten der Unterstützung durch Sprachpathologen bedarf und diese gar „von entscheidender Bedeutung“ sei. Dem aktuellen Stand der Forschung nach ist eine Frühförderung im Bereich Sprache und Kommunikation also definitiv eine wichtige Säule in der Begleitung von Kindern mit fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen.

Was sind die größten Herausforderungen – sowohl für Betroffene als auch (Pflege-, Adoptiv-)Eltern und Angehörige?

In der medizinischen Forschungsliteratur wird zunehmend über ein hohes Maß an Stress bei Betreuern von Kindern mit fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) berichtet (Mohamed, Carlisle, Livesey & Mukherjee, 2020). Während es jedoch weltweit eine wachsende Anzahl von evidenzbasierten Interventionen und Trainingsprogrammen für den Stress von Betreuern im Allgemeinen gibt, gibt es nur wenige – in einigen Ländern sogar keine Programme für diejenigen, die sich um Kinder mit FASD kümmern.

Mohamed et al. haben in ihrem Paper ein aktuelles Stress-Profil von Betreuungspersonen von Kindern mit FASD erstellt, auf der Basis einer Befragung von 71 Betreuungspersonen und den von ihnen betreuten Kindern. Untersucht wurden sowohl das elterliche Stressniveau, als auch das Verhalten der Kinder; hier hinsichtlich Kognition, adaptivem Verhalten, sensorischer Verarbeitung und externalisierenden Verhaltensfunktionen.

Bei der Messung des Stressniveaus in den Familien zeigte sich in den Kinder-Skalen des Fragebogens zum elterlichen Stressniveau (PSI – Parental Stress Index) ein Stresswert, der deutlich über dem klinisch signifikanten Grenzwert für hohen Stress lag. Insgesamt fanden Mohamed et al. gleichzeitig aber keine Zusammenhänge zwischen Elternbereichen und Verhaltensweisen der Kinder.

Eine Regressionsanalyse ergab, dass Schwierigkeiten im Bereich der exekutiven Funktionen bei den Kindern die wichtigsten Prädiktoren für den Stress der Betreuungspersonen sind. Nicht signifikant waren dagegen sensorische Schwierigkeiten, obwohl 83 % der Kinder erhöhte Probleme dieser Art hatten. Die Gesamtstresswerte der Betreuer von Kindern mit fetalen Alkoholschäden waren erhöht und überstiegen bei weitem den Schwellenwert des PSI. Das lässt auf einen Bedarf an “weiterer professioneller Beratung” schließen. Mohamend et al. fordern deshalb eine verstärkte Berücksichtigung der elterlichen Bedürfnisse und eine Entwicklung von evidenzbasierten Interventionen, die auf diesen Personenkreis zugeschnitten ist.

Auch Kautz, Parr & Petrenko befragten im Jahr 2020 Betreuungspersonen von Kindern mit fetalen Alkoholspektrumstörungen. Im Fokus der 46 Befragten stand die Betrachtung: Kann sich erhöhter Stress der Betreuungspersonen negativ auf die physische und psychische Gesundheit der Betreuungspersonen und auch das Familienklima auswirken? In der Studie wurden Strategien und Hindernisse im Zusammenhang mit der Selbstfürsorge beschrieben. Untersucht wurde, wie die wahrgenommene Selbstfürsorge, deren Häufigkeit und das Vertrauen in die Selbstpflege im Zusammenhang mit Stress, Einstellung der Eltern und familiären Bedürfnissen stehen.

Ergebnis: Die konkreten Strategien und Hindernisse für Selbstfürsorge waren sehr unterschiedlich. Größeres Selbstvertrauen in die Selbstfürsorge zog weniger elterliche Belastung nach sich und brachte mehr Zufriedenheit in der Elternrolle. Die Häufigkeit der Selbstfürsorge stand hier in einem positiven Zusammenhang mit dem Vertrauen in die Selbstfürsorge, jedoch nicht mit anderen Messgrößen für das Funktionieren der Familie. Daraus lässt sich die Bedeutung von Wissen um die Wirkung von Selbstfürsorge und Selbstfürsorge-Strategien für die erlebte Selbstwirksamkeit der Betreuungspersonen ableiten. Das kann sich nicht nur positiv auf die psychische Gesundheit der Betreuungspersonen auswirken, sondern auf das gesamte Familienklima.

Autorin: Annika Rötters, Diplom-Psychologin

Quellen:

Bottom, R. T., Abbott III, C. W., & Huffman, K. J. (2020). Rescue of ethanol-induced FASD-like phenotypes via prenatal co-administration of choline. Neuropharmacology, 168, 107990.

Burns, J., Badry, D. E., Harding, K. D., Roberts, N., Unsworth, K., & Cook, J. L. (2021). Comparing outcomes of children and youth with fetal alcohol spectrum disorder (FASD) in the child welfare system to those in other living situations in Canada: Results from the Canadian National FASD Database. Child: Care, Health and Development, 47(1), 77-84.

Cadena, P. G., Cadena, M. R. S., Sarmah, S., & Marrs, J. A. (2020). Folic acid reduces the ethanol-induced morphological and behavioral defects in embryonic and larval zebrafish (Danio rerio) as a model for fetal alcohol spectrum disorder (FASD). Reproductive Toxicology, 96, 249-257.

Dylag, K. A., Bando, B., Baran, Z., Dumnicka, P., Kowalska, K., Kulaga, P., … & Curfs, L. (2021). Sleep problems among children with Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD)-an explorative study. Italian Journal of Pediatrics, 47(1), 1-11.

Heimdahl Vepsä, K. (2020). Is it FASD? And does it matter? Swedish perspectives on diagnosing fetal alcohol spectrum disorders. Drugs: Education, Prevention and Policy, 1-11.

Inkelis, S. M., Moore, E. M., Bischoff-Grethe, A., & Riley, E. P. (2020). Neurodevelopment in adolescents and adults with fetal alcohol spectrum disorders (FASD): a magnetic resonance region of interest analysis. Brain research, 1732, 146654.

Kautz, C., Parr, J., & Petrenko, C. L. (2020). Self-care in caregivers of children with FASD: How do caregivers care for themselves, and what are the benefits and obstacles for doing so?. Research in developmental disabilities, 99, 103578.

Mattson, J. T., Thorne, J. C., & Kover, S. T. (2020). Relationship between task-based and parent report-based measures of attention and executive function in children with Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD). Journal of Pediatric Neuropsychology, 6(3), 176-188.

May, P. A., Hasken, J. M., Hooper, S. R., Hedrick, D. M., Jackson-Newsom, J., Mullis, C. E., … & Hoyme, H. E. (2021). Estimating the community prevalence, child traits, and maternal risk factors of fetal alcohol spectrum disorders (FASD) from a random sample of school children. Drug and Alcohol Dependence, 108918.

Mohamed, Z., Carlisle, A. C., Livesey, A. C., & Mukherjee, R. A. (2020). Carer stress in Fetal Alcohol Spectrum Disorders: the implications of data from the UK national specialist FASD clinic for training carers. Adoption & Fostering, 44(3), 242-254.

Pei, J., Reid-Westoby, C., Siddiqua, A., Elshamy, Y., Rorem, D., Bennett, T., … & Janus, M. (2021). Teacher-Reported Prevalence of FASD in Kindergarten in Canada: Association with Child Development and Problems at Home. Journal of autism and developmental disorders, 51, 433-443.

Sullivan, E. V., Moore, E. M., Lane, B., Pohl, K. M., Riley, E. P., & Pfefferbaum, A. (2020). Graded Cerebellar Lobular Volume Deficits in Adolescents and Young Adults with Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD). Cerebral Cortex, 30(9), 4729-4746.

Temple, V. K., Prasad, S., Popova, S., & Lindsay, A. (2020). Long-term outcomes following Fetal Alcohol Spectrum Disorder (FASD) diagnosis in adulthood. Journal of Intellectual & Developmental Disability, 1-9.

Vega-Rodríguez, Y. E., Garayzabal-Heinze, E., & Moraleda-Sepúlveda, E. (2020). Language development disorder in fetal alcohol spectrum disorders (FASD), a case study. Languages, 5(4), 37.

