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HAPPY BABY im Interview für eine Schweizer Facharbeit

“Das Thema fetales Alkoholsyndrom interessierte uns auch sehr, weil wir nie davon gehört haben und wir deshalb vermuten, dass es vor allem in der Schweiz noch ein Tabuthema ist und deshalb auch gar nicht so bekannt ist“, stellen Alina und Rabea, die für ihre Ausbildung zu Pharma-Assistentinnen eine Facharbeit geschrieben haben, klar. Laut einer Schweizer Studie hat eine von fünf schwangeren Frauen angegeben, gelegentlich bis sogar täglich Alkohol zu konsumieren, mussten die beiden 17jährigen mit Entsetzen realisieren.

Während ihrer Recherche im Internet stießen die Schweizerinnen auf unsere Kampagne Happy-Baby-no-Alcohol. “Der Blog weckte schnell unser Interesse, da die Geschichten der Betroffenen uns sehr berührt haben“, berichten die beiden. So wollten sie denn auch wissen, wie es ist, die Betroffenen und deren Familien zu interviewen und die Geschichten zu schreiben.

Durch das Interview und die Recherchieren sei ihnen immer mehr bewusst geworden, wie eingeschränkt die Personen mit dem fetalen Alkoholsyndrom sind: “Nicht nur körperlich unterscheiden sich die Betroffenen von gesunden Personen, auch psychisch sind sie je nach Ausprägung sehr eingeschränkt. Für sie ist es nicht einfach, sich in eine grössere Gruppe einfügen zu können. Ihr Benehmen wird häufig falsch bewertet, weil sie ihr Gegenüber missverstehen, ihr Verhalten nicht immer steuern können oder eine falsche Eigenwahrnehmung haben. Genau deshalb ist für sie nicht immer einfach sich in eine Menschengruppe zu integrieren. Die Betroffenen werden von den Menschen durch Ihr auffälliges Verhalten nach falschen Massstäben beurteilt und verurteilt.”

In ihrer Facharbeit beziehen Alina und Rabea klar Stellung: “Wir finden es nicht gerecht gegenüber den Betroffenen wie auch den Familien und Freunden. Durch mehr Bekanntheit des Syndroms würde auch mehr Akzeptanz, Verständnis und auch Geduld herrschen.

Alina & Rabea: Wir haben auf dem Blog gesehen, dass du Journalistin bist und die Geschichten der Betroffenen erfasst. Wie bist du überhaupt dazu gekommen? Warum bist du Teil dieses Vereins geworden?

Dagmar: Ich bin durch mein persönliches Umfeld mit dem Thema „Fetales Alkoholsyndrom“ (FAS) in Berührung gekommen. Der Junge Luca, über dessen Werdegang ich außerdem in unregelmäßigen Abständen blogge, sagte als 14jähriger nach seiner Diagnose zu mir: „Du bist doch Journalistin – schreib’ drüber, sonst gibt es immer mehr wie mich.“ 

Die Zahlen, dass jedes Jahr zwischen 10.000 und 20.000 Kinder mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommen und wir aktuell 1,6 Millionen Betroffene in Deutschland haben, hatten ihn umgehauen. Außerdem die Tatsache, dass sich FAS grundsätzlich zu 100 Prozent vermeiden lässt, indem man in der Schwangerschaft und Stillzeit einfach mal keinen Alkohol trinkt. Er realisierte sehr klar, dass es nur einen Weg geben kann FAS zu verhindern: Aufklärung – und das flächendeckend. 

Das war für mich der Startschuss. Zumal ich schon so lange miterlebt hatte, welches Leid die Betroffenen und ihre Familien durchmachen. Und dieses Leid muss nicht sein. FAS ist keine Laune der Natur, sondern entsteht vor allem durch Unwissenheit. Nur 44 Prozent der Deutschen wissen überhaupt, dass es FAS gibt und was es in seiner Konsequenz bedeutet. Und wenn man permanent mitbekommt, dass gesagt wird, “ein Gläschen schadet doch nicht”, es aber anders weiß, dann ist klar: Es muss endlich etwas passieren. 

Ich habe sofort losgelegt und die Kampagne aus der Taufe gehoben. Der Weg kann nur sein aufzuklären, um FAS zu verhindern, um sodann durch Aufklärung eine Sensibilisierung für die Betroffenen zu erreichen. Denn ihnen muss endlich angemessen geholfen werden. Es ist skandalös, dass FAS immer noch nicht bundesweit als Behinderung anerkannt ist.

