Schützt das Bundesverfassungsgericht Pflegekinder nicht mehr? Sind Pflegekinder „Kinder 2. Klasse“?
Bundesverfassungsgericht, Kammerentscheidung vom 28.08.2023 – 1 BvR 1088/23 –
In dem vorliegenden Fall mussten die ursprünglichen Pflegeeltern von jetzt auf gleich auf einer Autobahnraststätte das vier Jahre alte Kind an andere Pflegeeltern übergeben. Die neuen Pflegeeltern seien erzieherisch besser geeignet. Das Kind der drogenabhängigen leiblichen Mutter war im integrativen! Kindergarten extrem verhaltensauffällig gewesen. Zu Hause nicht. Unterstützende Maßnahmen, etwa eine Assistenz für den Kindergarten, waren vom Jugendamt nicht ins Auge gefasst worden. Die Verfahrensbeiständin hatte berichtet, dass das Kind bei ihrem Besuch bei den neuen Pflegeeltern geäußert habe wieder „nach Hause zu wollen“.
Professor Dr. jur. Ludwig Salgo aus Frankfurt am Main und der vielen Pflegefamilien bekannte Rechtsanwalt Peter Hoffmann aus Hamburg üben scharfe Kritik an der Entscheidung der Bundesrichter, die weitreichende Folgen hat: “Wenn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Einleitung einer Wende im Schutz von Pflegekindern darstellen soll, dann wäre das eine fatale Entwicklung: Wollen doch die jüngsten rechtspolitischen Maßnahmen gerade den Kontinuitätsbedürfnissen dieser vulnerablen Gruppe von Kindern gerecht werden. Daher sollten zunächst Hilfe und Unterstützung angeboten und erbracht werden und eine Trennung des Kindes von seinen Hauptbezugspersonen erst erfolgen, wenn die konkret festgestellte Gefährdung nicht anders abgewendet werden.”
Der Gastbeitrag:
In der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 79/2023 vom 07.09.2023 heißt es, wenn zu erwarten sei, dass dem Wohl des Kindes mit einem Wechsel der Pflegefamilie trotz des Bindungsabbruchs zu den bisherigen Pflegeeltern eher gedient sei, setzten sich die Interessen des Kindes gegen die seiner vormaligen Pflegeeltern durch. Diese Positionierung ist mit der bisherigen Senats- und Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu vereinbaren.
1. Zum Sachverhalt
Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sowie aus den Beschlüssen der Vorinstanzen lässt sich bereits der Sachverhalt nicht deutlich feststellen. Der dort dargestellte Sachverhalt wirft Fragen auf und lässt erhebliche Zweifel offen, ob die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht nachgekommen sind bzw. ob nicht erhebliche Auslassungen erfolgten:
- – Das Kind ist im September 2018 geboren. Aufgrund des Drogenkonsums der Mutter kam es mit starken Entzugserscheinungen zur Welt und musste in den ersten 5 Wochen seines Lebens einen Entzug durchleben. Seit Anfang November 2018 lebte das Kind in einer Bereitschaftspflegefamilie.
- – Im Alter von 5 Monaten wechselte das Kind zu seinen Pflegeeltern, bei denen es dann 4 Jahre lebte.
- – Aufgrund des Drogenkonsums (Polytoxikomanie) der Mutter in der Schwangerschaft hat das Kind Entwicklungsverzögerungen.
- – Im Alter von 1,5 Jahren ist das Kind im SPZ diagnostiziert worden (Mai 2020) mit leichter Entwicklungsverzögerung, kurzer Aufmerksamkeitsspanne sowie einer motorischen Unruhe. Das SPZ stellte „einen sehr fürsorglichen und liebevollen Umgang“ der Pflegeeltern mit dem Kind fest, sowie dass das Kind stetig Präsenz der Pflegeeltern einfordere. Das SPZ beriet die Pflegeeltern im Umgang mit dem Kind, auch dahingehend, dass sie aufgrund seiner Regulationsschwierigkeiten stark als äußerer Taktgeber fungieren und viel Struktur schaffen müssen. Das SPZ stellt fest, dass die
Pflegeeltern dies gut annehmen und auch teilweise schon umgesetzt hätten. Dieser Bericht lag den Gerichten vor.