Erste Flugreise alleine ins Trainingslager – Aufregung pur

Eine Challenge der besonderen Art war Luise’s erste Reise ganz allein im Flieger von Berlin nach Düsseldorf, die sie trotz Flugangst, Sorgen und großer Aufregung ohne Nebenwirkungen überstand. Im Gegenteil: “Das hat mir viel Selbstvertrauen gegeben, was mir für die nächsten Herausforderungen eine Hilfe sein wird”, sagt Luise, die, ebenso wie ihre Zwillingsschwester Clara vom Fetalen Alkoholsyndrom betroffen ist. Luise, die seit vielen Jahren auf hohem Niveau Tischtennis spielt, wollte sich bestmöglich auf die nächste Saison vorbereiten. “Ich habe den Verein spontan gewechselt und möchte meiner neuen Mannschaft helfen, indem ich bestmögliches Tischtennis spiele”, erklärt die 28jährige, “da ich zeitlich durch meine Arbeit sehr eingeschränkt bin, musste ich schauen, wie ich das alles hinbekomme.” Und so entschied sich die ausgebildete Heilerziehungspflegerin für ein Wochenende Trainingslager in Düsseldorf. Luise, die für Happy Baby No Alcohol als engagierte Botschafterin unterwegs ist, und zeigen möchte, dass vieles trotz fetalen Alkoholschäden möglich ist, hat uns zu ihrer Challenge ein paar Fragen beantwortet:

Hast Du alles alleine geplant und organisiert?

Luise: Ich habe die ganze Reise alleine geplant. Erst habe ich mir den Lehrgang rausgesucht und dann die Flüge gebucht. Im Vorfeld habe ich mir das Wochenende frei gekreuzt, damit ich dann da auch keinen Dienst habe.

Welche Gefühle gingen Dir dabei durch den Kopf?

Luise: Mein Gefühl war, oh, ob ich das wirklich schaffe, diesen Lehrgang, trotz Arbeit und allem, was sonst noch so ansteht?! Aber da ich schon von vergangenen Jahren als ich da war gute Erinnerungen hatte, habe ich mich eigentlich nur gefreut. Und ich wollte noch einmal kurz vor der Saison ein intensives Training haben, um bestmöglich in die Saison zu starten.

Welche Bedenken hattest Du im Vorfeld? Wenn ja, wie bist Du damit umgegangen?

Luise: Ich hatte nur eine Sorge, nämlich was ist, wenn ich mich im Training verletze?! Denn dann müsste ich alleine ins Krankenhaus und ich müsste verletzt zurück fliegen. Diese Gedanken waren echt zermürbend. Ich sagte mir dann aber, durch Sport können Verletzungen entstehen und das ist normal. Aber deshalb nicht zu fliegen und nicht den Lehrgang mit zu machen, ist Quatsch. Ich möchte besser werden, also musst du auch Risiko eingehen. Schon war der Gedanke viel milder und ich habe mir gesagt, wenn etwas passiert, dann soll es so sein!

Wie war der Flug für Dich?

Luise: Der Flug war tatsächlich für mich sehr aufregend und nervzerreißend. Das lag daran, dass ich vor der ganzen Situation Respekt hatte: Wie ist es mit dem Einchecken?Werde ich gleich mein Gate finden? Wie läuft generell das Einchecken ab? Außerdem habe ich wirklich Flugangst. So war es für mich doppelt schwer, dass ich ganz auf mich alleine gestellt war, wohl wissend, dass ich im Flugzeug niemand haben würde, an den ich mich würde anlehnen könne, wenn ich Angst bekomme. Aber wie es oft bei mir ist, mache mir mega die Gedanken und Sorgen. Am Ende war der Flug an sich gar nicht schlimm, viel aufregender war das einchecken auf dem großen neuen Berliner Flughafen.

Wie war die Ankunft in der fremden Stadt?

Luise: Am Flughafen Düsseldorf kannte ich mich gar nicht aus. Ich bin dann einfach nach den Schildern gelaufen und zum Glück bin ich auch gleich zu meinem Laufband gekommen, wo auch mein Koffer ankam. Dann bin ich direkt zum Taxistand und habe mir ein Taxi zum Sport Hotel genommen.

Was ist super gelaufen, was nicht?

Luise: Super ist gelaufen, dass die ganze Reise sehr schnell ging dank dem Flug. Vor Ort konnte ich nicht gleich in mein Zimmer, so musste ich noch zwei Stunden warten. Diese habe ich dann zum Einkaufen genutzt, um vor der ersten Trainingseinheit noch was zu essen.

Wie ist Dein Fazit?

Luise: Ich weiß, dass Fliegen und auf sich alleine gestellt zu sein, gar nichts Schlimmes ist. Man lernt sich selbst nochmal von einer ganz anderen Seite kennen und man lernt zu reagieren, wenn Situationen aufkommen ,die man so noch nicht kennt.

Was willst Du anderen mit auf den Weg geben?

Luise: Ich möchte mit dem Bericht zeigen, das man Ängste, Zweifel, Aufregung und innere Unruhe mit sich selbst ausmachen kann. Wenn man neuen Dingen offen gegenüber steht und sich dem annimmt, dann lernt man sich selbst ganz neu kennen und bekommt Selbstbewusstsein. Dieses Selbstbewusstsein stärkt einen für viele weitere Aufgaben im Leben.

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen”

“Die Arroganz und die Ignoranz, die uns von allen Seiten immer wieder entgegenschlägt, macht wütend”, gesteht und klagt Thomas S. , Vater eines leiblichen Kindes und eines zehn Jahre alten Pflegesohnes. Daran erkenne man, dass es immer noch viel zu wenig Aufklärung über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) gebe – trotz all der Kampagnen, die bislang schon gestartet worden seien. Wie könne es sein, dass immer noch der Glaube vorherrsche, dass ein Gläschen Wein nicht schade, vielmehr den Kreislauf anrege und dem Herzinfarkt vorbeuge? Alles Gründe für den Bundespolizisten, die Stimme zu erheben und seine persönliche Geschichte in einem Gastbeitrag zu erzählen. Denn: “Was uns persönlich sehr weitergeholfen hat, ist der Kontakt zu Gleichgesinnten – seien es Eltern mit FAS-Kindern oder selbst Betroffenen. Da muss man sich nicht erklären, wenn man am Ende ist oder warum man wie reagiert hat. Und man fühlt sich nicht so alleine, wenn man die Geschichten der anderen hört.”

Am 20.01.2012 kam unser Pflegesohn Jonas* im Alter von drei Monaten zu uns in die Familie. Meine Frau und ich hatten Ende 2011 ein Pflegeseminar besucht. Als dies Mitte Dezember 2011 zu Ende ging, sollten wir uns über die Feiertage Gedanken machen, ob wir uns vorstellen könnten, ein Pflegekind aufzunehmen. Leider hielt sich das Jugendamt selbst nicht an die zeitlichen Vorgaben und fragte bereits kurz vor Weihnachten an.

Ein Foto des Säuglings wurde uns umgehend überlassen – ein total süßer Junge mit großen, blauen Augen und einem „Engelchengesicht“. Die Entscheidung fiel in Sekundenschnelle. Er hat uns einfach verzaubert. Zwischen den Feiertagen besuchten wir den Jungen bei seinen Bereitschaftspflegeeltern, nach den Ferien stand schon der Termin im Jugendamt an.

Jonas wurde uns als ‘soweit gesundes Kind’ dargestellt. Er hätte zwar direkt nach seiner Geburt einen Entzug durchgemacht, da seine leibliche Mutter drogenabhängig gewesen sei. Aber den Entzug hätte er gut verkraftet und somit wäre alles in Ordnung. Gegebenenfalls könnten sich im Laufe der Jahre AD(H)S-Symptome zeigen. Das war die einzige Prognose.

