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FDP-MdB Kristina Lütke: Wir alle sind verantwortlich!

Die bundesweite Aktionswoche Alkohol, initiiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, nehmen wir von Happy Baby No Alcohol und die Bundestagsabgeordnete der FDP, Kristina Lütke, zum Anlass, den Fokus auch auf das Thema “Alkohol in der Schwangerschaft und fetale Alkoholschäden” zu richten. Im Schulterschluss mit der Journalistin und Autorin des Buches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, prangert die Sprecherin der FDP für Sucht- und Drogenpolitik an, dass Aufklärungsarbeit, und damit die Eindämmung von FASD, bislang verschlafen worden sind. Kristina Lütke erkennt in ihrem heutigen Blogbeitrag zum Auftakt der “Aktionswoche Alkohol” die Vorreiterrolle Norwegens, die Dagmar Elsen in ihrem Buch beschreibt, und fordert Präventionsarbeit nach norwegischem Vorbild:

In Deutschland wird jede Stunde mindestens ein Kind mit Schäden geboren, die auf Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Die Schäden reichen dabei von Fehlbildungen über Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu körperlichen und geistigen Behinderungen – zusammengefasst als FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder). Doch FASD ist vermeidbar – die Verantwortung dafür liegt bei jedem und jeder Einzelnen von uns und darf nicht auf die Schwangeren abgeschoben werden.

Schwangere Frauen sollten keinen Alkohol konsumieren – vollkommen klar, oder? Nein, leider nicht! Die Gefahr wird oftmals unterschätzt. Bislang wissen 44 Prozent der Menschen in Deutschland nicht, dass Alkohol in der Schwangerschaft zu schweren Schäden bei ungeborenen Kindern führen kann. Etwa jede fünfte Schwangere konsumiert Alkohol in moderaten Mengen. Diese alarmierenden Zahlen gehen aus dem Drogen- und Suchtbericht aus dem Jahr 2018 mit Schwerpunktthema Alkohol hervor. Dabei ist längst wissenschaftlich belegt: Schon geringe Alkoholmengen können schwere Schäden an ungeborenen Kindern hervorrufen – es reicht schon das eine Gläschen zum Anstoßen. Und genau hier müssen wir ansetzen: Mit breit angelegten Präventions- und Aufklärungskampagnen wollen wir ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein schaffen und FASD eindämmen, weil klar ist auch: Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

Prävention nach norwegischem Vorbild

Norwegen hat bei der Bekämpfung von FASD eine Vorreiterrolle übernommen. In einer beispiellosen Aufklärungskampagne wurden sämtliche Medien genutzt: Flugblätter, Plakate, Kurzfilme für Kino und Fernsehen, Anzeigen in Zeitungen, Zeitschriften und bei Google, man inspirierte Journalisten, Artikel zu platzieren und Experten, entsprechende wissenschaftliche Texte zu veröffentlichen. Im Anschluss an die Kampagne kamen Umfragen in der norwegischen Bevölkerung zum Ergebnis: Das Bewusstsein über die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist gestiegen.

Auch Fortbildungen und Schulungen zu FASD wurden in Norwegen intensiviert und gehörten fortan zum Standard für alle, die in den relevanten Berufen tätig sind, also Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer und viele mehr. Spezielle Diagnostikkurse hatten das Ziel, ausreichend Ärztinnen und Ärzte fortzubilden, die dann in der Lage sind, FASD zu erkennen.

All das wurde in Deutschland viel zu lange verschlafen – aufgrund von Versäumnissen der Vorgängerregierung. Denn trotz der erschreckenden Zahlen aus den Sucht- und Drogenberichten der vergangenen Jahre wurde von Seiten der letzten Bundesregierung kaum etwas gegen FASD unternommen.

Gesellschaft sensibilisieren & Mütter entstigmatisieren

1,6 Millionen Menschen sind deutschlandweit von fetalen Alkoholschäden betroffen – so die Berechnungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher ausfallen. FASD ist also kein Randphänomen unserer Gesellschaft. Umso notwendiger ist es, Bürgerinnen und Bürger zu sensibilisieren. Zum einen brauchen wir dafür Präventionsangebote für werdende Mütter, um diese gezielt innerhalb der Schwangerschaft zu erreichen. Zum anderen muss auch die breite Mitte der Gesellschaft mit Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft informiert werden. So kann ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein geschaffen und FASD gezielt bekämpft werden.