- – Ab dem Alter von 2 Jahren besuchte das Kind an 4 Tagen die Woche eine Krippe für 4 Stunden, später auch etwas länger. Die Leiterin beschreibt, dass die Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern sehr positiv verlaufen sei. Sie seien freundlich, ehrlich und warmherzig. Sie würden das Kind in seinem ganzen Wesen annehmen und bestärken. Über etwaige Schwierigkeiten habe sie mit ihnen immer offen sprechen und gemeinsam einen Weg finden können, das Kind zu (be)stärken und auf seine individuellen Bedürfnisse sensibel einzugehen. Ihre Erziehungsfähigkeit könne sie nur als kompetent bezeichnen. Dieser Bericht lag den Gerichten vor und wurde nicht erwähnt.
- – Im Alter von 2,5 Jahren (April 2021) ist das Kind zum zweiten Mal im SPZ vorgestellt worden. Im Bericht heißt es, das Kind habe sich „erfreulich weiterentwickelt“, der Wortschatz erweitere sich kontinuierlich. Das Kind sei motorisch weiter unruhig, mit wenig Ausdauer und lasse sich leicht ablenken. Dieser Bericht lag den Gerichten vor und wurde nicht erwähnt.Neuere SPZ-Berichte lagen nur Jugendamt und Vormund vor, die sie im einstweiligen Anordnungsverfahren jedoch nicht vorlegten und von den Gericht auch nicht angefordert wurden.
- – Als das Kind 2 Jahre und 8 Monate (Mai 2021) alt war, fand der letzte Hausbesuch des Vormundes in der Pflegefamilie und der erste und letzte Hausbesuch der zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin bei der Pflegefamilie statt.
- – Im Alter von 3 Jahren (September 2021) kam das Kind in einen integrativen Kindergarten und es sollte der Integrativstatus geprüft werden.
- – Im Hilfeplanprotokoll von Februar 2022 heißt es, dass sich die „Pflegeeltern engagiert für die Belange des Kindes [einsetzen] und auch viele Termine an unterschiedlichen Stellen wahrnehmen. Das Pflegeverhältnis ist auf Dauer angelegt.“ Dieser Bericht lag den Gerichten vor und wurde nicht erwähnt.
- – Ab dem Frühjahr 2022 erhielt das Kind Frühförderung einmal die Woche im Haushalt der Pflegeeltern. Eine Frühförderung dient der spielerischen Förderung der motorischen und sprachlichen Entwicklung des Kindes – nicht der Beratung der Pflegeeltern.
- – Der Kindergarten berichtete den Pflegeeltern immer wieder von problematischem Verhalten des Kindes, er störe die Gruppe etc. Die Pflegeeltern kannten diese Verhaltensweisen von zuhause nicht. Sie baten um Unterstützung und Beratung.
- – Das Kind hat – entgegen den Ausführungen des BVerfG – trotz fachlicher Empfehlung im Kindergarten zu keinem Zeitpunkt eine kontinuierliche 1:1-Betreuung (Integrationshelfer) erhalten.
- – Die Heilpädagogin der Frühförderung berichtete Ende des Jahres 2022, das Kind nehme eine gute Entwicklung in der Pflegefamilie. Anfangs sei das Kind sehr offen, regelrecht stürmisch und distanzlos gewesen. Durch die gestärkte Beziehung zu den Pflegeeltern zeige es sich zuletzt etwas entspannter und konzentrierter. Das Kind fordere viel Rückmeldung, Begleitung und Aufmerksamkeit ein. Der vertraute und reizreduzierte Rahmen in der Pflegefamilie komme ihm bei den Angeboten immer wieder sehr entgegen. Schließlich erklärte sie, dass die Pflegeeltern sich in den Konflikten mit dem Kindergarten ohnmächtig und hilflos fühlen würden.
- – Im Herbst 2022 wollte der Kindergarten die Betreuungszeit des Kindes von bis nach dem Mittagessen (4 Stunden 45 Minuten) auf bis vor dem Mittagessen kürzen. Die Pflegeeltern waren hiermit nicht einverstanden, weil sie nicht wollten, dass das Kind ausgeschlossen wird. Sie baten um Unterstützung. In einer zugespitzten Situation sagten die Pflegeeltern, dass wenn sie sich aus der Betreuung des Kindes auch so herausziehen würden, wie der Kindergarten, müsse das Kind wohl ins Heim. Sie stellten aber gleichzeitig klar, dass sie ihn weiter betreuen und sich für ihn einsetzen wollen. Sie ließen sich nach wenigen Tagen auf die frühere Abholzeit ein. Da die Pflegeeltern der früheren Abholzeit nicht umgehend zustimmten, wurde ihnen vorgeworfen, dass sie die Bedarfe des Kindes verkennen.
