Zehn Jahre emotionale Achterbahnfahrt
Die Geschichte der Familie Schubert aus Bremerhaven ist eine, bei der man sich schwer tut mit der Entscheidung: Welcher Aspekt ist der wichtigste und gehört in die Headline? Ist es die beeindruckende und für andere mutmachende Tatsache, dass das Ehepaar Sabine und Michael Schubert gleich drei Pflegekinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom aufgenommen hat? Ist es die Tragödie, eines dieser Kinder im Alter von 10 Jahren tränenreich weggegeben haben zu müssen, weil die Zustände die Familie fast auseinander gesprengt haben?
Oder ist es der unglaubliche Vorwurf an das Jugendamt, bewusst verschwiegen zu haben, dass die leibliche Mutter des damals drei Monate alten Babys nicht nur Drogen, sondern auch reichlich Alkohol getrunken hat, um eine Akte weniger zu haben? Es könnte auch der Kampf der Eltern gegen den Sinneswandel der Behörden sein, FAS sei eine Modediagnose. Eltern wollten ihr Kind krank machen, nur um Geld abzusahnen. Dabei sei es vielmehr so, dass sie offensichtlich als Eltern versagt haben?
Auch folgende Aussage von Sabine Schubert ist von enormer Tragweite, da Hoffnung für Pflegeeltern und FAS-Kinder gleichermaßen: “Es war für uns undenkbar, noch einmal ein FAS-Kind anzunehmen. Und jetzt bin ich total glücklich. Von Bethel im Norden bekommen wir eine selbstverständliche Unterstützung, die ich mir für andere Eltern und ihre Kinder nur wünschen kann. Hätten wir die von Anfang an gehabt, wäre alles anders gekommen.”
Die emotionale Achterbahnfahrt der Schuberts beginnt im Krankenhaus von Bremerhaven im Mai 2005. Sabine bekommt von einer Sozialarbeiterin ein drei Monate altes süßes Baby in den Arm gelegt. Diese erklärt den freudigen und aufgeregten Pflegeeltern, dass es sich um das Kind einer drogenabhängigen Frau handele. “Von Alkoholkonsum der Mutter kein Wort”, erinnert sich Sabine. Mit der Liebe einer Familie würden sich solche Kinder ganz normal entwickeln, habe die Sozialarbeiterin prophezeit. “Plötzlich machte diese Druck”, weiß Sabine noch ganz genau, “sie forderte uns auf, dass wir uns sofort entscheiden müssten, da es eine Menge anderer Paare gäbe, die Schlange stünden, das Kind haben zu wollen.” Mit einem süßen Baby im Arm, wer sage da schon nein, fragt die leidenschaftliche Vollzeit-Mama.
Das süße Baby Anna* entwickelt sich zu einem sehr hübschen, aber nicht zu einem “normalen” Mädchen. Es ist hochaggressiv mit einer Neigung zu gewalttätigen Übergriffen und überdurchschnittlich intelligent. Eine für FAS eher ungewöhnliche Kombination – mit fatalen Folgen. Anna kann täuschen und manipulieren, dass sogar Fachleute auf sie hereinfallen. Jugendamt, psycho-sozialer Dienst schenken den Eltern des vordergründig sprachgewandten, hilfsbereiten und höflichen Mädchens keinen Glauben. Immer wieder heißt es “Sie versagen als Eltern”, erzählt Sabine. Bei einem Polizeieinsatz im trauten Familienheim ziehen die Polizisten kopfschüttelnd wieder ab, weil sie den Eltern nicht glauben wollten, dass dieses liebe Mädchen derart gewaltbereit ausgerastet sein sollte, dass die Eltern und der inzwischen hinzu gekommene Pflegesohn Taylor* um ihr Leben fürchteten.
Bis zu diesem Zeitpunkt, als sich sowohl tags als auch nachts nur noch Randale abspielte, hatten die Schuberts schon eine lange Odysee hinter sich, Unterstützung für ihr Kind zu bekommen. “Ich hatte von einer Studie der Uni Münster gelesen, bei der es um die geistige Entwicklung von Drogenentzugskindern ging”, erzählt Sabine. So lernte das Ehepaar 2008 den FAS-Spezialisten Dr. Reinhold Feldmann kennen. Die FAS-Diagnose für Anna folgte auf dem Fuße. “Wir kontaktierten die leibliche Mutter”, berichtet die heute 39jährige. Diese habe sich sehr ehrlich und auskunftsfreudig gezeigt und zum Nachweis alles aufgeschrieben, was sie an Drogen konsumiert hatte. Auf der Liste stand neben Tabletten, Reinigungsmitteln, diversen anderen Drogen auch Alkohol. Trotz Vorlage dieses Nachweises und eines Gutachtens Dr. Feldmanns verlautete es beim Jugendamt Bremerhaven: FAS ist eine Modeerscheinung. Sie wollen Ihr Kind nur krank machen, um sich Vorteile zu erschleichen. Den Pflegeeltern stockte der Atem. Starker Tobak. Bei diesen Kommentaren verpuffte die Erleichterung über die FAS-Diagnose, die den Eltern bescheinigte, nicht schuld an den schweren Verhaltensstörungen des Kindes zu haben, allzu schnell.