Jonas entwickelte sich im Vergleich zu unserem damals 5-jährigen anderen Sohn deutlich zeitverzögert. Das sei normal, hieß es vom Kinderarzt und auch vom Jugendamt. Mit den Jahren wurde Jonas immer wilder und lauter. Seit dem Kindergartenalter ist er ein richtiger Adrenalin-Junkie, dem es nie zu gefährlich sein kann. Einerseits. Andererseits ist er sehr unsicher in einer ihm unbekannten Umgebung. Jonas wollte nie Dinge lernen, er wollte es sofort können. Wenn nicht, hatte er explosionsartige Wutanfälle. Er entwickelte sich weiterhin sehr zeitverzögert und wurde bezüglich Schule ein Jahr zurückgestellt. Im Kindergarten fiel immer deutlicher auf, dass er unter anderem Schwierigkeiten hatte sich zu konzentrieren und aufmerksam bei der Sache zu bleiben. Er brauchte eigentlich immer eine extra Anleitung, eine extra Aufforderung und eine extra Begleitung.

In dieser Zeit hatte meine Frau angefangen, sich über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) schlau zu machen. Unser Kinderarzt meinte weiterhin, dass das Kind es schon lernen werde, er brauche „einfach nur viel Mama, nach allem, was er schon erlebt hat“. Im Frühsommer 2017 hatten wir dann einen Termin bei Frau Dr. Hoff-Emden in Leipzig. Dort fühlten wir uns zum ersten Mal verstanden und geborgen. Frau Hoff-Emden diagnostizierte schon beim ersten Sehen und den nachfolgend durchgeführten Testungen partielles FAS. Alleine Jonas’ Aussehen sei typisch prägnant für Kinder mit fetalen Alkoholschäden. Da Jonas’ leibliche Mutter in der Zwischenzeit verstorben war, konnte der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nicht endgültig bestätigt werden.

Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen. Bis zu diesem Tag hatte ich mich nie ernsthaft mit dem Thema Fetales Alkoholsyndrom auseinandergesetzt. Und jetzt sollte mein kleiner Junge, der so süß aussieht, eine Behinderung haben, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte? Ich hatte immer noch die Haltung: Es ist nichts! Die Tränen flossen nur so. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und geheult und geheult. Mir wurde auch klar, dass der kleine Zwerg sein ganzes Leben Hilfe brauchen würde. Ohne Aufsicht gehen selbst banale Dinge wie Anziehen und Zähne putzen nicht. Er braucht permanent eine Eins-zu-Eins-Betreuung.

Ein halbes Jahr lang ging es mir richtig schlecht, haderte ich mit dem Schicksal. Dann dachte ich, ich muss es jetzt annehmen. Er kann nichts dafür. Ich würde ihn nicht mehr hergeben wollen. Es ist mein Sohn, ein charming boy, der alle um den Finger wickelt. Mir war und ist aber auch klar, dass es passieren kann, dass ich ihm in vielleicht fünf Jahren gegenübersitze und ich ihn, der ich Polizist bin, festnehmen muss. Er ist jetzt schon so leicht beeinflussbar. Aber, am Ende des Tages bin ich Optimist. Wir werden sehen.

Als ich mich dank Hilfe des Internets, eines Curriculums des Sozialpädiatrischen Zentrums Leipzig und einschlägigen Heften einigermaßen auf Stand gebracht hatte, was es heißt fetale Alkoholschäden zu haben, und was für Auswirkungen es auf Eltern und Kind hat, ging der „Kampf“ mit den Behörden los.

Unser Kinderarzt hat bis heute nicht verstanden, was es bedeutet fetale Alkoholschäden zu haben. Für ihn war Jonas immer ein Kandidat für ADHS mit einer Tendenz in Richtung Autismus. Jonas sei ja so niedlich, zurückhaltend (in fremden Situation, also z. B. beim Arzt) und hätte nicht die an das Down Syndrom erinnernde Gesichtszüge. Jeder Arztbesuch wurde zu einem Gewaltakt an Aufklärung. Entweder wurde unser Anliegen klein geredet oder aufgebauscht und in eine andere Richtung gelenkt.

Mittlerweile haben wir einen Kinderarzt gefunden, dem FAS nicht unbekannt ist und der sich auch weiter aufklären ließ. Es folgten Kämpfe mit der Pflegekasse um den Pflegegrad und Kämpfe mit dem Versorgungsamt um den Grad der Behinderung. Dank hartnäckiger Gespräche hat Jonas einen Pflegegrad 3 und einen Grad der Behinderung von 70 %.

Es ist aber leider so, dass man immer wieder schief angesehen wird, wenn man sagt, dass Jonas behindert ist, denn äußerlich wirkt er nicht so. Dieses Problem hatten wir auch bei der Wahl der Schule. Jonas wurde im Vorfeld von Schulpsychologen getestet und für eine Schule mit dem Förderschwerpunk sozial-emotional (SE) als geeignet angesehen. Im Vorfeld des Schulbeginns wurde Jonas durch Frau Dr. Hoff-Emden medikamentös eingestellt. Dieses Medikament verträgt er bis heute sehr gut.

Wir kommen aus Süddeutschland. Hier scheint das Fetale Alkoholsyndrom nicht zu existieren. Selbst unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie wusste am Anfang nichts mit der Diagnose anzufangen und musste durch uns aufgeklärt werden. In der Förderschule ging die Aufklärung wieder von vorne los. Teilweise hatten wir das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Jonas wurde immer wieder aus der Klasse genommen, wenn er nicht so wollte wie er sollte. Dass es eine Überforderung für ihn war, wurde trotz mehrfacher Hinweise von uns an die Schule ignoriert. Erst durch einen von uns Eltern angestoßenen Schulwechsel noch während des ersten Schuljahres auf eine Schule für geistige Entwicklung wurde es besser.

Der Schulleiter kannte und verstand die Diagnose. Auch ließen sich die Lehrer von uns aufklären und nahmen Tipps und Anregungen an. Ein Problem in der Schule ist allerdings der jährliche Wechsel des Schulbegleiters, denn für Jonas ist eine konstante und damit vertraute Bezugsperson sehr wichtig. Leider mussten wir auch in diesem Punkt feststellen, dass nicht jeder Schulbegleiter unsere Aufklärung ernst genommen hat. Es hat dadurch immer wieder viel Kraft gekostet, bis alles seinen gewohnten Gang lief.

In den mittlerweile knapp zehn Jahren, in denen Jonas in unserer Familie ist, haben wir aktuell die vierte Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Bis auf die vorletzte wusste keine etwas mit der Diagnose FAS anzufangen. Jedoch muss ich sagen, dass die Mitarbeiterinnen sich aufklären ließen und sich auch erkundigen, was es für Möglichkeiten zur Weiterbildung gibt. Hürden gab es dann allerdings wieder innerhalb der Behörde – Unterstützung für Kinder mit ADHS und ASS sei kein Problem und gängige Praxis, aber FAS? Das sei bisher nicht vorgekommen und daher gäbe es hier keine Unterstützung. Allein schon eine Schulbegleitung zu erhalten, war ein langer, harter Kraftakt.

*Name geändert

Luise: “Beziehung kann man lernen”

Menschen, die unter fetalen Alkoholschäden leiden, wird oft nachgesagt, dass sie nicht in der Lage sind, eine langfristige Beziehung einzugehen, weil sie unter Bindungssstörungen leiden. Unsere vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffene Botschafterin Luise Andrees aus Berlin und Zwillingsschwester von Clara, die ebenso FAS hat, sagt: „Doch, das kann man schaffen!“ Seit über drei Jahren ist sie glücklich mit ihrem zweiten festen Freund, mit dem sie im Januar diesen Jahres zusammengezogen ist. Wie das kam, das wollte die 27jährige unbedingt erzählen, um anderen Mut zu machen.

Der Weg zu einer guten Beziehung sei natürlich nicht einfach gewesen, gibt sie zu. Es sei zu vielen Missverständnissen und Konflikten gekommen. „Meine ersten Erfahrungen mit einer guten Freundschaft, die dann zu meiner ersten Beziehung geführt hat, waren für mich aus jetziger Sicht Gold wert. Ich habe viel daraus gelernt“, sagt Luise. Kennengelernt hatte sie ihn als 24jährige bei ihrem geliebten Sport, dem Tischtennis spielen. 