- – Im Februar 2023 teilten Vormund und Jugendamt der Pflegefamilie mit, dass das Kind nun binnen 10 Tagen in eine andere Pflegefamilie wechseln soll. Diese sei „professionell“ und könne besser mit den Verhaltensweisen des Kindes umgehen.Zu diesem Zeitpunkt hatten Jugendamt und Vormund die Pflegefamilie seit 1 Jahr und 9 Monaten nicht zuhause besucht. Der Vormund hatte das Kind in dieser Zeit einmal im Sommer 2021 beim Arzt und einmal im Januar 2023 im Kindergarten gesehen.
- – Der Kinderarzt erklärte im Februar 2023, dass das Kind gut in die bisherige Pflegefamilie eingebunden und es für das Kind wichtig sei, dass diese Bindung aufrechterhalten werde. Seine gute Entwicklung in der Familie rechtfertige eine Herausnahme nicht. Der Bericht lag den Gerichten vor.
2.
- – Die Pflegeeltern beantragten beim Familiengericht eine Verbleibensanordnung im Wege der einstweiligen Anordnung. Am darauffolgenden Tag beantragte der Vormund die sofortige Herausgabe des Kindes. Das Familiengericht gab dem einstweiligen Herausgabeantrag des Vormundes noch am selben Tag ohne mündliche Verhandlung und somit ohne jede Amtsermittlung statt. Eine akute massive Gefahr für das Kind in der Pflegefamilie, welche die sofortige Herausnahme rechtfertigen würde, war weder seitens des Vormundes vorgetragen noch seitens des Gerichts festgestellt.Ebenfalls an diesem selben Tag forderte der Vormund die Herausgabe des Kindes. Die Übergabe erfolgte an einer Autobahnraststätte. Seither lebt das Kind in der neuen Pflegefamilie.
- – Mit der Herausnahme ist der Kontakt zwischen der bisherigen Pflegefamilie und dem Kind abgebrochen. Umgangskontakte fanden nicht statt.
- – Die leibliche Mutter setzt sich seit der Herausnahme des Kindes dafür ein, dass ihr Kind zu den Pflegeeltern, bei denen es 4 Jahre lebte, zurückkehrt. Sie legte auch Beschwerde gegen den einstweiligen Herausgabebeschluss des Amtsgerichtes ein. Das BVerfG erwähnt dies nicht.
- – Die Verfahrensbeiständin berichtete im April 2023 im Beschwerdeverfahren, dass das Kind die bisherigen Pflegeeltern sehen möchte und endlich wieder „nach Hause“ will. Dies wurde in keiner Entscheidung erwähnt.
- – Im Mai 2023 teilte das Jugendamt in einer mündlichen Verhandlung in einem Parallelverfahren am Amtsgericht mit, dass die neue Pflegefamilie die Betreuung des Kindes aufgrund beruflicher Verpflichtungen nicht leisten könne, wenn es nicht bald für täglich 5 Stunden, also bis nach dem Mittagessen, einen Kindergarten besuche. Das Protokoll dieser Verhandlung lag dem BVerfG vor.Grundlegende Senatsentscheidungen zu Pflegekindern
Zu Kindern, die wegen Gefährdung aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen und zu ihrem Schutz in Pflegefamilien untergebracht werden, hatte sich das Bundesverfassungsgericht in richtungsweisenden Senatsentscheidungen (8 Richter) in der Vergangenheit grundlegend geäußert.
In der Senatsentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1984 hat es die Bindungen zwischen Pflegekind und Pflegeeltern anerkannt und folglich auch die Pflegefamilie mit dem Kind unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 3 GG gestellt.1 Bei einer Interessenkollision ist das Kindeswohl bestimmend (a.a.O., 188).
In einer weiteren Senatsentscheidung aus dem Jahr 1987 hat das BVerfG die Trennung kleiner Kinder von ihren unmittelbaren Bezugspersonen (Pflegeeltern) als ein Vorgang mit erheblichen psychischen Belastungen für das Kind und mit einem schwer bestimmbaren Zukunftsrisiko erkannt (a.a.O. 219).2 Ein Wechsel von einer Pflegestelle in eine andere ist daher nur zulässig, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen und physischen Schädigungen verbunden sein kann (a.a.O. 220). (Bei einem Wechsel in die Herkunftsfamilie gelten andere Maßstäbe.)