Den gemeinnützigen Verein habe ich gegründet, weil ich auch konkrete Projekte realisieren wollte. Dafür braucht es Supporter – Botschafter ebenso wie Partner. Mit ihnen haben wir die Online-Beratung auf die Beine stellen können. Jetzt sind wir daran, eine bundesweit agierende Telefonberatung zu realisieren und haben dafür einen Förderantrag bei Aktion Mensch e.V. gestellt. So etwas geht eben nur, wenn man als gemeinnütziger Verein agiert.

Alina & Rabea: Du bist Teil diese Blogs, deswegen nehmen wir an, dass es dir wichtig ist, dieses Thema zu publizieren. Denkst du dieses Thema hat Aufklärungsbedarf?

Dagmar: Unbedingt herrscht bei diesem Thema Aufklärungsbedarf. Fakt ist, dass 58 Prozent der Schwangeren Alkohol trinken und 54 Prozent selbst dann noch, wenn sie wissen schwanger zu sein. Es ist ihnen nicht klar, welches Risiko sie eingehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es beim Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft nicht zwingend zu Schäden kommt. Es kann passieren, aber eben auch nicht. Es gibt keine wissenschaftlich erwiesene Menge Alkohol, die für das Ungeborene unschädlich wäre. 

Aber, und das ist fatal – es gibt zu viele Menschen, die das Risiko herunter spielen, weil sie während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben, die Kinder dennoch gesund auf die Welt gekommen sind. Die stellen sich dann hin und sagen: “Was wollt ihr denn, passiert doch gar nichts.” Das ist ein fatales Signal. Man weiß vorher nicht, ob der Alkohol Schaden anrichten wird oder nicht. Man setzt auf Risiko, das grenzt an Russisch Roulette. Und wenn der Alkohol das Baby schädigt, dann bedeutet es ein Leben lang unendliches Leid für alle Beteiligten – die Betroffenen und ihre Familien. Es ist die Hölle!

Alina & Rabea: Wie ist es für dich, die Betroffenen und deren Familien zu interviewen und die Geschichten zu schreiben?

Dagmar: Es ist jedes Mal hochemotional für beide Seiten. Nicht selten fließen Tränen. Die Betroffenen und ihre Eltern, ob leibliche, Pflege- oder Adoptiveltern, erleben so viel Ablehnung, Ignoranz und Missbilligung. Sie müssen schmerzhafte, anstrengende Kämpfe durchstehen, um die Anerkennung der Behinderung durchzusetzen und Unterstützung und Hilfsleistungen zu erreichen. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2013 Richtlinien für FAS vorgegeben hat, passiert es immer noch rauf und runter, dass selbst Diagnosen von weltweit renommierten FAS-Experten wie die von Professor Hans-Ludwig Spohr aus Berlin von den Behörden nicht anerkannt werden. Selbst Ärzte in den Sozialäpdiatrischen Zentren stellen sich noch hin und behaupten, FAS gebe es nicht. Unfassbar!

Wenn ich diese schrecklichen Geschichten höre, bin ich immer wieder aufs Neue entsetzt und wütend. Aber gerade das treibt mich auch an weiterzumachen. Und vor allen Dingen hilft die Berichterstattung in vielerlei Hinsicht: auf die Schwachstellen in unserem Sozialsystem aufmerksam zu machen, den schwierigen Alltag der Betroffenen und ihrer Familien zu erklären, die Gesellschaft zu sensibilisieren, gegenseitige Hilfe zu mobilisieren. Verständnis füreinander erreicht man nun mal am besten durch authentische Erzählungen.

Jedenfalls bin ich immer tief berührt, welch großes Vertrauen mir entgegen gebracht wird. Auch wenn der Leidensdruck der Betroffenen und ihrer Familien groß ist, empfinde ich das nicht als Selbstverständlichkeit.

Alina & Rabea: Wie gehen die Familien damit um? Ist es immer noch so ein Tabuthema?

Dagmar: Ja, FAS ist immer noch ein Tabuthema. Das macht es ja so schwierig Gehör zu finden. Und deshalb bedeutet es für nahezu alle Familien, dass sie sich auf jahrelange Kämpfe einzustellen haben, nicht selten auch ein Leben lang. Das ist sehr kräftezehrend. Alle diese Familien leisten Unglaubliches, legen eine Energie an den Tag, die bewundernswert ist. 

Wichtig dabei ist, dass sie sich über all das nicht selbst verlieren, sondern sich auch Raum für eigene Bedürfnisse schaffen. Es muss genug Zeit bleiben für Freude und Lachen.