„Damals war ich sehr vorsichtig und zurückhaltend“, erinnert sich die Heilerziehungspflegerin, „ich habe meine Gefühle nicht zeigen können, was bei ihm auf großes Unverständnis stieß. Ich konnte ihm nicht sagen, warum ich so kalt bin.“ Außerdem konnte Luise sich nicht wirklich auf ihn einlassen, weil sie viel Freiraum beansprucht. Auch Kommunikation war für die Berlinerin ein Fremdwort.

Luise wusste nur allzugut selbst, dass all das aber wichtig ist in einer Beziehung. Dennoch sie schaffte es nicht, die Probleme offen anzusprechen. „Die ganze Situation führte dann früher oder später zur Trennung“, erzählt sie. Es habe aber nicht lange gedauert, da lernte sie ihren jetzigen Freund kennen. 

Und, jetzt endlich, öffneten sich die Schleusen: „Ich habe sofort mit offenen Karten gespielt und gesagt, dass ich das Fetale Alkoholsyndrom habe und dass ich schlecht Gefühle zeigen kann. Und dass ich viel mit mir selbst ausmache. Und dass es schwer ist, Konflikte zu lösen, die eventuell auftreten könnten.“ Luise hat außerdem gelernt, dass die Grundlage für eine gute Beziehung sein muss, dass man mit sich im reinen ist. Das ist sie: „Jetzt kann ich Gefühle zeigen, spreche Situationen sofort an, wenn ich feststelle, dass Redebedarf besteht.“ Und noch etwas ist für sie elementar: „Er nimmt mich so, wie ich bin. Er unterstützt mich in allem und das gibt mir sehr viel Kraft. Er kennt mich so gut, dass er, wenn ich einen bestimmten Gesichtausdruck habe, sofort weiß, was los ist.“

Luise fasst die wesentlichen Punkte aus ihrer Erfahrung zusammen:

+ Offenheit

+ Kommunikation

+ Gefühle zeigen

+ mit sich selbst im reinen sein

+ Empathie

Luise’s Fazit: „Wenn alle diese Punkte stimmen, dürfte es einer guten Beziehung an nichts mehr fehlen.“

Wir wollten noch ein bisschen mehr von Luise wissen und haben ihr ein paar Fragen gestellt:

Wie hast Du an Dir selbst gemerkt, dass Du Gefühle für Deinen ersten Freund hegst?

Luise: Bei meinem ersten Freund kamen die Gefühle erst nach und nach schleichend. Ich habe immer mehr gemerkt, dass ich oft an ihn denken muss und dass mir Bilder und Situationen, die wir zusammen erlebt haben, nicht mehr aus dem Kopf gehen. Irgendwann habe ich gedacht, na ob das dann nur noch eine normale Freundschaft ist, weiß ich nicht. Und so kam es dann, dass ich das offen angesprochen habe. Wir waren dann beide der Meinung, dass wir uns eine Beziehung vorstellen können.

War er die treibende Kraft, dass Ihr zusammen gekommen seid?

Luise: Meine treibende Kraft war, dass ich immer und immer wieder auch von seiner Seite aus gefragt wurde, ob ich nicht mal langsam über eine Beziehung nachdenken möchte. Ich war wirklich oft bei ihm und wir wollten uns eigentlich gar nicht mehr räumlich trennen.

Welche Art von Gefühlen hast Du nicht zeigen können?

Luise: Ich bin ein Mensch, der generell seine Gefühle kaum zeigt. Für mich war es schon immer unangenehm, meine Gefühle offen zu zeigen. Dass musste mein erster Freund ja leider auch feststellen. Ich konnte ihm nur sehr selten ins Gesicht sagen, dass ich ihn liebe, oder einfach offen mit ihm reden. Ich habe es eher in Schriftform oder mit einem Smiley gemacht. Ich konnte ihm auch nicht zeigen, ob ich traurig bin und weinen vor ihm schon gar nicht.

Was meinst Du mit „mit mir im reinen sein“? Mit was warst Du im unreinen?

Luise: Als ich mich gegen die Beziehung nach ungefähr einem Jahr entschieden habe, war ich mir im reinen. Ich merkte, dass ich mich davor dazu gezwungen hatte, mit ihm zusammen zu sein.

Mein Bauchgefühl hatte ich nicht ernst genommen. Obwohl ich recht früh gemerkt hatte, dass ich mich eingeengt fühle und noch einige Dinge mehr. Ich fühlte, so kann ich mich nicht weiterentwickeln. Als ich Schluss gemacht habe, fiel eine Riesen Last von mir und ich konnte endlich wieder atmen Das zeigte mir, dass ich alles richtig gemacht habe.

Kannst Du Dich denn jetzt vollständig einlassen? Oder gibt es bestimmte Grenzen, auf die Ihr Euch geeinigt habt?

Luise: Bei meinem jetzigen Freund kann ich mich voll auf ihn einlassen und er auf mich. Ich habe von Anfang an mit offenen Karten gespielt und habe ihm gesagt, wo meine Probleme sind und wie man in solch einer Situation mit mir umgehen soll. Dadurch konnten wir gleich eine Basis aufbauen, die für uns beide optimal war und immer noch ist.

Grenzen gibt es insofern, dass ich ihm gesagt habe, dass ich draußen nicht unbedingt küssen möchte und ein auf so mega verliebt spielen möchte. Für mich soll das einfach privat bleiben. Auch bei meinem unseren Sport möchte ich nicht, dass die anderen wissen, dass wir zusammen sind.

Dein Freund nimmt Dich so wie Du bist – bei was nimmt er sich zurück?

Luise: Ja, mein Freund nimmt mich mit all meinen Ecken und Kanten. Darüber bin ich sehr froh. Er nimmt sich oftmals zurück für mich, indem er meine Wünsche akzeptiert. Und er lässt mir den Freiraum, den ich brauche. Ich darf zu meinen Tischtennis-Turnieren fahren am Wochenende und einfach meine Freizeit so gestalten, wie ich das möchte.

Du hast mit Deiner Zwillingsschwester Clara eine sehr enge, innige und vertraute Verbindung. Hast Du bestimmte Dinge (Offenheit, Kommunikation, etc.) daraus für die Beziehung zu Deinem Freund ableiten können?

Luise: Ich bin schon immer ein emphatischer Mensch gewesen und das ist, denke ich, der Tatsache geschuldet, dass ich eben von klein auf eine Schwester habe, die eine geistige Behinderung hat. Deshalb habe ich von Anfang an gelernt, wie ich mit ihr umzugehen habe. Das hat mich sehr geprägt und beeinflusst mich immer noch, da ich mich nach wie vor viel mich um sie kümmere. Hinzu kommt mein Beruf als Heilerziehungspflegerin. Dafür muss man auch unbedingt emphatisch sein.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Schule muss ein Ort zum Wohlfühlen sein

„Du musst mich gut im Griff haben und wissen, wie ich ticke. Sonst brauchst Du gar nicht erst anzufangen, mit mir zu arbeiten. Meine Eltern können Dir sagen, worauf Du bei mir achten musst. Am besten, Du sprichst mit ihnen.“ 

Das ist David’s Rat an alle Lehrer, die mit Kindern zu tun haben, die unter von fetalen Alkoholschäden leiden. David ist „mein größter Lehrmeister“, sagt Anne-Meike Südmeyer, Grund- und Hauptschullehrerin sowie David’s Pflegemutter. Unter dem Titel ‘Schulkinder mit FASD – Fatale Katastrophe oder fantastische Herausforderung?‘ hat sie jetzt ein vom Schulz-Kirchner Verlag verlegtes Buch geschrieben. Es soll aufzeigen, wie es trotzdem gelingen kann, dass Eltern die Schule als „unterstützende Institution“ erleben und sich nicht permanent auf der Anklagebank fühlen. 

Und wie kann das besser funktionieren, als dass man in diesen Prozess die Betroffenen selbst einbindet? Alle Eltern von Kindern mit fetalen Alkoholschäden wünschen sich nichts mehr, als dass ihre Kinder und sie selbst Ernst genommen werden. Ernst genommen werden in dem, wie ihre Kinder sich selbst erklären und wie sie als Eltern ihre Kinder wahrnehmen, um ihre Potentiale wissen genauso wie um ihre Schwächen. Gegenseitiger Respekt auf Augenhöhe ist das Codewort, das auch nach Ansicht der Autorin Einzug halten sollte beim Miteinander zwischen Kindern, Eltern und Lehrern. 