Dabei geht es auch darum, in den Köpfen verankerte Falschinformationen faktenbasiert zu widerlegen. Denn es ist schlicht die Unwissenheit von jedem und jeder Einzelnen von uns, die dann zu Alkoholkonsum während der Schwangerschaft führen kann. Häufig hört man verharmlosende Sätze wie: „Ein Gläschen zum Anstoßen? Das schadet doch nicht!“ – selbst einige Hebammen und Gynäkologen behaupten beispielsweise auch heutzutage noch, dass ein Glas Rotwein in der Badewanne wehen fördernd sei – was schlicht falsch und höchst gefährlich für ungeborene Kinder ist.

Es ist ein Leichtes, die Schuld für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft alleine auf die werdenden Mütter abzuschieben. Das ist aber nicht nur realitätsfern, sondern auch zynisch. Denn solange kein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein geschaffen wurde und selbst unter Geburtsexperten noch viele Falschinformationen über FASD kursieren, sind wir alle verantwortlich – solange bis endlich jedem und jeder die Risiken von Alkohol in der Schwangerschaft bekannt sind. Dann wird es auch viel öfter heißen: Ein Gläschen zum Anstoßen? Lassen wir lieber sein!

Quelle: Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr, Dagmar Elsen, Schultz-Kirchner-Verlag

Blaues Nest – Elterngerechte Hilfe zur Selbsthilfe

Es war ein harter Weg, den sie hat gehen müssen. Sie hat gelitten, gekämpft, ist aber nie verzweifelt. Anja Bielenberg, Mutter von acht Kindern, fünf leiblichen, und drei Pflegekindern mit fetalen Alkoholschäden, blickt inzwischen auf zwanzig Jahre Erfahrung mit FASD zurück, in der sie außerdem eine Wohngruppe gegründet hat. Diese Erfahrungen mit viel Freud und Leid haben sie angetrieben, sich in ungezählten Seminaren und Workshops zur FASD-Fachberaterin fortzubilden. Da sie außerdem Schwangerschaftsbegleiterin ist, weiß sie um den Bedarf an Aufklärung. Schon in ihrer Ausbildung hierzu musste sie sich anhören, dass zu einem guten Wehencocktail Alkohol gehört. Bitte?

All ihre Erlebnisse haben die Idee für das “blaue Nest” entstehen lassen – Weiterbildungsangebote für Eltern mit Kindern, die FASD haben, die ihr besonders am Herzen liegen, und Fachvorträge mit Grundlagenwissen auf den Punkt gebracht. Journalistin und Autorin Dagmar Elsen hat mit ihr darüber ein Gespräch geführt.

Was ist das besondere am blauen Nest?

Anja:

Das blaue Nest ist von Eltern für Eltern gemacht. Es ist Eltern-Wissen, damit Eltern es wissen. Und zwar einfach, verständlich, nachvollziehbar. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es Eltern mit FASD-Kindern geht. Ich habe im Laufe der Jahre so ziemlich alle Hürden überwunden, die sich mir in den Weg gestellt haben. Angefangen mit der Antragstellung und der Berechtigung dies zu tun, über Kontakte zu den leiblichen Eltern, Streitigkeiten mit den Ämtern vor Gericht, bis hin zu spontanen Aktionen wie Notfälle.

Oder auch die vielen Auseinandersetzungen in der Schule, die allgemeinen Anfeindungen gegen die Kinder aufgrund ihres Benehmens, die fehlenden Spielkameraden. Auch ich selbst bin deswegen gesellschaftlich viel ausgegrenzt worden. Wie oft habe ich falsche Wege eingeschlagen, weil ich nicht wusste, wo der richtige sich befand. Woher auch? Es gab ja nirgendwo eine entsprechende Unterstützung.

Das blaue Nest soll als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden. Die Module finden ausschließlich im kleinen Rahmen statt. Dies elterngerecht in kurzen Einheiten und mit viel Wertschätzung und Respekt dem anderen gegenüber. Jenseits des Erwerbs von Fach- und praktischem Wissen spielen Achtsamkeit, Tipps für den Alltag und die richtige Positionierung des eigenen Tuns eine wichtige Rolle. Ich bin ja selbst Mutter, jeden Tag präsent, und so weiß ich, wovon ich spreche, was man fühlt und was man braucht. Die abschließende Zertifizierung zur Fachkraft für das FASD-Kind soll den Eltern die Anerkennung ihres erworbenen Wissens bestätigen.

Übrigens sage ich bewusst FASD-Kinder, – weil diese Kinder etwas besonderes sind: tiefgründig, elementar sensibel und gleichzeitig teilweise so brutal in der Umsetzung ihrer Wünsche. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich diese besonderen Kinder besondere Menschen aussuchen. Menschen, die bereit sind, mit ihnen an ihrem Schicksal zu wachsen – egal von welcher Dauer diese Beziehung sein wird. Auch das möchte ich vermitteln.

Gab es eine Initialzündung das blaue Nest ins Leben zu rufen?

