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Sachverständige einig: Es besteht auf allen Ebenen viel Handlungsbedarf

“Es ist nach wie vor so, dass keine ausreichende Kenntnis besteht, was mit dem Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft angerichtet wird. Die Vulnerabilität ist ausgesprochen groß”, konstatierte der Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie in Zwickau, Dr. Frank Härtel, bezüglich des FDP-Antrages zum Thema Fetales Alkoholsyndrom (wir berichteten) in der jüngsten Sitzung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages. Darin waren sich auch die übrigen, zu dieser Thematik geladenen Sachverständigen, einig. 

Mit seiner Aussage, “90 Prozent wissen, dass Alkohol schädlich ist, trotzdem ist das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) immer noch ein hochrelevantes Thema” bestätigte Professor Dr. Götz Mundle, Direktor der Bundesärztekammer, den landläufigen Irrglauben, dass ‘das Gläschen zum Anstoßen schon nicht schade’. Denn, so Mundle weiter: “Wir müssen davon ausgehen, dass über die neurologischen Schäden noch zu wenig Wissen besteht. Das (FAS-)Vollbild ja, aber dass auch bei geringem Alkoholkonsum hirnorganische Schäden und Entwicklungsschäden entstehen können – hierauf sollte der Fokus gelegt werden.”

Mundle räumte ein, dass in den vergangenen Jahren einiges an Projekten gegeben habe, um die Aufklärung voranzubringen. Deutlich machten aber alle fachspezifischen Sachverständigen, dass noch viel Handlungsbedarf bestehe. Schließlich würden immer noch zwischen 10.000 und 20.000 Kinder jährlich mit fetalen Alkoholschäden geboren. 

Ziel in Deutschland sollte sein, die soziale Norm ‘kein Alkohol in der Schwangerschaft’ zu etablieren. 

Um das zu erreichen, brauche es abgestimmte Maßnahmenpakete aus den Bereichen Werbung, Preisgestaltung, Verfügbarkeit.” Aber wir brauchen auch politische Unterstützung. Denn gesamtgesellschaftlich erzielen wir höhere Effekte, wenn die Politik dahinter steht”, forderte Peter Eichin, Geschäftsführerder Villa Schöpflin gGmbH. Nicht zuletzt brauche es neue Themen. Die Villa Schöpflin zum Beispiel habe im Rahmen ihres Projektes HaLT, einem Alkoholpräventionsprogramm für Kinder und Jugendliche, ein Modul hinzugenommen, dass sich mit Alkohol in der Schwangerschaft und den Folgen, dem Fetalen Alkoholsyndrom, beschäftigt. 

Hinsichtlich Aufklärung und Sensibilisierung sei festgestellt worden, dass zum einen ein hoher Bedarf an Multiplikatoren für die Thematik bestehe, sprich Ärzte, Fachkräfte, Hebammen, die in der Materie geschult sind. Zum anderen: “Fakt ist, es sind noch Falschinformationen im Umlauf”, berichtete Eichin. Und weiter: “Wir haben eine Schulung zu FAS angeboten, die war sofort ausgebucht.” Für die geplanten weiteren seien die Wartelisten schon voll.

Dass es schon daran kranke, dass es viel zu wenige FAS-Experten in Deutschland gebe, unterstrich auch Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL. Und die allgemeine Unwissenheit über das FAS betreffe auch die relevanten Berufe wie Kinderärzte, Psychiater, Therapeuten, Sozialarbeiter. “Das bedeutet, dass wir nicht in der Lage sind, ausreichend und auch nicht rechtzeitig Diagnosen stellen zu können”, unterstrich Elsen.

Den mit dem FAS besonders vertrauten Sachverständigen ging es jenseits der Prävention und Sensibilisierung vor allem auch um die Hilfe und Unterstützung der bereits Betroffenen von fetalen Alkoholschäden. Schon früh seien bei den Kindern sektorübergreifende Maßnahmen notwendig, um frühzeitig intervenieren zu können. Der Kinder- und Jugendpsychiater und -therapeut Dr. Khalid Murafi verwies darauf, dass zumeist zu den Besonderheiten des FAS-Kindes, dass es zum Beispiel leicht verführbar sei (dies treffe insbesondere die Mädchen), dass sie sexuell missbraucht werden, dass die Kinder kriminalisiert werden, Opfer werden, psychiatrische Erkrankungen und langfristige Belastungen mit sekundären Folgen hinzukommen. 