Es wandten sich auch Freunde und Familienmitglieder ab, solche die meinten: Lasst’ das Kind doch einfach mal sein wie es ist. Das Ehepaar Schubert solidarisierte sich mit anderen Pflegeeltern. “Untereinander müssen wir uns nichts erklären. Jeder versteht den anderen”, sagt Sabine. Sie und ihr Mann kämpften weiter. Für Anna. Und für sich selbst als Familie. “Wer gibt schon gern sein Kind wieder weg? Wer gesteht schon gerne ein, dass er es nicht geschafft hat?”, bekennen die Eltern.
Zehn Jahre dauerte der Kampf, der einer Zerreißprobe gleich kam. In der Zwischenzeit hatten die Schuberts ein weiteres Pflegekind angenommen, einen neun Monate alten Jungen, von dem bekannt war, dass seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hatte. Taylor bekamen die Schuberts über den Hamburger Förderverein für Pflegekinder und ihre Familien Pfiff***. “Wir dachten, ein ‘normales’ Kind würde nicht passen”, erklärt Sabine, die mit großer Leidenschaft Mutter ist. Taylor ist normal intelligent und alles andere als aggressiv. Er verspürt keinen inneren Druck wie seine Schwester, die in allem immer die Beste sein will. Und er teilt für sein Leben gern. “Nicht wie Anna”, erzählt die Mutter, “die schon völlig ausgerastet ist, wenn man ihr Lego nur von weitem angeschaut hat.”
Mit Taylor und “Pfiff” erlebt das Ehepaar, wie es auch anders geht. Die Diagnose wird ohne Misstrauen und Diskussionen anerkannt. Die Einrichtung weiß um die Bedeutung und Schwere der Beeinträchtigungen durch FAS. Lediglich als Taylor eingeschult wird, müssen die Schuberts um eine Schulassistenz kämpfen, was aber daran liegt, dass die Zuständigkeit inzwischen nicht mehr in der Hand von Pfiff liegt.
Das Leben mit Anna indes bleibt schwierig und turbulent. Dr. Feldmann zieht die Notbremse und vermittelt 2014 eine vollstationäre Therapie über fünf Wochen bei seiner renommierten Kollegin Dr. Heike Hoff-Emden, die das Sozialpädiatrische Zentrum in Leipzig leitet. An deren Ende entsteht ein eindrucksvolles Gutachten, das die ernüchternde Klarheit bringt: Das Mädchen wird höchstwahrscheinlich die Familie sprengen. Ein Notfallplan wird erstellt, der beinhaltet, dass Anna beim nächsten Übergriff die Familie verlassen muss. Der ultimative Showdown lässt nicht lange auf sich warten. Anna muss von jetzt auf gleich zu einer Notpflegemutter. Auch da kommt es nach wenigen Tagen zur Eskalation. Anna, wieder einmal in unbändiger Wut, will dem anderen Pflegekind, einem Baby, mit dem Messer den Kopf abschneiden. “Das Baby war ihr zu laut”, erzählt ihre Pflegemutter, um klar zu stellen, was bei Anna ausreicht, um völlig auszurasten.
“Jetzt endlich glaubte uns das Jugendamt”, berichtet Sabine. Schweren Herzens verabschieden sich die Schuberts von ihrem ersten Kind, das in einer Wohngruppe untergebracht wird, bleiben aber ihre sorgenden Eltern. Das werde sich auch nicht ändern, versichert Sabine. Aber dass Anna irgendwann wieder nach Hause zurückkehren kann, halten die Schuberts für ausgeschlossen.
Inzwischen haben die Schuberts, die mit Leib und Seele Pflegeeltern sind, noch ein alkoholgeschädigtes Kind angenommen: den nunmehr zwei Jahre alten Joel. “Acht Wochen dauerte der Entzug in der Klinik”, erzählt Sabine, “ich hatte ihn den ganzen Tag am Körper, er brauchte permanente Nähe”. Ihn vermittelte die Organisation Bethel im Norden. “Die kümmern sich um alles, so, als wäre Joel ihr eigenes Kind, es gibt keine Diskussionen um Fördermaßnahmen oder entlastungsfreie Stunden für die Eltern”, schwärmt die engagierte Mutter und mutmaßt: “Wenn ich das bei Anna gehabt hätte, wäre alles anders gekommen.” Das belastet Sabine Schubert immer noch. Außerdem auch die Tatsache, dass für Pflegekind Taylor inzwischen das Jugendamt Bremerhaven zuständig ist. Seitdem heißt es wieder kämpfen, kämpfen kämpfen; zur Zeit gerade um die Fortsetzung der Schulassistenz. Dennoch kann Sabine Schubert mit voller Inbrunst sagen, dass sie glücklich ist.
*Die Namen der Kinder sind geändert
**Bethel im Norden (www.bethel-norden.de) gehört zu den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
*** Pfiff für Pflegekinder und ihre Familien e.V. (www.pfiff-hamburg.de)
Autorin: Dagmar Elsen