Anja:

Es gab verschiedene Initialzündungen, aus denen ich die Idee zum blauen Nest entwickelt habe. In einer meiner Ausbildungen zur Geburtsvorbereiterin kam im Vorkurs eine Hebamme zu Wort, die tatsächlich den Wehencocktail mit Alkohol empfahl. Ich habe das seinerzeit scharf kritisiert, aber es ist immer noch Gang und Gäbe diesen zur Weheneinleitung als probates Mittel anzupreisen.

Immer wieder fiel mir während meiner beruflichen Tätigkeiten auf, dass das Thema Alkohol in der Schwangerschaft nie wirklich jemanden interessierte. Irgendwie war das immer ein Thema der anderen, und fälschlicherweise immer einer bestimmten Milieuschicht zugeordnet.

Ich selbst habe das Thema von Anfang an sowohl in meinen Kursen platziert, als auch bei meinen Ausbildungskursen zur Geburtsbegleiterin. Bald werde ich eine Fachausbildung zu dem Thema für Geburtsvorbereiterinnen, Doulas, Mütter- und Familienpflegerinnen unnd Hebammen markenrechtlich geschützt anbieten können.

Nicht ein Tag ist bislang vergangen, an dem Eltern von FASD-Kindern nicht an mich herangetreten sind mit Fragen, Ängsten, Traurigkeit und Empörung über das allgemeine Unwissen über fetale Alkoholschäden.

Welche Angebote beinhaltet blaues Nest?

Anja:

Es gibt drei Online-Module. Modul 1 ist ein Fachvortrag mit Grundlagenwissen auf den Punkt gebracht – die Geschichte, FASD-Ausprägungen, die Entstehung, die Auswirkungen, die Diagnostik und das Leben mit FASD für die Betroffenen und ihre Familien.

In Modul 2 können die Teilnehmer ihr Wissen über FASD erweitern. Themen werden hier sein: die rechtliche Situation der Elternschaft, der Schwerbehindertenausweis, die Pflegestufe, usw. Für die Hausaufgaben und die gemeinsame Gruppenarbeit werden wir mit dem FASD-Sachbuch von Dagmar Elsen “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” arbeiten. Insgesamt geht es hier vor allem um den gemeinsamen Austausch, die Wertschätzung und die Stärkung der Eltern. Denn leider erlebe ich es immer wieder, dass Eltern mit FASD-Kindern verzweifeln, weil jeder Tag ein anderer ist, man auf Gelerntes nicht vertrauen kann, immer neue Herausforderungen zu meistern sind. Am Ende sind alle nur noch ausgebrannt. Das gilt es unbedingt zu verhindern.

Das Modul 3 ist mein Lieblingsmodul. Dieses Modul dürfen nur Eltern mit FASD-Kindern buchen. Denn die Elternschaft von FASD-Kindern bedeutet mehr Fachkraft, als es irgendjemand von außen den Eltern beibringen könnte. Hier wird sehr ins Detail gegangen, was das Leben mit FASD-Kindern alles mit sich bringt.

Man kann natürlich auch individuelle Beratung bei mir buchen. Ich biete zwar in allen Kursen ein Grundwissen. Aber es muss jedem klar sein, dass die rechtlichen Grundlagen je nach Bundesland unterschiedlich sind. Das beachte ich dann entsprechend.

Geplant sind übrigens Präsenz-Kurse für Kinder in Achtsamkeit und Yoga für kommenden Herbst.

Was möchtest Du ganz persönlich den Eltern, die zu Dir kommen, mit auf den Weg geben?

Anja:

Klarheit, Klarheit und nochmal Klarheit!

Natürlich wissen wir als Eltern nicht alles und können auch nicht alles. Unser FASD-Kind auch nicht. Damit unterscheidet es sich zunächst nicht von anderen Kindern. Und wir uns nicht von anderen Eltern. Aber. Unser Alltag hat durch die Beeinträchtigungen unserer FASD-Kinder eine andere Qualität bekommen. Hier gilt es ehrlich zu sein: Was kann ich leisten? Was will ich leisten? Es sollte sich nicht die Frage gestellt werden: Leiste ich genug? Man sollte auch nicht dastehen und sagen: Ich leiste doch schon so viel und es ist immer noch nicht genug. Es muss ehrlich und klar gegenüber seinen Kindern formuliert und gelebt werden, was man will und kann und wo die Grenzen liegen. Die Kinder müssen wissen, woran sie sind. Sie müssen nicht nur einen klaren Alltag, sondern auch klare Lebensvorgaben haben. Im Grunde heißt das, dass du dich einfach traust, der zu sein, der du bist. So unglaublich das klingt, aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht: Ein Kind mit FASD erkennt nur dieses an und damit dich im Ganzen.