Murafi forderte deswegen “sektorübergreifende, SGB-übergreifende, altersübergreifende und expertisenübergreifende Hilfen zu installieren und konsequent durchzuführen.” Denn sonst, sagte der Chefarzt der Kinder und Jugendklinik Walstedde in aller Deutlichkeit, “sind das dann die Kinder, die wir Systemsprenger nennen und alle die Hände hochheben,und die nebenbei bemerkt massive Kosten verursachen. Deshalb möchte ich hier dafür werben, dass Sie politischen Willen entfalten und sich dafür einsetzen.”

Dagmar Elsen warb dafür, dass das Fetale Alkoholsyndrom endlich in Deutschland als Behinderung anerkannt wird: “Es wäre die Grundlage dafür, endlich etwas in Bewegung zu setzen. Denn wenn es Vorgaben gibt für die Ämter, dann entfällt auch der Kampf für die Familien um die Anerkennung, die Hilfen und die Unterstützung. Es ist nun mal eine Schwerbehinderung, die muss anerkannt und akzeptiert werden.”

Nicht zuletzt müsse das Augenmerk hinsichtlich der Maßnahmenpakete auch auf die erwachsenen Betroffenen gelegt werden, mahnte Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, Gründer des ersten FAS-Zentrums in Berlin. Zum einen würden die Kinder eines Tages erwachsen sein. Zum anderen “haben wir das Problem, dass so viele Erwachsene mit fetalem Alkoholsyndrom nicht diagnostiziert werden”, so Spohr.

FAS ist eine Behinderung mit dem Merkmal Hilflosigkeit


Öffentliche Anhörung „Alkoholpräventionsstrategie“

Deutscher Bundestag

3. März 2021

Stellungnahme 

Prof. Dr. Hans-Ludwig Spohr

I.

Im Jahre 2016 erschien im renommierten amerikanischen Journal: Alcohol and Alcoholism eine Kanadische Studie1: Die ökonomische Belastung der Fetalen Alkohol-Spektrum Störung (FASD)in Kanada für das Jahr 2013. Es wurden in dieser komplexen Untersuchung die direkten Kosten “expended for health care, law enforcement, special education, supportive housing, long-term care, prevention and research“ und indirekte Kosten „of productivity losses of individuals with FASD due to their increased morbidity and premature mortality“ ermittelt und zusammengerechnet.Die Autoren stellten fest, dass insgesamt im Mittel 1,8 Milliarden kanadische Dollar für das Jahr 2013 für Kanada ausgegeben wurden (Minimum 1,3 und Maximum 2,3 Milliarden).Das entspricht 1,44 Milliarden US-Dollar. 

Ergebnis: Haupt-Kostenanteil:

  • Verlust an Produktivität (Krankheitskosten erhöhte Mortalität) =40%
  • Gefängniskosten (correction) = 29%
  • Gesundheitsausgaben (Health care) 10%
  • An letzter Stelle: Prävention und Forschung 0,6%

Kanada hat etwas über 38 Millionen Einwohner (2020); Deutschland hat 83 Millionen (2019): 

Beide Länder sind als westliche Industrienationen mit etwa gleichem Lebensstandard gut vergleichbar. Umgerechnet ergäben sich beispielhaft für Deutschland etwa 3 Milliarden US Dollar oder 2,49 Milliarden Euro jährlich. 

FASD ist ein signifikantes gesundheitspolitisches und soziales Problem, welches erhebliche Ressourcen sowohl sozial als auch ökonomisch in Kanada verbraucht. Viele Kosten könnten erheblich reduziert werden durch die Implementierung effektiver sozialer Politik und Interventionsprogramme.

Soviel zur Relevanz des FASD als nationaler Kostenfaktor.

II.

Ich möchte mich aus der Fülle der Vorschläge und Forderung nur auf den Punkt 7 des Forderungskataloges des FDP-Antrags konzentrieren. Unter Punkt 7 wird Folgendes gefordert:

Die Maßnahmen zur Prävention, Behandlung und Selbsthilfe im Bereich FASD und FAS zu stärken und regelmäßig zu evaluieren.