Genau das wird aber im Keim erstickt, wenn Eltern im Unklaren gelassen werden, dass ihr Kind fetale Alkoholschäden haben könnte. FAS ist ja nicht immer sichtbar. Im Gegenteil. Das wird dann bei der Vermittlung von Pflege- und Adoptivkindern allzugern bewusst verschwiegen. Spätestens in der Grundschulzeit fällt dann aber auf, dass da irgendetwas nicht stimmt, dass das Kind anders ist als die anderen. Es ist das besondere an all diesen Eltern, dass sie nicht locker lassen bei der Suche nach der Antwort, auch wenn sie gegen Wände aus Beton laufen.

Alina & Rabea: Was machen für dich FAS-Betroffene aus? Typische Eigenschaften?

Dagmar: Es gibt keinen wirklichen FAS-Prototyp. Es erklärt sich schon dadurch, dass es 419 Symptome gibt, oft genug begleitet von Sekundärerkrankungen. Typisch ist, dass sie alle hirnorganische Schäden haben, die sie in der Bewältigung des täglichen Lebens extrem beeinträchtigen. Sie haben sozusagen permanent Chaos im Kopf und das ist für sie sehr anstrengend. Häufig ist der kognitive Bereich stark betroffen. Abstrahieren fällt ihnen schwer, ebenso das Erkennen von Sinnzusammenhängen. Um so schwieriger ist es für sie, Regeln zu lernen und diese einzuhalten. Fast immer ist die Konzentrationsfähigkeit vermindert. Sie sind oft nur für kurze Zeit aufmerksam und lassen sich schnell selbst von Kleinigkeiten ablenken. Deswegen fällt es ihnen schwer, Aufträge bis zum Ende auszuführen und Verabredungen einzuhalten.
Die Frustrationsschwelle von Kindern mit FAS ist äußerst niedrig, Wut und Ärger schwer für sie zu kontrollieren. Sie sind sehr risikobereit, aber ohne die Gefahren richtig einschätzen zu können. Und: Sie lernen schlecht aus gemachten Erfahrungen.
Auffällig an Kindern mit FAS ist ihre hohe Hilfsbereitschaft. Da sie aber auch leichtgläubig, naiv, vertrauensselig sind, lassen sie sich leicht verleiten. Sie geraten schnell in unangenehme Situationen und sind sich der Folgen ihres sozialen Handelns nicht bewusst.

Über all dem wird aber gerne vergessen, welch liebevolle, loyale, empathische und hilfsbereite Menschen sie sind. Fast alle haben viel Humor und lachen gern. Viele sind sehr kinder- und tierlieb. Zumeist zeichnen sie Inselbegabungen aus. 

Alina & Rabea: Kann man eine Parallele von FAS-Betroffenen zu ADHS-Betroffenen stellen? Oder worin unterscheiden sich die beiden Erkrankungen in der Verhaltensweise?

Dagmar: Beide Diagnosen sind zum einen miteinander vereinbar, zum anderen beschreiben sie an verschiedenen Punkten eben verschiedene Störungsbilder. Das FAS beinhaltet neben der neuropsychologischen Auffälligkeit auch Auffälligkeiten in der körperlichen Entwicklung, Besonderheiten im Sinne von fazialen Dysmorphien. 

Es kommen weitere Symptome hinzu, beispielsweise Störungen der räumlich visuellen Wahrnehmung und der räumlich konstruktiven Fähigkeiten oder besondere emotionale Störungen wie Impulsdurchbrüche, Launenhaftigkeit, Bindungsstörungen. Darüber hinaus sind körperliche Symptomatiken entscheidend. Als Hauptunterscheidungskriterium sind aber die deutlich impulsiveren und aggressiveren Impulsdurchbrüche zu nennen. 

Alina & Rabea: Wir haben gelesen und auch einige Bilder gesehen, dass FAS-Betroffene spezielle Gesichtszüge haben. Kann man das generalisieren bei den FAS-Betroffenen?

Dagmar: Beim Vollbild des FAS haben die Betroffenen oft eine schmale Oberlippe, fehlt die Lidspalte, ist das Philtrum (die Rinne zwischen Nase und Oberlippe) kaum ausgebildet, ist der Kopfumfang vermindert und auch der mittlere Teil des Gesichtes abgeflacht. Wenn die Kinder auf die Welt kommen, sind sie häufig auffällig klein und leicht, es liegen Herzfehler vor, Fehlbildungen an den Ohren, ist die Nierenfunktion gestört, wird Skoliose diagnostiziert.

Alina & Rabea: Wir haben gelesen, dass FAS-Betroffen oft Probleme mit dem Umgang mit anderen Menschen haben. Wie äussert sich das? Ist das individuell?