Schule muss ein „Ort zum Wohlfühlen“ sein, fordert David. Das allerdings ist für Kinder mit fetalen Alkoholschäden nur selten der Fall. Vielmehr ist traurige Realität, dass Eltern, und das oft genug trotz vorgelegter Diagnose, mit dem Satz abgespeist werden: “Ihr Sohn ist selbst- und fremdgefährdend. Unter den gegebenen Umständen ist er nicht mehr beschulbar.“ Nicht einmal eine Lehrer-Kollegin bleibt von derlei Erfahrungen verschont. Anne-Meike Südmeyer musste sich gar vorhalten lassen, dass ihr Sohn Ausdrücke wie ‚Hurensohn‘ oder ‚Fick deine Mutter ins Grab‘  aus dem häuslichen Bereich haben muss. 

Dass selbst einer Lehrerin nicht mit dem nötigen Respekt und der nötigen Wertschätzung begegnet wird, offenbart den Graben. Über den muss dringend eine Brücke gelegt werden. Damit „Eltern Schule als unterstützendes System erleben, aber nicht als Institution, die zusätzlichen Druck auf die oft schon genug belasteten Familien ausübt“, so der Wunsch der Buch-Autorin. Und wie funktioniert das am besten? Mit authentischer Aufklärung! Das gelingt Anne-Meike Südmeyer zusammen mit ihrem 13jährigen Sohn allein schon aufgrund gelebter Expertise. Die Themen dazu bereitet sie entsprechend auf: die schwierige Wahl der geeigneten Schule, die Notwendigkeit Löweneltern zu sein und den Umgang mit hirnorgangeschädigten Schülern. Letzteres Thema dominiert das Werk und ist der Part von Pflegesohn David. Er habe, so seine Mutter, die “Tipps für den Umgang“ diktiert. Ihre Aufgabe war es dann noch, sie entsprechend zu erläutern.

Traurig ist, dass David wie fast alle Kinder mit fetalen Alkoholschäden und ihre Eltern erleben mussten, wie alleine sie sind, wenn das Kind als das schlimmste der ganzen Schule gilt und nur noch Ausgrenzung erfährt. Umso wertvoller ist dieses Buch, das gewiss dazu beitragen wird, diese Schicksale zu verhindern.

Rezensentin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Es berührt mich zutiefst”

Für junge Erwachsene mit fetalen Alkoholschäden ist der Weg in die Arbeitswelt in aller Regel eine Tortur. Sofern sie keinen verminderten Intelligenzquotienten haben, wird von ihnen grundsätzlich erwartet, dass sie eine Ausbildung absolvieren. Stellen sie sich beim Arbeitsamt vor, machen sie stets einen guten Eindruck, sind eloquent, freundlich und zeigen sich willig. Auf den ersten Blick scheint es für den Mitarbeiter des Arbeitsamtes so, als habe der Kandidat ausreichend Fähigkeiten und keine Verständnisprobleme. Das Fetale Alkoholsyndrom, sofern in einem Gutachten ausgeführt, stößt leider oft auf Unverständnis, weil nicht bekannt. Auch dann, wenn die begleitenden Eltern oder Betreuer die unsichtbare Behinderung erläutern. Konzentrationsprobleme? Überforderung? Geringe Aufmerksamkeitsspanne? Kein Zeitgefühl? “Ach, so schlimm kann das nicht sein. Das wird schon”, wird da abgewunken und beruhigt, “andere schaffen das auch und die haben viel schlimmere Handicaps.” Aha! Und so beginnt der Leidensweg. Ausbildungen werden begonnen und wieder abgebrochen, einmal, zweimal, dreimal. Arbeitgeber beenden immer wieder das Arbeitsverhältnis wegen untragbaren Benehmens. So geht das über Jahre, oft viele Jahre. 

Nicht so bei Luca. Luca hatte Glück und eine ganz wunderbare persönliche Ansprechpartnerin. Es war ihr ein persönliches Bedürfnis, darüber zu schreiben:

Mein Name ist Kathrin Weißberg. Ich bin die persönliche Ansprechpartnerin für Jugendliche (U25 – unter 25-jährige) im Kommunalen Job Center Lahn-Dill. Meine Aufgabe ist es, Jugendliche Arbeitslosengeld II – Bezieher*innen auf Ihrem Weg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu unterstützen und ihnen beratend zur Seite zu stehen. 

Es ist Sommer im Jahr 2020. Ich bekomme einen neuen Kunden namens Luca. Luca ist 19 Jahre und in diesem jungen Alter bereits zu 80 Prozent schwerbehindert mit dem Merkmalen G und B und bis zum 18. Lebensjahr auch „H“, welches für „hilflos“ steht. Dies kommt in der U25-Betreuung zwar vor, aber dennoch ist es zum Glück eher selten. 

Was steckt hinter Lucas Behinderung? Was sind seine Ziele, seine Pläne? Ich versende eine Einladung zur telefonischen Beratung an die Adoptivmutter von Luca, die auch gleichzeitig seine gesetzliche Betreuerin ist, um mehr zu erfahren. Eine persönliche Begegnung ist derzeit wegen der Covid-19- Pandemie leider nicht möglich. 

Luca’s Adoptivmutter berichtet, dass Luca an dem FAS-Syndrom leidet. FAS… schon mal gehört, aber für was steht die Abkürzung nochmal? Was hat Luca genau? Was sind die Folgen des FAS? Hat er Chancen, mit meiner Unterstützung eine Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt zu finden? Fragen über Fragen, die mich beschäftigen. 

Luca’s Mutter berichtet, dass ihr Sohn aufgrund des Fetalen Alkoholsyndroms leider nicht in der Lage sein wird, eine Ausbildung zu absolvieren. Aufgrund seiner Behinderung werde er auch den Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes wahrscheinlich nicht im üblichen Rahmen standhalten können. Luca komme aufgrund des FAS mit zu viel Druck nicht klar, seine Aufmerksamkeitsfähigkeit nehme im Laufe des Tages ab. Nach der Schule habe er in Q+B-Maßnahmen aber schon bis zu sechs Arbeitsstunden gut geschafft. Aktuell nimmt Luca an einer Maßnahme der Reha-Berufsberatung der Agentur für Arbeit teil, welche speziell für Menschen mit einer Behinderung konzipiert wurde. Sie nennt sich „unterstützende Beschäftigung“ und kann bis zu zwei Jahre dauern. In dieser Zeit kann Luca verschiedene Betriebspraktika absolvieren und wird währenddessen vollumfänglich unterstützt, damit er in einer regulären Arbeitsstelle Anschluss finden kann. 

Im ersten Moment bin ich schon einmal froh, dass Luca bei der Reha-Berufsberatung der Agentur für Arbeit angedockt ist, denn hier ist er genau an der richtigen Stelle. Man nimmt Rücksicht auf seine gesundheitlichen Einschränkungen und es wird versucht, eine für ihn geeignete Arbeitsstelle zu finden, bei der er auch mit seinen Handicaps gut klarkommt und auf die man Rücksicht nimmt. In der U25-Arbeitsvermittlung des Jobcenters hätte Luca vermutlich keiner der Maßnahmen Stand halten können. In der Vergangenheit kam es schon zum Abbruch von Maßnahmen oder auch „Sprengung von Gruppen“. Jedoch kann Luca nichts dafür. Grund war jedes Mal Überforderung, weil er falsch eingeschätzt worden war. Es sind die Hirnschädigungen, die seine Reaktionen hervorrufen, erklärt mir seine Mutter. Dies war mir nicht bewusst, denn vorher hatte ich noch nie einen Kunden, der an FAS gelitten hat, beziehungsweise dies diagnostiziert wurde. 