Was ist Dein Background, der Dich zur Fachfrau für FASD hat werden lassen?

Anja:

Ich bin Pflegemutter seit rund 20 Jahren und habe mir fast alles autodidaktisch erarbeitet, mir aber auch teure Hilfe geholt, und mich später in unzähligen Seminaren und Workshops weitergebildet. Ich habe gelitten, gekämpft, aber ich bin nie verzweifelt. Es war ein harter Weg. Wirklich. Aber mit jedem noch so kleinen Erfolg wuchs mein Mut. Und damit der Erfolg der Durchsetzungskraft für meine Kinder. Natürlich habe ich durch und mit meinen Kindern immer noch Baustellen. Dies zum Beispiel in der Schule. Aber heute nehme ich das nicht mehr als persönliche Niederlage. Nein, ich weiß, es ist die Unwissenheit meines Gegenübers, wofür ich nicht verantwortlich bin. Deshalb ärgere ich mich nicht mehr so sehr. Erkennen, am kürzeren Hebel zu sitzen, ist auch eine entspannende Erkenntnis, mit der man dann anders umgehen kann, um andere Ideen zu entwickeln.

Außerdem kommt mir zugute, dass ich Schwangerschaftsbegleiterin bin und fünf leibliche Kinder habe, so dass ich das Leben rund um Kinder in all seinen Facetten kenne.

Wie lebst Du mit Deinen Kindern?

Anja:

Wir leben in Nordfriesland an der Küste ganz oben in Schleswig-Holstein. Idealerweise leben wir ganz ländlich, sehr behütet und beschaulich. Eben sehr reizarm, was wichtig ist. Wir haben ein großes Haus mit einem kleinen eingezäunten Garten. Die gemeinsamen Räume sind groß und freizügig eingerichtet. Die Kinderzimmer befinden sich im oberen Hausbereich. Es gibt klare Tagesstrukturen und Regeln sowie geregelte Mahlzeiten. Fernsehen ist wenig. Und jeder hat seinem Alter entsprechend einen Aufgabenplan.

Welche Leitlinien gibt es für Dich beim Umgang mit Kindern, die fetale Alkoholschäden haben?

Anja:

Klarheit, Struktur, Reduktion, Lachen.

Damit fallen Zeitmanagement und Reglement fast weg. Denn das eine bedingt das andere.

Welches sind Deiner Erfahrung nach die schlimmsten Hürden, die Eltern mit FASD-Kindern zu überwinden haben?

Anja:

Die Zusammenarbeit mit dem Sozialsystem, also den Ämtern, den Schulen, den Ärzten, den Krankenkassen. Das aber eigentlich nur, weil soviel Unwissenheit über die Beeinträchtigungen durch FASD vorherrschen. Oft wissen die Mitarbeiter nicht, was FASD bedeutet. Und so machen sie nach eigenem Ermessen die Leistung fest. Das Volumen dessen entspricht dann nicht dem Bedarf.

Interessant ist auch, dass viele Menschen meinen, Pflegeeltern würden mit einem FASD-Kind sehr viel Geld verdienen.

Was würde Deiner Meinung nach helfen, die Welt für Menschen mit fetalen Alkoholschäden zu verbessern?

Anja:

Im Grunde genommen habe ich aufgehört, diese Welt zu verbessern. Das ist mit Sicherheit die Urwurzel für die Entstehung des blauen Nestes. Ich möchte Teil der Veränderung der Welt der FASD-Eltern sein. Ich möchte helfen, ihre eigene “FASD-Welt” zu verändern und ihr Leben zu verbessern. Ich hoffe, dass viele mitmachen und wir somit ein großes, gestärktes Netzwerk werden.

Das blaue Nest findet sich unter: www.fasd-schleswig-holstein.de

Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr

Im Schulz-Kirchner-Verlag erscheint in Kürze das Buch “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” der Journalistin Dagmar Elsen, die seinerzeit auch die Aufklärungskampagne Happy Baby No Alcohol initiiert hat. Wie es dazu kam und was sie angetrieben hat, sich für die Thematik zu engagieren, beschreibt sie in ihrem Vorwort. Eine ausführliche Leseprobe findet sich unter: https://www.skvshop.de/shop/images/files/editor/file/9783824813033_elsen_alkohol_fasd_1aufl2022_leseprobe.pdf

Vorwort

„Du bist doch Journalistin, schreib drüber, sonst gibt‘s immer mehr wie mich“, sagte Luca zu mir nach seiner Diagnose im FASD-Fachzentrum Walstedde. Das war just, nachdem der damals 14-Jährige realisiert hatte: Alkohol hat mein Hirn zerstört als ich ein Baby war im Bauch meiner Mutter. Als er außerdem erfuhr, dass unglaublich viele Menschen gar nicht wissen, dass Alkoholkonsum in der Schwangerschaft derart gefährlich ist. So viele, dass jede Stunde in Deutschland ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt. So viele, dass wir inzwischen über 1,6 Millionen Betroffene sprechen. Mindestens. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Für Luca, der mit seinem wirklichen Namen nicht genannt werden möchte, war sofort klar: Wüssten die Menschen darüber Bescheid, dann würden doch alle alles tun, damit so etwas nicht weiter vorkommt. Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

So weit, so simpel.