Zur Diagnose: Viele öffentliche Einrichtungen (vom Jugendamt bis zum Sozialgericht, von der Erwachsenenpsychiatrie bis zum Gesetzgeber) kennen das FASD nicht oder sprechen dem Syndrom kategorisch den Krankheitsstatus ab!

In der „Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD),WHO 10. Revision, Version 2019 findet sich aber ganz eindeutig die Diagnose einer Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (FASD: FAS; partielles FAS, ARND)2. Sie ist dokumentiert in der ICD 10:Q 86.0

Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten der WHO ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Das FAS ist somit medizinisch eine anerkannte Erkrankung mit einer unterschiedlich intensiv ausgeprägten Behinderung. Dies muss auch in Deutschland gesetzgeberisch abgebildet werden und auch in der Rechtsprechung der Sozialgerichte Akzeptanz finden.

Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) 

7,8 Mio. Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. Die VersMedV ist für sie von zentraler Bedeutung. Denn erst die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) und besonders die Zuerkennung des Merkzeichens Buchstabe H= Hilflosigkeit ermöglicht einen Zugang zu vielen Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen und stärkt so deren gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung.

Der Grad der Behinderung (GdB) bei einem FAS wird heute von den Versorgungsämtern und Sozialgerichten noch immer unterschiedlich und teilweise nicht nachvollziehbar ermessen und beurteilt; Grundlage dieser Beurteilung ist eben diese Versorgungsmedizin -Verordnung (VersMedV), genauer die Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“. Diese enthält neben allgemeinen Grundsätzen eine Tabelle mit dezidierten Auflistungen von Schädigungen und einer Zahl, die den Grad ihrer Anerkennung beziffert. Die Fetalen Alkohol-Spektrumstörungen sind bisher in dieser Tabelle nicht benannt.

Die VersMedV ist vor diesem Hintergrund bei der Beurteilung der Grad der Behinderung (GdB) der FAS-Betroffenen und ihrer Hilflosigkeit unzureichend.

Mit der VersMedV kann zwar die Hilflosigkeit eines bleibend neurologisch physisch-organisch geschädigten und hilflosen Menschen gemessen werden (wie lange dauert das Füttern, wie lange die hygienische Versorgung, wie intensiv die Begleitung beim Treppensteigen, Laufen etc.). Dies ist aber bei einem dynamischen Krankheitsbild eines FAS mit plötzlichen Exekutiv-Funktionsstörugen oder Impulskontrollstörungen schlicht nicht möglich.

Versorgungsämter erkennen mit Hilfe der insofern unzulänglichen VersMedV in der Regel einen zu geringen Grad der Behinderung (GdB) und kein zusätzliches Merkzeichen H (Hilflosigkeit) an. Das ist beim FASD häufig falsch und führt zu Widerspruch und gerichtlichen Auseinandersetzungen.

Es wäre an der Zeit, dass die Versorgungsämter und Gerichte die Diagnose eines FAS endlich zur Kenntnis nehmen und als Behinderung mit Hilflosigkeit akzeptieren würden. Eine modernisierte Fassung der VersMedV könnte hierfür eine tragfähigere Grundlage bilden. Die VersMedV ist für Menschen mit Behinderung von zentraler Bedeutung, da erst durch sie der Zugang zu vielen Nachteilsausgleichen ermöglicht wird.

Fazit:

  1. FASD muss als Krankheit in ihrer Schwere und ihrer Behinderung akzeptiert werden.
  2. Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) muss so angepasst werden, dass mit ihr die Hilflosigkeits-Diagnostik auch bei „dynamischen Krankheitsbildern wie das FASD“ erfasst werden kann.
  3. Diese Forderungen könnten rasch umgesetzt.

Diese Forderungen kosten keine große Investition.

Diese Forderungen würden für mehr Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und eine große Hilfe für die Betroffenen und ihre Betreuer im mühsamen Alltag darstellen.

1Swetlova Popopva et al. The Economic Burden of Fetal Alcohol Spectrum Disorder in Canada in 2013. Alcohol and Alcoholism, Volume 51, Issue 3, 1 May 2016, Pages 367–375.

2FAS= Fetales Alkoholsyndrom; pFAS= partielles Fetales Alkoholsyndrom; ARND= durch Alkohol in der Schwangerschaft verursachte entwicklungsneurologische Erkrankung.