Jedoch klärt mich Luca’s Adoptivmutter auf. Dafür bin ich sehr dankbar, denn es ist ein so wichtiges Thema, das anscheinend immer noch nicht publik genug ist. Deshalb kommt es immer wieder dazu, dass Babys zur Welt kommen, die an FAS leiden. Dabei kann es doch so einfach sein: Hände weg vom Alkohol in der Schwangerschaft und das Baby entgeht ganz einfach den Folgen des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft. Welche Einschränkungen sich für das Kind aus dem Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft ergeben, wird erst später klar. Warum sind weiterhin nicht alle Frauen für dieses Thema sensibilisiert? Das macht mich sehr betroffen. Anscheinend ist eine noch größere Aufklärung hierfür notwendig, am Besten bereits an Schulen, um die Schüler und Schülerinnen für dieses Thema und dessen verheerende Folgen zu sensibilisieren oder vielleicht sogar bis zu Warnhinweisen auf alkoholischen Getränken , die auf die Gefahren bzw. Folgen bei 

Alkoholkonsum während der Schwangerschaft explizit hinweisen? Ungefähr so wie die Warnhinweise auf Zigarettenschachteln? 

Der Fall von Luca berührt mich zutiefst, denn er hat es nicht leicht – auch seine Adoptivmutter nicht. Sie kümmert sich mit vollem Einsatz und Herzblut um Luca’s Zukunft. Luca hat großes Glück mit ihr. Ich bewundere sie für ihre Kraft, Stärke und Liebe, die sie an ihr Kind weitergibt. 

Angedacht ist nun ein Übergang in das „Betreute Wohnen“. Allein dies kann bis zu mehreren Monaten dauern, bis ein Platz frei wird und eine Unterbringung gefunden wurde, die sich mit FAS auskennt. Es ist wichtig, dass sich die Betreuungseinrichtung mit FAS auskennt, damit Luca adäquat unterstützt wird und das betreute Wohnen nicht gefährdet wird und es zu einem Abbruch kommt. Nur leider gibt es bislang sehr wenige Betreuungseinrichtungen, die auf FAS spezialisiert sind. Luca wird weiterhin sein Leben lang spezielle Hilfen benötigen, um in einem geschützten Rahmen eine Tätigkeit zu finden und ausüben zu können. Er braucht starke Betreuer an seiner Seite, die ihm helfen und Rückhalt geben, wenn die FAS-Symptomatik wieder zu heftig wird. 

Ich wünsche Luca alles nur erdenklich Gute und bin dankbar, dass ich zu dieser so „einfach vermeidbaren“ Krankheit so viel (Persönliches) erfahren durfte. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass FAS noch mehr an Präsenz gewinnt und mehr Aufklärung erfolgt. 

“Fühlt sich an wie eine Ohrfeige”

Sie hat sich in ihrer Schwangerschaft jede Woche dreimal ein halbes Glas Wein gegönnt, die US-amerikanische Professorin für Ökonomie, Emily Oster, die für Furore sorgt mit ihrem allen Ernstes so genannten Werk: “Das einzige wahre Schwangerschaftshandbuch”. 

Hat die 41jährige doch tatsächlich allein anhand von Studien und Statistiken herausgefunden: Es gibt “keine stichhaltigen Beweise, dass eine geringe Menge Alkohol die kognitive Entwicklung des Ungeborenen beeinträchtigt.” Das lässt für die Akademikerin die für sie logische Schlussfolgerung zu: “Mal ein Glas zu trinken, scheint nicht zu schaden.”

Dergestalt waren die Einschätzungen der Ökonomin jüngst in einem ZEIT-Magazin-Interview zu lesen, garniert mit der Headline “Ein Glas Wein scheint in der Schwangerschaft nicht zu schaden.”

Die kollektive Empörung hierzulande ließ nicht lange auf sich warten. Und so sah man sich hinter den Backsteinmauern des ehrwürdigen Hamburger ZEIT-Verlagshauses genötigt nachzulegen und ein weiteres Interview zum Thema online zu stellen (allerdings nur für sehr kurze Zeit); Vertreter des Hamburger FASD-Zentrums durften zu den Oster-Thesen Stellung beziehen.

Das einzig wahre Ergebnis: “Kein Tropfen, null Komma null!”

Tobias Wolff, Vater dreier Pflegekinder, von denen zwei unter fetalen Alkoholschäden leiden, der obendrein Mitbegründer des Hamburger FASD-Zentrums ist, machte ohne Umschweife deutlich: “Zu lesen, dass das Thema Alkohol in der Schwangerschaft zu streng gesehen werde, fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Ich halte oft Vorträge in Jugendämtern oder Schulen zur Fetalen Alkoholspektrumsstörung. Das Unwissen ist riesig. Selbst manche Sonderpädagogen haben noch nie etwas davon gehört.” 

Erst neulich habe ein Gynäkologe einer schwangeren Mitarbeiterin geraten, ruhig ein Glas Sekt zu trinken, wenn der Kreislauf in den Keller geht, untermauerte die Ausführungen auch Dr. Jan Oliver Schönfeld, Neuropädiater und ebenfalls Mitgründer des Hamburger Fachzentrums für fetale Alkoholschäden.

Wie zumindest alle Experten des Fetalen Alkoholsyndroms weltweit wissen: Es gibt keine wissenschaftlich erwiesene Menge Alkohol, die unbedenklich für das Ungeborene wäre. Und, so Schönfeld: “Wie viel Promille Alkohol dann Schäden anrichten, ist bei jedem Baby unterschiedlich. Ich habe kleine Patienten, wo ein Glas Alkohol pro Tag reichte, um schwere Wachstumsschäden hervorzurufen, und kenne Zwillinge, von denen das eine stark alkoholgeschädigt, das andere gesund ist.”

Aber wieso kommen Untersuchungen, auf die sich Emily Oster bezieht, für ein bis zwei Gläser Wein zu weniger beunruhigenden Ergebnissen?, fragt die ZEIT. Denn dort sei kein Zusammenhang gefunden worden zwischen Alkoholkonsum und dem IQ des Kindes*

Der Hamburger Neuropädiater dazu: “Das liegt zum einen an der Methodik dieser erwähnten Studien. Um den Effekt von Alkohol exakt zu untersuchen, reicht keine einfache Befragung, wie sie in den Studien gemacht wurde, auf die Oster sich bezieht. Um wissenschaftlich wasserdicht zu beweisen, ob und wieviel Alkohol schädigt oder nicht, müssen Studien anders konzipiert sein: Eine Gruppe Schwangere müsste jeden Abend Schnaps trinken, eine zweite Gruppe jeden Mittag ein Glas Wein und die dritte Gruppe bliebe zur Kontrolle abstinent. Zusätzlich dürften weder die Probandinnen noch die Wissenschaftler wissen, wer in welcher Gruppe ist. Das nennt man Doppelblindstudie.

Ein solche Studie wäre natürlich völlig unethisch – man würde schwere Alkoholschädigungen bei den ungeborenen Kindern riskieren.”

Hinzu komme, so der Hamburger Arzt, dass Alkohol in der Schwangerschaft ein großes Tabuthema sei. Viele Frauen verschwiegen aus Scham getrunken zu haben. Darüber hinaus seien in den Untersuchungen, die die US-amerikanische Professorin angeführt habe, Fragen gestellt worden, die an den Problemen der FAS-Probleme vorbeigingen. Wie alle FAS-Experten weiß auch Schönfeld: “In den IQ-Tests schneiden Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom häufig sehr gut ab. Selbst in der Schule sind sie häufig überangepasst, tragen dem Lehrer die Tasche hinterher.”

Der FAS-Experte Dr. Reinhold Feldmann aus Münster und Supporter unserer Kampagne ergänzt auf Nachfrage zu Oster’s Studienanalyse: “Es reicht deshalb nicht aus, weil man nicht einfach Forschungsergebnisse durchsehen und dann aufzählen kann, nach dem Motto: drei sind dafür, vier dagegen. Es bedarf durchaus fachlicher Kenntnisse, die Studien im Detail zu verstehen und auch zu werten. 

Tatsächlich gab es in letzter Zeit einige Studien, demzufolge geringere Mengen Alkohol sich später beispielsweise bei den Schulnoten der Kinder nicht negativ auswirkten. Die Autoren der Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Alkohol also nicht schädlich sei, solange in geringen Mengen getrunken. Negative Auswirkungen auf die Schulnoten sind aber auch zuvor von niemandem behauptet worden. Bestätigt worden sind hingegen in diesem Kontext, dass es bei geringem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Verhaltensauffälligkeiten, Unruhe, Konzentrationsmangel und Vergesslichkeit kommt.