Dagmar: Wie schon beschrieben, sind die Ausprägungen des FAS sehr individuell. Dennoch lässt sich sagen, dass die Betroffenen durch Verhaltensstörungen auffallen. Dadurch, dass sie ihr Verhalten nicht immer steuern können, eine falsche Eigenwahrnehmung haben, außerdem ihr Gegenüber oft missverstehen, wird ihr Benehmen nach den üblichen Regeln des Sozialverhaltens und damit falsch bewertet. 

Es wird ihnen unterstellt, dass sie dissonant, frech und boshaft sind. Sie können in dem Moment aber nicht anders, weil sie mit der Situation überfordert sind. Das merken sie selbst und werden wütend – auf sich, auf die Situation, auf das Gegenüber, das falsche Erwartungen hegt. Die verbalen und bei manchen auch darüber hinaus gehenden Wutausbrüche werden aufgrund von Unwissenheit persönlich genommen. Das schafft leider Distanz und zieht beiderseitige Abgrenzung und Rückzug nach sich.

Alina & Rabea: Auf eurem Blog haben wir gelesen, dass die Lebenserwartung eines FAS-Betroffenen ca. bei 34-Jahren liegt. Bei unseren Nachforschungen haben wir dies zuvor nicht erfahren. Woran liegt das?

Dagmar: Diese 34 Jahre sind ein statistischer Wert und es klingt in der Tat dramatisch. Er kommt natürlich dadurch zustande, dass auch früh verstorbene Babys mitgezählt werden. Wir haben diesen Wert der durchschnittlichen Lebenserwartung aber deshalb auf der Webseite aufgeführt, damit er klar macht, wie dramatisch die Lage für FAS-Betroffene ist. Sage und schreibe 80 Prozent der Betroffenen landen am Rande der Gesellschaft – im Gefängnis, der Obdachlosigkeit, im Drogen- und Prostitutionsmilieu oder begeht Suizid. All jene werden in der Regel tatsächlich nicht sehr alt. Und das liegt daran, dass die Masse der FAS-Betroffenen keine Unterstützung erhält.

FASD-Beratungszentrum Köln von Anbeginn stark nachgefragt

Immer wieder machen Betroffene des Fetalen Alkoholyndroms und ihre Angehörigen die Erfahrung, dass sie zwar eine fachärztliche Diagnose in den Händen halten und gegebenenfalls auch eine Medikation bekommen haben. Aber nun? Wie soll es weitergehen – zu Hause, in der Schule oder auf der Arbeit, in der Freizeit?

Jetzt sind dringend pädagogische Lösungsansätze gefragt, gibt es den nachhaltigen Wunsch nach unterstützenden Angeboten und das Bedürfnis, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Anlaufstellen, die genau das bieten, sind in Deutschland rar, obwohl der Bedarf enorm ist.

Diese Erfahrung hat auch das FASD Beratungszentrum Köln gemacht. 2015 mit Hilfe der finanziellen Unterstützung einer Stiftung und unter dem Dach der Erziehungshilfe Rheinland gGmbH gegründet, geben sich hier betroffene Eltern und ihre Schützlinge sowie andere Wegbegleiter seitdem die Klinke in die Hand. Der erste vom Fachzentrum initiierte FASD-Fachtag war innerhalb kürzester Zeit ausgebucht. Seitdem wächst das Angebotsspektrum an Arbeitskreisen, Beratungen, Hilfen und Fortbildungen unaufhörlich. Matthias Falke, Leiter des FASD-Fachzentrums, hat dazu einige Fragen beantwortet:

Welches Ihrer Angebote wird am meisten genutzt?

Matthias Falke: Unsere FASD-Arbeitskreise für Pflege- und Adoptiveltern werden sehr nachgefragt und sind ausgebucht (mit Warteliste). Dann bieten wir individuelle Beratungen an zur Pädagogik bei FASD, aber auch Unterstützung bei sozialrechtlichen Fragen oder verweisen auf medizinische Diagnoseeinrichtungen.

Darüber hinaus sind unsere jährlichen FASD-Fachtage ein anerkannter und stark nachgefragten Info-Treffpunkt für Fachkräfte der Jugendhilfe, Betreuende, Mediziner und Pädagogen. Unsere FASD-Fortbildungen für Fachkräfte der Jugendhilfe und Pflegeeltern ziehen immer weitere Kreise: Anfragen kommen nun auch von Schulen, Schulbegleitern und sogar vom Job-Center.

Welches sind die vorwiegenden Themen im Facharbeitskreis?