Bis in die jüngste Zeit hinein haben die Kammerentscheidungen (3 Richter) die früheren Senatsentscheidungen hinsichtliches den Schutzbedarfs des Kindes in der Pflegefamilie bestätigt.
Auch der Neunte Familienbericht (2020) hebt die Vulnerabilität dieser Kinder aufgrund der oft hohen Traumaexposition vor ihrer Fremdplatzierung hervor und weist darauf hin, „dass, je länger Pflegeverhältnisse andauern, der Einfluss der Pflegeeltern auf das weitere Leben der Kinder umso bedeutender wird und tragfähige Bindungen des Pflegekindes in seiner sozialen Familie umso eher entstehen können, deren Aufbau sich gerade angesichts der vielfältigen negativen Erfahrungen als bedeutsamer Schutzfaktor für seine Entwicklung erweist“ (BT- Drucks. 19/27200, 99).
Für Pflegekinder, die seit längerer Zeit in einer Pflegefamilie leben und sich dort emotional verankert haben, bedeutet das, dass es für ihre Entwicklung elementar wichtig ist, dass diese emotionale Bindung aufrechterhalten wird. Deren Abbruch soll, insbesondere dann, wenn lediglich ein Pflegestellenwechsel geplant ist, nur erfolgen, wenn für das Kind eine konkrete Gefährdung in der aktuellen Pflegefamilie besteht, die nicht anders als durch die Herausnahme abgewendet werden kann. Andernfalls kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die Trennung des Kindes von seinen sozialen Eltern mit insbesondere psychischen Schäden verbunden sein kann.
3. Missachtung der Senatsentscheidungen: Keine Feststellung einer Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie
Mit der jetzigen Kammerentscheidung wird zwar auf die eben genannten Entscheidungen Bezug genommen, jedoch deren Inhalt konterkariert. Offenbar soll der dort definierte
1 BVerfG, 17.10.1984 – 1 BvR 284/84. 2 BVerfG, 14.04.1987 – 1 BvR 332/86.
Kinderschutz keine Geltung mehr haben.
Denn es wird eine Entscheidung der Vorinstanzen bestätigt, mit der ein Kind aus einer Pflegefamilie herausgenommen wurde, die aus seinen einzigen Bindungspersonen besteht, ohne dass eine Kindeswohlgefährdung festgestellt ist. Der einstweilige Herausnahmebeschluss erging sogar ohne mündliche Verhandlung, somit ohne jede Amtsermittlung, und dies ohne dass eine massive, akute, gegenwärtige Gefahr für das Kind der Familie konkretisiert worden ist, die eine solch drastische Maßnahme rechtfertigen könnte. Es wurden eine Gefährdung behauptet und pauschal mit Differenzen zwischen dem Hilfesystem und den Pflegeeltern begründet. Ein konkreter bereits eingetretener oder drohender Schaden für das Kind durch das Erziehungsverhalten der Pflegeeltern wird nicht benannt.
Die Feststellung einer Gefährdung erfordert jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Gefährdung nach Schwere und Art konkretisiert werden muss. Wegen mangelnder Konkretisierung der Gefährdung hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder fachgerichtliche Entscheidungen der Familiengerichte aufgehoben. Weder aus der vorangegangenen Entscheidung des OLG Nürnberg (10 UF 360/23) noch aus der BVerfG- Entscheidung lässt sich eine Kindeswohlgefährdung im Sinne der ständigen Definition des BVerfG entnehmen, die eine solche Herausnahme jedoch voraussetzen würde. Es finden sich lediglich pauschale Behauptungen und nicht belegte Annahmen.
Ohne Rüge einer Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes führt das BVerfG nun aus, es komme nicht »darauf an, ob das Kind bei einem Verbleib in bzw. bei einer Rückführung in den Haushalt der Beschwerdeführenden konkret gefährdet wäre«. Gleichzeitig zitiert das BVerfG die Senatsentscheidung BVerfG 75, 201, die das Gegenteil ausführt, wonach eine konkrete Feststellung der Gefährdung stets erforderlich ist (siehe oben). Anschließend führt das BVerfG aus, es müsse die mögliche Gefährdung durch die Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie gegen eine »prognostisch erhebliche Gefährdung eines Verbleibs« abgewogen werden. Also kommt es doch auf die Gefährdung an? Diese ist jedoch gar nicht konkretisiert worden.