Das heißt in der Schlussfolgerung: Man muss genau lesen und genau hinschauen. Man muss auch nichts dramatisieren, das ist klar. Aber es gilt weiterhin, dass es für den Alkoholkonsum in der Schwangerschaft keinen sicheren Schwellenwert gibt, das Kind also sicher sei, wenn ein solcher Schwellenwert nicht überschritten würde.”

Außerdem warnt Feldmann vor Bagatellisierung: “Es ist durchaus sinnvoll, das ‘Gläschen’ Alkohol in der Schwangerschaft nicht zu bagatellisieren. Anders als die Autorin Oster behauptet, ist leider gerade diese Bagatellisierung riskant. Was ein Gläschen sei, versteht wohl jede Schwangere anders. Wenn also von einem Gläschen oder einem Schlückchen bagatellisierend die Rede ist, darf man wirklich zurück fragen, wer denn wohl eine Flasche Bier öffnet, um danach ein Schlückchen zu nehmen oder die restliche Flasche Wein nach einem Gläschen wegkippt.” 

*Pediatric Research: Alati et.al.;2008/ Early Human Development: O’Cullighan et al.;2007 / European Journal of Clinical Nutrition: Parazzini et.al.;2003

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Drei FAS-Kinder mit Pflegegrad? – Wir gründen eine Wohngruppe!

“Mein erstes Pflegekind war mit seinen damals drei Jahren wohl Deutschlands jüngster Arbeitgeber”, sagt lachend Anja Bielenberg, Mutter von acht Kindern – fünf leiblichen und drei Pflegekindern. Alle drei Pflegekinder sind vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) in den verschiedensten Facetten betroffen. Aber “alle drei gleichermaßen leiden unter der alkoholbedingten Demenz, die sie merklich beeinträchtigt und selbst stört”, wie sie betont. Alle drei haben Pflegegrad 4 und einen Schwerbehindertenausweis mit 60 Prozent und den Merkzeichen B, G, und H.

Das erste sogenannte Milieukind aus einer norddeutschen Großstadt hat Anja, die in ihrem Haus eine Praxis für Geburtsvorbereitung, Mamahilfe, Hypnose, Doula und FASD-Beratung betreibt, vor 17 Jahren bei sich aufgenommen. Ein Hinweis, das Kind könnte fetale Alkoholschäden haben – Fehlanzeige. Anja selbst wusste zu dem Zeitpunkt auch noch nichts über das FAS. Da das Kind aber nicht aufhöhren wollte zu schreien und sich zu übergeben, “dachte ich, hier stimmt etwas nicht.” 

Nach langen Recherchen im Internet stieß die engagierte Pflegemutter auf einen Bericht über FAS, der sie sofort zum Weinen brachte. Mit ihren Erkenntnissen marschierte Anja zum Jugendamt. Die haben aber nur gefragt, was das denn nun wieder sein soll”, erinnert sich die 52jährige nur allzu gut an die ablehnende und missbilligende Haltung. Heißt: Der Kampf konnte beginnen und sollte Jahre dauern. Anja kam sich vor, als sei ihr Kind das einzige mit FAS auf der Welt. Sie selbst sei so dargestellt worden, als sei sie vom Münchhausen-Syndrom* befallen. 

Inzwischen kann der dreifachen Pflegemutter niemand mehr die Butter vom Brot nehmen. Sie muss auch nicht mehr kämpfen. Sie weiß, was zu tun ist: Sie stellt Anträge, benennt klare Quellen, stellt Forderungen, hinterfragt Antragsabweisungen und scheut sich nicht diese einzuklagen. Selbst die Krankenkasse hat klein beigegeben, als die streitbare Pflegemutter die Anerkennung einer Wohngruppe einforderte. Nach einem ersten “Wie? Eine Wohngruppe für Kinder? Das gibt es nicht. Hier gibt es nur Wohngruppen für Senioren”, musste die Krankenkasse zugestehen: Es handelt sich um einen Rechtsanspruch – egal welchen Alters**.

Voraussetzung für den Anspruch ist, dass die betroffenen Personen wenigstens den Pflegegrad 1 haben. “Aber es sind noch andere Auflagen an den Anspruch geknüpft”, erläutert die Pflegemutter. Beispielsweise muss es einen gemeinsamen Zu- und Hauseingang geben. Außerdem erforderlich: gemeinsame Küche, gemeinsamer Essbereich, gemeinsame sanitäre Anlagen.

Und wie sehen die Leistungen aus, die einer Wohngruppe zugute kommen? 

Anja listet auf: “Es gibt einen Investitionszuschuss für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, die die Wohnstätte bedürfnisorientiert dem Pflegegrad entsprechend ausstattet. Pro Bewohner beträgt dieser 4000 Euro. Außerdem gibt es einen einmaligen Zuschuss für die Gründung der Wohngemeinschaft, der bei 10.000 Euro liegt. “Allerdings”, weißt Anja darauf hin, “muss man für die Leistungen in Vorkasse treten und für die Rückerstattung eine detaillierte Abrechnung vorlegen.” 

Weiter geht es mit laufenden Leistungen: “Ich habe im Namen der Kinder drei Assistenzkräfte im Rahmen des persönlichen Budgets nach § 29 SGB IX*** als 1 : 1-Vollzeitschulbegleiter eingestellt”, so Anja. Da habe dann gleich die Berufsgenossenschaft aufgejault und moniert, dass ein Kind kein Arbeitgeber sein könne. “Doch, kann!”, konstatiert Anja triumphierend.

Zusätzliche Betreuung erhält die Wohngemeinschaft, die sich Schneckenhaus nennt, über § 45 SGB XI.**** Die Pflegemutter: “Es muss eine externe Person sein, die hauswirtschaftliche Tätigkeiten übernimmt, zum Arzt, Therapeuten oder Friseur begleitet. Schließlich kommt noch die Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI hinzu, damit auch ich zum Arzt, zum Friseur, etc. gehen kann und die Kinder während dieser Zeit versorgt sind.”

Das Ganze sei eine Lebensaufgabe, gesteht Anja. Nur so ein bisschen integrativ, das werde nichts. Anja: “Ich habe echt lange gebraucht, bis ich das alles hingekriegt habe und habe wirklich viele graue Haare bekommen. Aber jetzt, nach Jahr sechs, fängt das alles an rund zu laufen. Eines der Kinder geht inzwischen schon in die Werkstätten arbeiten und ich musste dafür noch nicht einmal einen Antrag stellen.” Süffisant sagt die Achtfach-Mutter: “Ich war plötzlich ganz hilflos.”

Aber Spaß beiseite. Man müsse an viele grundsätzliche Dinge denken, die von immanenter Bedeutung seien: “Hat die leibliche Mutter noch das Sorgerecht und man klagt gegen Entscheidungen, zum Beispiel, dass die Diagnose nicht anerkannt wird, und benötigt einen Anwalt, dann muss man den aus der eigenen Tasche bezahlen. Ist man gesetztlicher Vormund des Kindes, dann trägt der Staat die Prozess- und Anwaltskosten.”

Inzwischen sind übrigens alle leiblichen Kinder bis auf das jüngste, das so alt ist wie das erste Pflegekind, aus dem Haus. “Wir haben aber von Anfang an viel Platz gehabt”, erzählt die 52jährige. Es mache sehr viel aus, ob man mit solchen Kindern auf dem Land wohne mit viel Platz und Rückzugsmöglichkeiten. Das erleichtere vieles.

*Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bezeichnet das Erfinden, Übersteigern oder tatsächliche Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen bei Dritten. Zumeist handelt es sich dabei um Kinder. Ziel ist es dabei, eine medizinische Behandlung zu verlangen und/oder um selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden zu übernehmen.

**§ 38a SGB XI Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen

(1) Pflegebedürftige haben Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag in Höhe von 214 Euro monatlich, wenn1.sie mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung leben und davon mindestens zwei weitere Personen pflegebedürftig im Sinne der §§ 14, 15 sind,2.sie Leistungen nach den §§ 36, 37, 38, 45a oder § 45b beziehen,3.eine Person durch die Mitglieder der Wohngruppe gemeinschaftlich beauftragt ist, unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten zu verrichten oder die Wohngruppenmitglieder bei der Haushaltsführung zu unterstützen, und4.keine Versorgungsform einschließlich teilstationärer Pflege vorliegt, in der ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen Leistungen anbietet oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 75 Absatz 1 für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen; der Anbieter einer ambulant betreuten Wohngruppe hat die Pflegebedürftigen vor deren Einzug in die Wohngruppe in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass dieser Leistungsumfang von ihm oder einem Dritten nicht erbracht wird, sondern die Versorgung in der Wohngruppe auch durch die aktive Einbindung ihrer eigenen Ressourcen und ihres sozialen Umfelds sichergestellt werden kann.

***§ 29 SGB IX Persönliches Budget

(1) Auf Antrag der Leistungsberechtigten werden Leistungen zur Teilhabe durch die Leistungsform eines Persönlichen Budgets ausgeführt, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Bei der Ausführung des Persönlichen Budgets sind nach Maßgabe des individuell festgestellten Bedarfs die Rehabilitationsträger, die Pflegekassen und die Integrationsämter beteiligt. Das Persönliche Budget wird von den beteiligten Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht. Das Persönliche Budget kann auch nicht trägerübergreifend von einem einzelnen Leistungsträger erbracht werden. Budgetfähig sind auch die neben den Leistungen nach Satz 1 erforderlichen Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltägliche und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden können. An die Entscheidung sind die Leistungsberechtigten für die Dauer von sechs Monaten gebunden.

(2) Persönliche Budgets werden in der Regel als Geldleistung ausgeführt, bei laufenden Leistungen monatlich. In begründeten Fällen sind Gutscheine auszugeben. Mit der Auszahlung oder der Ausgabe von Gutscheinen an die Leistungsberechtigten gilt deren Anspruch gegen die beteiligten Leistungsträger insoweit als erfüllt. Das Bedarfsermittlungsverfahren für laufende Leistungen wird in der Regel im Abstand von zwei Jahren wiederholt. In begründeten Fällen kann davon abgewichen werden. Persönliche Budgets werden auf der Grundlage der nach Kapitel 4 getroffenen Feststellungen so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann. Dabei soll die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten aller bisher individuell festgestellten Leistungen nicht überschreiten, die ohne das Persönliche Budget zu erbringen sind. § 35a des Elften Buches bleibt unberührt.

****§ 54 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe

(1) Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach § 140 und neben den Leistungen nach den §§ 26 und 55 des Neunten Buches in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung insbesondere1.Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt,2.Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule,3.Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit,4.Hilfe in vergleichbaren sonstigen Beschäftigungsstätten nach § 56,5.nachgehende Hilfe zur Sicherung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen und zur Sicherung der Teilhabe der behinderten Menschen am Arbeitsleben.

Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprechen jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit.

(2) Erhalten behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Menschen in einer stationären Einrichtung Leistungen der Eingliederungshilfe, können ihnen oder ihren Angehörigen zum gegenseitigen Besuch Beihilfen geleistet werden, soweit es im Einzelfall erforderlich ist.

(3) Eine Leistung der Eingliederungshilfe ist auch die Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann. Die Pflegeperson bedarf einer Erlaubnis nach § 44 des Achten Buches.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Weniger ist mehr” – Unsere Berliner Botschafter-Zwillinge blicken zurück auf 2020

“Gerade für uns Menschen mit fetalen Alkoholschäden ist jede neue ungewohnte Situation stressig und kann uns gleich in ein tiefes Loch fallen lassen”, sagt Luise Andrees. Die Befürchtung stand deshalb erst einmal im Raum, als der erste Lockdown ausgerufen wurde. Zumal Luise und ihre Schwester Clara, wie alle anderen Schüler, von jetzt auf gleich ins Homeschooling geschickt wurden und gar nicht gleich realisierten, dass sie von nun an ausschließlich auf sich alleine gestellt von zu Hause würden lernen müssen. 

“Die Zoom-Meetings mit den Lehrern waren nicht wirklich erfüllend für uns, bewirkten eher das Gegenteil, nämlich noch mehr Stress. Es mussten neue Techniken erlernt werden. Wir mussten lernen, mit der neuen Situation umzugehen”, erinnert sich die 27jährige Luise. Und das mitten in der Vorbereitungsphase auf die Abschlussprüfung für ihre Ausbildung zu Heilerziehungspflegerinnen. Eine große Herausforderung für die Zwei.

Zwar sind Luise und Clara Zwillinge und klar war: “Wenn wir jetzt nicht zusammenhalten und uns gegenseitig Kraft und Halt geben, schaffen wir die Prüfungen nicht.” Dennoch ist jeder Zwilling anders mit der Situation umgegangen. Luise: “Clara war diejenige, die sich viel mit ihren Mitschülern ausgetauscht und Fragen gestellt hat. Ich hingegen habe mich eher des Internets bedient und der Schulbücher, die wir gestellt bekommen haben. Ich habe den Austausch mit den Mitschülern per Zoom eher als anstrengend empfunden. Außerdem haben wir uns Hilfe gesucht bei unseren Eltern, Freunden und Bekannten und unserem Vertrauenslehrer.”

Jedenfalls habe sie diese “krasse Phase” des Jahres 2020 gelehrt – egal, was passiere, “der Wille lehrt einen und man schafft dann ganz viel”. So kam es denn auch, dass die beiden ihre Abschlussprüfungen erfolgreich absolviert haben.

Aber nicht nur die veränderten Bedingungen der beruflichen Ausbildung stellte die Zwillinge vor besondere Herausforderungen. Der Lockdown stoppte auch jäh ihrer beider sportliche Freizeitbeschäftigung. Bei Clara der Fußball. Bei Luise das Tischtennis. 

Für Luise war dieser harte Cut besonder schlimm. Sie hatte bis dato nur ihren Sport im Kopf und für fast gar nichts anders mehr Zeit gehabt. “Ich war zuerst sehr traurig und wusste nicht, was ich machen soll. Aber dann merkte ich schnell, dass mir die Zwangspause auch mal gut tut, um zur Ruhe zu kommen. Und diese Ruhe hat mich dazu bewegt mal darüber nachzudenken, dass es auch noch Sachen außerhalb des Sports gibt”, gesteht die junge Frau. Nicht zuletzt merkte Luise schnell, dass, “wenn ich meine Volle-Kanne-Konzentration auf die Schule lege, da viel mehr Produktives und Kreatives herauskommt, als wenn ich Sport und Schule unter einen Hut bringen muss. Es glich fast schon einer Erleichterung.”

Für Clara war der Einschnitt, kein Fußball mehr spielen zu können, nicht so dramatisch. Für sie hatte der Sport ohnehin nur einen Nebenrolle gespielt. Clara war immer schon diejenige gewesen, die länger als ihre Schwester am Schreibtisch gesessen und für Prüfungen gebüffelt hatte, weil sie gemerkt hatte, dass ihre Konzentration nicht reichen würde, sich für beides gleichsam intensiv zu engagieren.

Nicht genug, die Hürde des sportlichen Verzichts genommen und den Abschluss zur Heilerziehungspflegerin geschafft zu haben, Luise gab noch mehr Gas. Sie wollte unbedingt den Führerschein zu machen. Der feste Wille trieb sie an, diesen im Rahmen einer Vollzeit-Intensiv-Woche zu absolvieren. Als das tatsächlich geschafft war, standen dem selbstbestimmten Weg ins Leben sämtliche Türen offen und beflügelte die Zwillinge, einen weiteren einschneidenden Schritt zu gehen. 27 Jahre hatten Clara und Luise immer zusammen gelebt, nun stand an sich zu trennen. Luise wollte mit ihrem Freund zusammen ziehen und Clara allein in der ehemals gemeinsamen Wohnung weiter leben. 

Und so finden Clara und Luise: “Das Pandemie-Jahr 2020 war für uns das Jahr unserer erfüllten Träume!”

Autorin: Dagmar Elsen