Matthias Falke: Fragen zur Alltagsgestaltung und –bewältigung. Außerdem besteht das Bedürfnis der Eltern und Betroffenen Strategien zu entwickeln, die aus der Ohnmacht hin zur Selbstwirksamkeit führen. Dabei hat sich als besonders hilfreich unser pädagogisch-therapeutisches Handlungskonzept erwiesen, das in Familien und auch Fachkreisen große Anerkennung findet und zu spürbaren Entlastungen in den Familien führt. Und natürlich geht es um gegenseitigen Austausch zur Entlastung; es wird hier übrigens auch gelacht.

Welches sind die größten Problemfelder der Pflege- und Adoptiveltern?

Matthias Falke: Mangelndes Verständnis und Wertschätzung. FASD als unsichtbare Behinderung ist für Außenstehende leider nicht erkennbar. Und es fehlt Wissen über diese Behinderung. So wird häufig immer noch das FASD-spezifische und auffällige Verhalten der mangelnden Erziehungsfähigkeit der Eltern (z.B. nicht richtig „durchgreifen“ zu können) zugeschrieben oder der „Faulheit“ des Kindes. Das ist natürlich nicht richtig und die Auseinandersetzungen mit Kita, Schule oder Jugendamt belastet Eltern sehr. Wachsen die Kinder dann zu Jugendlichen und junge Erwachsene heran, fehlt es häufig an geeigneten Übergängen in Beruf und Arbeit sowie an Wohnangeboten.

Der Aufklärungsbedarf über das Fetale Alkoholsyndrom ist selbst an Förderschulen sehr groß. Welche Erfahrungen machen Sie in der Zusammenarbeit mit Kindergärten und Schulen?

Matthias Falke: Sehr unterschiedliche. Manche (Förder-)Schulen und Kindergärten sind dabei, eine gelingende Pädagogik zu entwickeln und bilden sich fachlich fort. Dort läuft es für Kinder und Eltern gut. Bei anderen wiederum steht Unwissenheit, mangelnde Flexibilität und sich wenig Einlassen können einem gelingenden Miteinander im Weg. Oder gar die Annahme, FASD sei eine Modeerscheinung. Insgesamt ist das Thema Schule häufig schwierig.

Ein völlig unbearbeitetes Feld ist die Ausbildungs- und Berufszeit der Betroffenen. Es gibt keine adäquaten Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebote. Wie könnte Abhilfe geschaffen werden? Sind Sie auf diesem Sektor aktiv?

Matthias Falke: Aus Kindern werden Leute …“ – auch wir wachsen mit unseren Familien/Kindern und stellen fest, dass es im Anschluss nach der Schule große Lücken gibt. Mit viel Mühe und Geduld lassen sich individuelle Übergänge gestalten. Dies kann jedoch keine Lösung auf Dauer sein. Hier werden Strukturen gebraucht, angefangen bei der Reha-Beratung der Arbeitsagenturen, Berufsbildungseinrichtungen bis hin zu Wohneinrichtungen. Die Behindertenhilfe hält solche Strukturen vor und es muss geschaut werden, ob und wie dies auch für junge Menschen mit FASD passen könnte.

Hinzu kommt, dass (mit großer Mühe) erreichte Schulabschlüsse wie mittlere Reife oder gar Abitur – und damit der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt – sich für die Betroffenen als Bumerang erweisen können. Denn mit diesen Bildungsabschlüssen wird automatisch Selbstdisziplin, persönliche Struktur und Selbständigkeit gleichgesetzt. Dies ist bei FASD jedoch nicht der Fall und reguläre Ausbildungsverhältnisse bergen das Risiko einer Sackgasse. Denn die bisherige Betreuung durch Schulbegleitung und/oder Eltern wird mit dem Eintritt ins Arbeitsleben ja nicht plötzlich überflüssig.

Was wäre aus Ihrer Sicht grundsätzlich förderlich, um die Situation der von Alkoholschäden betroffenen Menschen in Deutschland zu ändern? Oder anders gefragt: Woran krankt es in unserem Land?

Matthias Falke: Betroffene wissen eigentlich sehr gut, was sie brauchen – wir müssen nur aufmerksam zuhören! Und dies mit einer persönlichen Haltung, die wir uns alle wünschen:

Anerkennung und Akzeptanz persönlicher Grenzen sowie ein aufmerksamer Blick für individuelle Stärken und Begabungen.

Information und Wissen über die unsichtbare Behinderung FASD sind dabei sehr hilfreich, um Menschen mit FASD gut begleiten zu können. Schulbladen- und Leistungsdenken bergen hingegen große Risiken für die Betroffenen und können zu weiteren Störungen führen.

Weitere Informationen: Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD Köln, Erziehungsbüro Rheinland gGmbH, www.fasd-fz-koeln.de

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne