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Spielgefährten und Sport ohne Leistungsdruck

“Wer etwas erreichen will, der muss kämpferisch sein”, bringt es Heike Schöffler stellvertretend für alle Eltern mit Kindern, die das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) haben, auf den Punkt. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat selbst ein Kind mit FAS und leitet die Selbsthilfegruppe “FASD Herrenberg” in Baden-Württemberg. Hier hat sie im Laufe der Zeit von all den betroffenen Eltern mitbekommen, dass man sein Recht oft genug sogar nur mit einem Anwalt durchboxen kann.

Das liegt in der Region Herrenberg wie überall daran, dass das FAS nur wenigen Menschen ein wirklicher Begriff ist. Kaum jemand weiß um die Symptome, insbesondere die neurologischen Beeinträchtigungen, die gern als psychologische Verhaltensstörungen diagnosdiziert werden – getreu dem Motto, das wächst sich wieder aus. Im örtlichen Jugendamt bekam Heike Schöffler sogar zu hören, dass FAS eine “Modererscheinung” sei. Eine Schulbegleitung “wegen seelischer Belastung” werde einem Kind mit Autismus zugestanden, einem FAS-Kind nicht, hat Heike Schöffler die bittere Erfahrung machen müssen. Für die engagierte Mutter ein Unding.

Da es bei den 25 Mitgliedern, die Heike Schöffler derzeit in ihrer Kartei gelistet hat, niemanden gibt, der sich nicht permanent im Rechtfertigungsmodus für sein FAS-Kind befindet, tut die Gemeinschaft der Selbsthilfegruppe allen sehr gut. “Hier fühlt sich ein jeder aufgehoben und verstanden”, berichtet Heike Schöffler. Jeder weiß, wie anstrengend die Erziehung eines FAS-Kindes ist. Bei den monatlichen Treffen muss sich deshalb niemand großartig erklären. Hier tauscht man sich aus über die extremen Stimmungsschwankungen der Kinder, die belastenden Wutausbrüche, oder über die Schwierigkeiten Freundschaften zu pflegen. Alle betroffenen Eltern bekommen es am eigenen Leib zu spüren: Mit FAS-Kindern stößt man ständig auf Ablehnung oder Unverständnis.

Von sozialer Isolation sind auch die FAS-Kinder selbst bedroht. Sei es, dass sie im Kindergarten und der Schule von anderen wegen ihres Verhaltens gemieden und nicht nach Hause eingeladen werden. Sei es, dass sie im Sportverein auf Missfallen stoßen, weil sie Schwierigkeiten haben sich an die Regeln zu halten und dem Leistungsdruck nicht standhalten, einem Leistungsdruck, der für andere “völlig normal” ist.

Das Fehlen von Spielkameraden und geeigneter sportlicher Bewegung für ihre Schützlinge hat die Selbsthilfegruppe Herrenberg auf die Idee gebracht, das Projekt “Bewegung ohne Leistungsstress für Kindergarten- und Grundschulkinder mit FAS” aus der Taufe zu heben. Aufgrund persönlicher Kontakte konnte die örtliche Kindersportschule Kiss für dieses Projekt gewonnen werden. Diese steht für eine langfristige und breite motorische Grundlagenausbildung ohne frühe Spezialisierung.

Mit Beginn diesen Jahres wird ca. alle sechs Wochen samstags für zwei Stunden ein fachlich kompetenter Trainer in einer vielseitigen Bewegungslandschaft die Kinder betreuen. Die Eltern treffen sich parallel am selben Ort, besprechen Ihre Themen und sind somit auch greifbar, wenn irgendetwas aus dem Takt gerät.

Das Sportangebot hat noch einen weiteren Aspekt, berichtet Heike Schöffler: “Die Kinder der Sportgruppe lernen sich kennen mit dem Bewusstsein – da sind ja noch andere wie ich. Ich bin nicht allein. Es gibt noch andere, die besonders sind.” Nicht zuletzt bereitet das den Kindern die Möglichkeit, sich unter ihresgleichen auszutauschen.

Möglich geworden sei dieses Projekt, weil die Arbeit der Selbsthilfegruppe FASD Herrenberg über die Selbsthilfeförderung der Krankenkassen gemäß § 20h Sozialgesetzbuch V gefördert wird.

 

Die Selbsthilfegruppe

Wer ist Ansprechpartner der Selbsthilfegruppe FASD Herrenberg?

Heike Schöffler, mail: fasd-herrenberg@web.de, www.fasd-herrenberg.de

Wann und wo finden die Treffen statt?

Jeden 3. Mittwoch im Monat im Klosterhof Herrenberg, Bronngasse 13, 71083 Herrenberg

Wie sind die Treffen gestaltet?

Heike Schöffler: Zu Beginn erzählt jeder Teilnehmende von dem, was ihn derzeit beschäftigt. Daraus ergeben sich zumeist die Themen des Abends. Im Anschluss überlegen wir gemeinsam, ob wir für bestimmte Fragestellungen Referenten einladen, z.B. zum Pflegegesetz Mitarbeiter der Lebenshilfe oder Mitarbeiter der Adoptionsstelle.

Mit welchen vordringlichsten Problemen rund um das Fetale Alkoholsyndrom haben die Menschen aus Ihrer Gruppe am meisten zu kämpfen?

Heike Schöffler: Mit dem Verhalten der Kinder in der Familie, in der Schule, in der Ausbildung. Mit dem Unverständnis im persönlichen Umfeld von wegen “stellt Euch nicht so an, unsere Kinder hatten auch mal solche Phasen”, oder auch “Ihr seid einfach zu streng” und “die Kinder sind schlecht erzogen”. Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen mit den Lehrern der Schulen, die die Probleme nicht wahrnehmen. Die Eltern fühlen sich von den Behörden (Jugendamt, Agentur für Arbeit) allein gelassen. Die Eltern müssen für alles kämpfen, sei es für den Pflegegrad oder die Schulbegleitung. Auch fehlen Ausbildungsangebote und Wohnformen für Jugendliche und junge Erwachsene.

In welchen Bereichen kann die Selbsthilfegruppe Hilfestellung geben?

Heike Schöffler: Wir als begleitende und erziehende Erwachsene wollen uns gegenseitig unterstützen und Lösungen für Probleme suchen. Wir sammeln Informationen und Material und geben das auf Anfrage weiter.*

Was vor allem fehlt an Unterstützung in Ihrem Einzugsgebiet?

Heike Schöffler: FAS-kompetente Therapeuten der verschiedenen Fachrichtungen, Fachärzte für Diagnostik und weiterführende Begleitung, Freizeitangebote für betroffene Kinder und Jugendliche, Unterstützung und Entlastung für die Eltern.

*Über die Selbsthilfegruppenförderungdie federführend von der AOK-Stuttgart-Böblingen koordiniert wird, ist so z. B. ein Aufklärungsbüchlein entstanden für Eltern, die einen Weg suchen, mit ihrem Kind über dessen Handicaps, hervorgerufen durch das Fetale Alkoholsyndrom, zu sprechen – “Jens rennt” ist sein Titel, geschrieben von Heike Schöffler und illustriert von Christiane Heinrichs.

Autorin: Dagmar Elsen

Selbsthilfegruppe Wetzlar: Der sehnliche Wunsch verstanden zu werden, führt sie zusammen

Das Fetale Alkoholsyndrom ist ein Handicap, dessen Anerkennung in Deutschland weder gesetzlich einheitlich geregelt ist, noch von der breiten Gesellschaft wahrgenommen, geschweige denn angenommen wird. FAS-Betroffene und ihre Familien rutschen deshalb nur allzuoft in die soziale Isolation. Es ist ein Leben mit Unsicherheiten und Ängsten, mit denen sie sich alleine fühlen. Ratlosigkeit herrscht vor, wie und wo man Hilfe und Unterstützung finden kann. Um positiv und ermutigend füreinander da zu sein, durch das Wir-Gefühl Mut zu machen und um Hilfsangebote zu vermitteln, gründeten sich in den vergangenen Jahren viele Selbsthilfegruppen.

Eine dieser Selbsthilfegruppen leitet Gabi Schwinn, selbst Mutter einer Tochter mit FAS. Sie ist außerdem Heilpädagogin und arbeitet bei der Suchthilfe Wetzlar. Dort ist sie unter anderem für FAS-Präventionsarbeit an den Schulen Wetzlars und des Lahn-Dill-Kreises zuständig.

Wann und von wem ist die Selbsthilfegruppe gegründet worden?

Gabi Schwinn: Zusammen mit dem leiblichen Vater eines Kindes mit FAS habe ich die Selbsthilfegruppe 2015 gegründet. Dieser ist inzwischen verzogen. Eine Zeit lang gab es nach einem vielversprechenden Start fast ein Jahr lang eine „Durststrecke“. Seit einiger Zeit haben wir einen festen Stamm von elf Mitgliedern aus dem Einzugsgebiet von Marburg über Dillenburg bis nach Weilburg. Ein Mitglied ist auch wieder leiblicher Vater eines FAS-Kindes. Leibliche Mütter sind selten, weil die Scham vor dem Schuldeingeständnis groß ist. Deswegen sind vor allem Pflege- und Adoptiveltern mit von der Partie.

Wer ist eingeladen, zur Selbsthilfegruppe hinzu zukommen?

Gabi Schwinn: Alle Menschen die vom Fetalen Alkoholsyndromin irgendeiner Form betroffen oder damit konfrontiert sind.

Was hat den Anstoß gegeben, die Selbsthilfegruppe zu gründen?

Gabi Schwinn: Der Wunsch nach Austausch, weil FASD eine Herausforderung ist. Hilfe muss man meist selbst organisieren. Das betrifft unter anderem die Beantragung eines Behindertenausweises, die Suche und das Finden geeigneter ärztlicher Anbindung, geeigneter Einrichtungen, wenn es zu Hause nicht mehr geht, und die Entscheidung für die richtige Schulform.

Wie gestalten Sie diese Treffen?

Gabi Schwinn: Wir haben ein Zeitfenster von zwei Stunden. Wir sitzen zusammen, es gibt etwas zu trinken und kleine Snacks.

Setzen Sie Themen oder lassen die dem Treffen freien Lauf?

Gabi Schwinn: Inzwischen haben wir feste Themen – beim letzten Treffen war meine Tochter dabei und hat den Eltern von jüngeren Kindern erzählt, z.B. wie es sich anfühlt als Betroffene mit FASD zu leben. Das nächste Mal wird es darum gehenwie Eltern es schaffen sich besser abzugrenzen.

Was sind die vorwiegenden Gründe der Menschen, die die Selbsthilfegruppe aufsuchen?

Gabi Schwinn: Häufig die anfängliche Unwissenheit über FASD und der Wunsch nach „Verstandenwerden“.

Mit welchen vordringlichsten Problemen rund um FAS haben die Menschen aus ihrer Gruppe am meisten zu kämpfen?

Gabi Schwinn: Das Unverständnis und die mangelnde Bereitschaft der Umwelt – vor allem Lehrer- sich mit dem Verhalten der Betroffenen auseinanderzusetzen. Und das bezieht sich auf Lehrer aller Bildungseinrichtungen. Es ist eben eine Frage der Haltung. Um ein Beispiel zu nennen: Meine Tochter war auf der Schulfür geistige Entwicklung nach Meinung der Lehrerin nicht beschulbar und sollte täglich früher abgeholt werden. Ein Lehrerwechsel änderte alles. Inzwischen managt sie sogar ganz allein jeden Donnerstag die Schulbibliothek.

FAS ist Menschen schwer zu vermitteln, wenn diese nicht verstehen wollen, dass FAS nicht “weg-zu-erziehen” geht. Dem Spagat, den Betroffenen gerecht zu werden, gleichzeitig nicht alle Regeln aufzuweichen, benötigt Gelassenheit, Kreativität und die Bereitschaft, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die nicht ins übliche Schema passen.

In welchen Bereichen können Sie Hilfestellung geben?

Gabi Schwinn: Anlaufstellen nennen, Basisinformationen geben, Verständnis zeigen

Wo treffen Sie sich?

Gabi Schwinn: In den Räumen der Suchthilfe Wetzlar e.V., die uns kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Wie oft finden die Treffen statt?

Gabi Schwinn: Ein Mal im Monat in der Regel den zweiten Dienstag um 19.30 Uhr. Es gibt aber durch Ferien und Feiertage immer mal wieder Abweichungen. Deshalb macht es Sinn, sich vorher zu informieren. Wir legen die Termine stets zu Beginn des Jahres fest.

Wer gerne zur Selbsthilfegruppe Wetzlar hinzu kommen möchte, kann sich per email an Gabi Schwinn wenden: gabriele_schwinn@t-online.de

Autorin: Dagmar Elsen