Sollte es eine Gefährdung in der bisherigen Pflegefamilie gegeben haben: Welche Hilfen wurden dieser Pflegefamilie als milderes Mittel gegenüber einer Herausnahme angeboten? Dazu findet sich nichts.
Die abwertende Haltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Pflegeeltern ist irritierend. Ihnen wird vorgehalten, nicht im Interesse des Kindes zu handeln. Gleichzeitig bleibt bis zuletzt ungeklärt, worin sich dieser Vorwurf begründet und was den massiven Eingriff in das Familienleben in die für das Kind so wichtige soziale Familie begründet, zumal gerade der Schutz der Bindung des Kindes in der Pflegefamilie ein zentrales Moment des Kinderschutzes ist.
Soweit die Entscheidung des BVerfG sich mit dem Hinweis auf die schwächere grundrechtliche Position von Pflegeeltern gegenüber Herkunftseltern auf den Beschluss des BGH XII ZB 328/15 bezieht, ist jener Beschluss in der Entscheidung unvollständig zitiert. Denn der BGH verweist darauf, dass im dortigen Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht »bei dem Pflegekind eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG bejaht wurde (BVerfG FamRZ 1989, 31, 33).« (BGH v. 20.11.2016, Rn. 26). Es waren dort konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie festgestellt worden, die dem Beschluss zu entnehmen sind. Im Zusammenhang mit der Prüfung der Verletzung der Grundrechtsposition von Pflegeeltern durch Herausnahme des Kindes ist nach ständiger Rechtsprechung die Verletzung des Pflegekindes in seinen Rechten aus Art. 1 i.V.m. Art. 2 GG auf Erhalt seiner schützenswerten Bindungen unmittelbar zu prüfen. Diese sollen nur bei konkret festgestellter, nicht anders abwendbarer Kindeswohlgefährdung abgebrochen werden.
Zudem ist hier der Wechsel eines Kindes, das mehrere, sogar die für die Bindungsentwicklung entscheidenden Jahre in der Pflegefamilie verbracht hat, nicht in die Herkunftsfamilie, sondern in eine andere, für das Kind bislang fremde Pflegefamilie erfolgt. Sofern die Herausnahme eines in der Pflegefamilie emotional verankerten Pflegekindes zum Zwecke der Unterbringung in einer für es bislang fremden Familie mit geringeren Anforderungen erfolgen dürfte, als die Herausnahme eines Kindes aus der Herkunftsfamilie, bedeutet dies eine Benachteiligung von Pflegekindern gemäß Art. 3 Abs. 1 GG. Denn der Schutz auf Erhalt ihrer sozialen Familie und ihrer Bindungen wäre geringer als bei Kindern in der Herkunftsfamilie. Sie wären auch unnötigen Abbrüchen schutzloser ausgeliefert.
4. Entwicklungsbedürfnisse von Pflegekindern
Zu berücksichtigen ist die Realität von Pflegekindern: Die überwiegende Mehrzahl von Pflegekindern haben traumatisierende Erfahrungen gemacht und haben deshalb erhebliche Probleme. Die Bewältigung der oft bestehenden Verhaltensauffälligkeiten der Pflegekinder begründet den besonderen Schutz- und Unterstützungsbedarf für das Kind sowie für seine soziale Familie. Hierzu zählt insbesondere unberechtigte, die Lebenskontinuität der Kinder missachtende Entscheidungen zu vermeiden.
5. Keine Berücksichtigung von Kindeswohl und Kindeswille
Mit dem Hinweis, dass die vorliegende Ablehnung einer Verbleibensanordnung das Familiengrundrecht der bisherigen Pflegeeltern nicht verletze, verkennt die Entscheidung, dass in diesem Zusammenhang zwingend die Frage der Verletzung des Kindeswohls im Rahmen des Schutzanspruchs des Kindes aus Art. 2 GG zu prüfen gewesen wäre. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Auch zum Kindeswillen findet sich nichts. Dazu passt es, dass eine –gesetzlich zwingende – Kindesanhörung vom Oberlandesgericht nicht durchgeführt und dieses vom BVerfG auch nicht beanstandet wurde.
Der Anspruch des gut in die Pflegefamilie integrierten Kindes gegen den Staat auf Sicherung der Kontinuität in der Erziehung und der gewachsenen Bindungen zu seinen sozialen Eltern wurde verweigert, ohne dass eine Gefährdung i.S.d. §§ 1666, 1666a BGB oder auch nur Beeinträchtigung der Entwicklung des Kindes in der Pflegefamilie konkret festgestellt wurde. Dies bedeutet, dass der Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 GG mit der Begründung abgesenkt wurde, da es sich »nur« in einer Pflegefamilie befunden habe. Ebenso führt die Entscheidung aus, es wäre keine konkrete Kindeswohlgefährdung, wie sie für die Trennung von Eltern auf der Grundlage von §§ 1666 f. BGB erforderlich wäre, zu prüfen. Sind Pflegekinder Kinder »2. Klasse«? Genügen nunmehr lediglich pauschale Behauptungen einer Kindeswohlgefährdung bzw. das angebliche Erfordernis eines Wechsels in eine „bessere“ Pflegefamilie, ohne konkrete Anhaltspunkte?
6. Fazit
Die Entscheidung bedeutet eine Abwertung der Pflegefamilien und zugleich eine Absenkung des Schutzes von Pflegekindern vor Abbrüchen. Bei der Abwägung zwischen Gefährdung durch Verbleib und Gefährdung durch Herausnahme geht es ausschließlich um das Kindeswohl, das zu prüfen ist, und nicht um die Rechte der Pflegeeltern. Der Maßstab der Gefährdung wird durch die Entscheidung herabgesetzt mit der völlig verfehlten Begründung, dass die Rechte der Pflegeeltern schwächer seien als die Rechte der Herkunftseltern. Auf diese Unterscheidung kommt es bei der Konstellation eines Pflegestellenwechsels jedoch in keiner Weise an.
Die Entscheidung ignoriert die weltweit übereinstimmenden wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in den Humanwissenschaften zur für Kinder lebensrelevanten Bedeutung von Bindungen und Kontinuität in der Erziehung, wie sie durch Art. 20 UN-KRK geschützt wird.
Es ist auch irritierend, dass die Entscheidung die fehlende Wahrnehmung der gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben durch Jugendamt und Vormund zum persönlichen Kontakt mit dem Kind über Zeiträume von über einem Jahr hinnimmt. Und dies bei einem Kind, das durch Trennung von der Mutter, Drogenentzug und Trennungserlebnis hinsichtlich der Bereitschaftspflegefamilie bereits früh schwer geschädigt wurde und an deren Folgen leidet. Fraglich bleibt, auf welcher Grundlage dann Jugendamt und Vormund ihre Einschätzungen getroffen haben wollen.
Es erscheint fraglich, ob die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht und Sicherstellung von Grundrechten durch Verfahrensrecht nachgekommen sind. Denn das Amtsgericht ordnete in einem einstweiligen Verfahren die Herausgabe des Kindes bereits vor der ersten mündlichen Verhandlung, also vor jeder Amtsermittlung, an, ohne dass eine massive akute Gefährdung des Kindes in der Pflegefamilie vorgetragen oder festgestellt wurde. Der Wechsel des Kindes in die neue Pflegefamilie erfolgte unmittelbar nach dem Beschluss. Und dies bei einem Kind, das durch Trennung von der Mutter, Drogenentzug und Trennungserlebnis hinsichtlich der Bereitschaftspflegefamilie bereits früh schwer geschädigt wurde und an deren Folgen leidet.
Es ist inakzeptabel, dass die hier entstandene institutionelle Kindeswohlgefährdung durch das weitere – unbegründete – Trennungserlebnis durch die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie in der Öffentlichkeit als Stärkung des Kindesrechts »verkauft« werden soll. Wenn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Einleitung einer Wende im Schutz von Pflegekindern darstellen soll, dann wäre das eine fatale Entwicklung: Wollen doch die jüngsten rechtspolitischen Maßnahmen gerade den Kontinuitätsbedürfnissen dieser vulnerablen Gruppe von Kindern gerecht werden. Daher sollten zunächst Hilfe und Unterstützung angeboten und erbracht werden und eine Trennung des Kindes von seinen Hauptbezugspersonen erst erfolgen, wenn die konkret festgestellte Gefährdung nicht anders abgewendet werden. Vorliegend stellen jedoch weder die fachgerichtlichen Entscheidungen noch die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht eine konkrete, nicht anders abgewendbare Gefährdung fest.
Autoren: Professor Dr. jur. Ludwig Salgo und Rechtsanwalt Peter Hoffmann