Ich musste nicht lange überlegen. Luca wurde zur Triebfeder einer sehr intensiven und langen Recherchereise, die mich Woche für Woche, Monat für Monat, immer fassungsloser machte. Zahlen, Daten, Fakten in Dimensionen, die deutlich machen: Das hier ist kein Randphänomen der Gesellschaft. Nein. Das Fetale Alkoholsyndrom ist mitten unter uns. Es betrifft alle – die Bankiersgattin ebenso wie die Frau an der Kasse im Supermarkt oder die unwissentlich Schwangere. Und es geht nicht nur die Mütter an, sondern jeden. Weil jeder wissen sollte, was der Alkohol im Mutterleib anrichtet. Damit niemand mehr auf die Idee kommt zu behaupten, ein Gläschen schadet nicht, der Mutterkuchen ist ein sicherer Schutzmantel. Nein, ist er nicht. Alkohol in der Schwangerschaft ist immer gefährlich – zu jeder Zeit und in jeder Menge!

Durch Luca, den ich aus meinem persönlichen Umfeld kenne und den ich habe aufwachsen sehen, waren mir die Probleme und Defizite von FASD-Betroffenen vertraut. Ich habe miterlebt, wie der hübsche, fröhliche Junge, dem man seine Behinderung nicht im Mindesten ansieht, erst schleichend, dann immer deutlicher begann zu straucheln. Schneller und schneller drehte sich das Rad, immer tiefer zog es ihn in der Pubertät in den Abgrund. Es war die Hölle. Die Hölle für ihn, für seine Familie. Kein Arzt wusste Rat. Keine Klinik stellte die richtige Diagnose. Alle meinten, na ja, das Drama wird der Adoption geschuldet sein. Dann ein Tipp, ein Zufall, über eine Bekannte, die der Adoptivmutter die Aufnahme in der Kinder- und Jugendklinik Walstedde empfahl.

Es hat mich mit Entsetzen erfüllt, dass weder ein Kinderarzt, noch ein Ergotherapeut, Psychologe, Psychiater, Lehrer, Erzieher, eben niemand auf die Idee gekom- men ist, der Junge könnte fetale Alkoholschäden haben. Das, obwohl Luca einer von tausenden typischen Fällen ist – körperlich unauffällig, mit durchschnittlichem Intelligenzquotienten, aber kognitiv stark de zitär, ebenso in den Exekutivfunktionen, orientierungslos, ohne Zeitgefühl, Mathe ist ihm ein Gräuel, seine unkontrollierten Wutanfälle legendär.

Warum nur ist dieses Syndrom so unbekannt, fragte ich mich. Ich forschte im Internet, las alles, was ich kriegen konnte. Ich interviewte auf dem Gebiet der fetalen Alkoholschäden renommierte – ja, es gibt sie, wenige, aber doch! – Ärzte, Psychologen, Therapeuten, FASD-Fachberater. Ich sprach mit Eltern, mit leiblichen, Pflege- und Adoptiveltern, sprach mit erwachsenen Betroffenen. Sie erzählten stets atemlos und aufgebracht. Allesamt waren es aufwühlende Geschichten, die das facettenreiche, fatale Ausmaß der von unserer Gesellschaft vertuschten Thematik offenbarte. Die schlimmste Geschichte von allen war die von Max. Sie bricht einem das Herz. Ein Kind von elf Jahren hält die Pein des Lebens nicht mehr aus und be- geht Selbstmord. Es ist der blanke Horror.

Schockiert hat mich bei meiner Recherche obendrein, wie sehr Ängste vorherrschten offen zu reden, sich selbst zu benennen und die Personen und Ämter, die maßgeblich an den vielschichtigen Missständen beteiligt sind, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. FASD, das gibt es hier nicht. Hokuspokus. Modediagnose. Lassen die Pflegeeltern nicht locker, zeigen auf, was mit ihren Kindern los ist, fordern Hilfe und Unterstützung ein, müssen sie darum fürchten, dass ihnen die Kinder wieder weggenommen werden. Eine bedrückende Tatsache. Bitte uns im Text anonymisieren, hieß es deshalb auch immer wieder. Ein weiterer Grund für den Wunsch nach Anonymität, der einmal mehr die Gesinnung unserer ach so integrativen Gesellschaft offenlegt: die Sorge, stigmatisiert und gesellschaftlich isoliert zu werden.

Drei Jahre liegen nun hinter mir, seit ich mich intensiv mit FASD auseinandergesetzt habe. Eine lange Zeit. Aber viel Zeit ist notwendig, um zu erfassen und zu verstehen. Nicht nur das Syndrom an sich ist so komplex in seinem Erscheinungsbild und seinen Auswirkungen. Es stellt das ganze Leben der Betroffenen und ihrer Familien und Freunde auf den Kopf. Wie sagt Luca immer so schön: „Ich bin kein normaler Behinderter.“ Was er damit meint, versteht man, wenn man all die Geschichten dieser besonderen Menschen gelesen hat.

Die Recherchen haben aber glücklicherweise nicht nur die dunklen Seiten des Syndroms offenbart. Immer mehr kämpferische Menschen stehen auf, trauen sich ihre Rechte zu benennen und einzufordern, erheben die Stimme und gehen an die Öffentlichkeit. Und wenn sie es geschafft haben, die Unterstützung zu erhalten, die ihnen zusteht, zeigt sich sofort, dass das Leben für Menschen mit fetalen Alkoholschäden einen ganz anderen, einen so positiven Verlauf nehmen kann. Es muss den Eltern, ihren Kindern, den erwachsenen Betroffenen lediglich die Chance darauf gewährt werden. Schließlich ist es eine Chance, die rechtlich verbrieft ist.

Ich danke von Herzen allen, die es mir möglich gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Die Offenheit und das Vertrauen, das mir dafür geschenkt wurde, haben mich sehr berührt. Viele Tränen sind bei den Gesprächen genossen. Vor Kummer, vor Sorge, vor Wut und Angst, aber auch vor Freude und, das ist besonders schön, vor lauter Lachen. Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind grundsätzlich sehr humorvolle, ausgestattet mit einer ganz anderen Logik im Kopf, die zu den lustigsten Anekdoten führt. Sie sind von rührender Naivität und einer großen Herzenswärme. Sie leben im Hier und Jetzt. Und das macht sie beneidenswert unbekümmert.

Herzlich Dagmar Elsen

“Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen”

“Die Arroganz und die Ignoranz, die uns von allen Seiten immer wieder entgegenschlägt, macht wütend”, gesteht und klagt Thomas S. , Vater eines leiblichen Kindes und eines zehn Jahre alten Pflegesohnes. Daran erkenne man, dass es immer noch viel zu wenig Aufklärung über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) gebe – trotz all der Kampagnen, die bislang schon gestartet worden seien. Wie könne es sein, dass immer noch der Glaube vorherrsche, dass ein Gläschen Wein nicht schade, vielmehr den Kreislauf anrege und dem Herzinfarkt vorbeuge? Alles Gründe für den Bundespolizisten, die Stimme zu erheben und seine persönliche Geschichte in einem Gastbeitrag zu erzählen. Denn: “Was uns persönlich sehr weitergeholfen hat, ist der Kontakt zu Gleichgesinnten – seien es Eltern mit FAS-Kindern oder selbst Betroffenen. Da muss man sich nicht erklären, wenn man am Ende ist oder warum man wie reagiert hat. Und man fühlt sich nicht so alleine, wenn man die Geschichten der anderen hört.”

Am 20.01.2012 kam unser Pflegesohn Jonas* im Alter von drei Monaten zu uns in die Familie. Meine Frau und ich hatten Ende 2011 ein Pflegeseminar besucht. Als dies Mitte Dezember 2011 zu Ende ging, sollten wir uns über die Feiertage Gedanken machen, ob wir uns vorstellen könnten, ein Pflegekind aufzunehmen. Leider hielt sich das Jugendamt selbst nicht an die zeitlichen Vorgaben und fragte bereits kurz vor Weihnachten an.

Ein Foto des Säuglings wurde uns umgehend überlassen – ein total süßer Junge mit großen, blauen Augen und einem „Engelchengesicht“. Die Entscheidung fiel in Sekundenschnelle. Er hat uns einfach verzaubert. Zwischen den Feiertagen besuchten wir den Jungen bei seinen Bereitschaftspflegeeltern, nach den Ferien stand schon der Termin im Jugendamt an.

Jonas wurde uns als ‘soweit gesundes Kind’ dargestellt. Er hätte zwar direkt nach seiner Geburt einen Entzug durchgemacht, da seine leibliche Mutter drogenabhängig gewesen sei. Aber den Entzug hätte er gut verkraftet und somit wäre alles in Ordnung. Gegebenenfalls könnten sich im Laufe der Jahre AD(H)S-Symptome zeigen. Das war die einzige Prognose.

Jonas entwickelte sich im Vergleich zu unserem damals 5-jährigen anderen Sohn deutlich zeitverzögert. Das sei normal, hieß es vom Kinderarzt und auch vom Jugendamt. Mit den Jahren wurde Jonas immer wilder und lauter. Seit dem Kindergartenalter ist er ein richtiger Adrenalin-Junkie, dem es nie zu gefährlich sein kann. Einerseits. Andererseits ist er sehr unsicher in einer ihm unbekannten Umgebung. Jonas wollte nie Dinge lernen, er wollte es sofort können. Wenn nicht, hatte er explosionsartige Wutanfälle. Er entwickelte sich weiterhin sehr zeitverzögert und wurde bezüglich Schule ein Jahr zurückgestellt. Im Kindergarten fiel immer deutlicher auf, dass er unter anderem Schwierigkeiten hatte sich zu konzentrieren und aufmerksam bei der Sache zu bleiben. Er brauchte eigentlich immer eine extra Anleitung, eine extra Aufforderung und eine extra Begleitung.

In dieser Zeit hatte meine Frau angefangen, sich über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) schlau zu machen. Unser Kinderarzt meinte weiterhin, dass das Kind es schon lernen werde, er brauche „einfach nur viel Mama, nach allem, was er schon erlebt hat“. Im Frühsommer 2017 hatten wir dann einen Termin bei Frau Dr. Hoff-Emden in Leipzig. Dort fühlten wir uns zum ersten Mal verstanden und geborgen. Frau Hoff-Emden diagnostizierte schon beim ersten Sehen und den nachfolgend durchgeführten Testungen partielles FAS. Alleine Jonas’ Aussehen sei typisch prägnant für Kinder mit fetalen Alkoholschäden. Da Jonas’ leibliche Mutter in der Zwischenzeit verstorben war, konnte der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nicht endgültig bestätigt werden.

Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen. Bis zu diesem Tag hatte ich mich nie ernsthaft mit dem Thema Fetales Alkoholsyndrom auseinandergesetzt. Und jetzt sollte mein kleiner Junge, der so süß aussieht, eine Behinderung haben, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte? Ich hatte immer noch die Haltung: Es ist nichts! Die Tränen flossen nur so. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und geheult und geheult. Mir wurde auch klar, dass der kleine Zwerg sein ganzes Leben Hilfe brauchen würde. Ohne Aufsicht gehen selbst banale Dinge wie Anziehen und Zähne putzen nicht. Er braucht permanent eine Eins-zu-Eins-Betreuung.

Ein halbes Jahr lang ging es mir richtig schlecht, haderte ich mit dem Schicksal. Dann dachte ich, ich muss es jetzt annehmen. Er kann nichts dafür. Ich würde ihn nicht mehr hergeben wollen. Es ist mein Sohn, ein charming boy, der alle um den Finger wickelt. Mir war und ist aber auch klar, dass es passieren kann, dass ich ihm in vielleicht fünf Jahren gegenübersitze und ich ihn, der ich Polizist bin, festnehmen muss. Er ist jetzt schon so leicht beeinflussbar. Aber, am Ende des Tages bin ich Optimist. Wir werden sehen.

Als ich mich dank Hilfe des Internets, eines Curriculums des Sozialpädiatrischen Zentrums Leipzig und einschlägigen Heften einigermaßen auf Stand gebracht hatte, was es heißt fetale Alkoholschäden zu haben, und was für Auswirkungen es auf Eltern und Kind hat, ging der „Kampf“ mit den Behörden los.

Unser Kinderarzt hat bis heute nicht verstanden, was es bedeutet fetale Alkoholschäden zu haben. Für ihn war Jonas immer ein Kandidat für ADHS mit einer Tendenz in Richtung Autismus. Jonas sei ja so niedlich, zurückhaltend (in fremden Situation, also z. B. beim Arzt) und hätte nicht die an das Down Syndrom erinnernde Gesichtszüge. Jeder Arztbesuch wurde zu einem Gewaltakt an Aufklärung. Entweder wurde unser Anliegen klein geredet oder aufgebauscht und in eine andere Richtung gelenkt.

Mittlerweile haben wir einen Kinderarzt gefunden, dem FAS nicht unbekannt ist und der sich auch weiter aufklären ließ. Es folgten Kämpfe mit der Pflegekasse um den Pflegegrad und Kämpfe mit dem Versorgungsamt um den Grad der Behinderung. Dank hartnäckiger Gespräche hat Jonas einen Pflegegrad 3 und einen Grad der Behinderung von 70 %.

Es ist aber leider so, dass man immer wieder schief angesehen wird, wenn man sagt, dass Jonas behindert ist, denn äußerlich wirkt er nicht so. Dieses Problem hatten wir auch bei der Wahl der Schule. Jonas wurde im Vorfeld von Schulpsychologen getestet und für eine Schule mit dem Förderschwerpunk sozial-emotional (SE) als geeignet angesehen. Im Vorfeld des Schulbeginns wurde Jonas durch Frau Dr. Hoff-Emden medikamentös eingestellt. Dieses Medikament verträgt er bis heute sehr gut.

Wir kommen aus Süddeutschland. Hier scheint das Fetale Alkoholsyndrom nicht zu existieren. Selbst unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie wusste am Anfang nichts mit der Diagnose anzufangen und musste durch uns aufgeklärt werden. In der Förderschule ging die Aufklärung wieder von vorne los. Teilweise hatten wir das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Jonas wurde immer wieder aus der Klasse genommen, wenn er nicht so wollte wie er sollte. Dass es eine Überforderung für ihn war, wurde trotz mehrfacher Hinweise von uns an die Schule ignoriert. Erst durch einen von uns Eltern angestoßenen Schulwechsel noch während des ersten Schuljahres auf eine Schule für geistige Entwicklung wurde es besser.

Der Schulleiter kannte und verstand die Diagnose. Auch ließen sich die Lehrer von uns aufklären und nahmen Tipps und Anregungen an. Ein Problem in der Schule ist allerdings der jährliche Wechsel des Schulbegleiters, denn für Jonas ist eine konstante und damit vertraute Bezugsperson sehr wichtig. Leider mussten wir auch in diesem Punkt feststellen, dass nicht jeder Schulbegleiter unsere Aufklärung ernst genommen hat. Es hat dadurch immer wieder viel Kraft gekostet, bis alles seinen gewohnten Gang lief.

In den mittlerweile knapp zehn Jahren, in denen Jonas in unserer Familie ist, haben wir aktuell die vierte Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Bis auf die vorletzte wusste keine etwas mit der Diagnose FAS anzufangen. Jedoch muss ich sagen, dass die Mitarbeiterinnen sich aufklären ließen und sich auch erkundigen, was es für Möglichkeiten zur Weiterbildung gibt. Hürden gab es dann allerdings wieder innerhalb der Behörde – Unterstützung für Kinder mit ADHS und ASS sei kein Problem und gängige Praxis, aber FAS? Das sei bisher nicht vorgekommen und daher gäbe es hier keine Unterstützung. Allein schon eine Schulbegleitung zu erhalten, war ein langer, harter Kraftakt.

*Name geändert

Wir brauchen weitergehende Diagnostik

Öffentliche Anhörung „Alkoholpräventionsstrategie“ im deutschen Bundestag am 03.03.2021

Stellungnahme

Dr. med. Khalid Muraf

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Chefarzt und Geschäftsführender Gesellschafter Klinik Walstedde

 

Die fetalen Alkoholspektrumsstörungen stellen an sich schon eine komplexe Problematik mit vielen unterschiedlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Systemen der betroffenen Kinder da.

Nicht nur, dass die Kinder durch verzögertes Wachstum und retardierende Reifung auffallen. Sie zeigen Organschädigungen, Stigmata (besondere Kennzeichen im Gesicht z.B. schmales Lippenrot, fliehendes Kinn, bestimmt Augenstellung, veränderte Nasenwurzelstruktur, verstrichenes Philtrum etc.), neurologische und motorische Entwicklungsverzögerungen, außerdem seelische Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Jenseits dieser schon äußerst komplexen Beeinträchtigungen, hervorgerufen durch Alkohol- und Drogenkonsum in der Schwangerschaft, sind diese Kinder prädestiniert für weitergehende Belastungsfaktoren.

Hintergrund hierfür ist eine vermehrte Neigung der Mütter, auch während der Schwangerschaft gegen besseres Wissen Alkohol zu konsumieren. Ursache dafür kann z.B. eine bestehende Abhängigkeitserkrankung sein und / oder eine mütterliche, nicht angemessene Einschätzung hinsichtlich der Wirkung des Alkoholkonsums. Beides wiederum kann einhergehen mit affektiven Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen sowie anderen psychiatrischen Erkrankungen – Psychosen, Angststörungen und unspezifische Affekt- und Impulsregulationsstörungen. Hierbei können genetische Komponenten eine Rolle spielen. Das wiederum führt dazu, dass hier ein erhöhtes Risiko besteht, dass die geborenen Kinder neben den alkoholbedingten Erkrankungen eigenständige psychiatrische Erkrankungen mit genetischen Komponenten entwickeln.

Bekanntlich ist die Zeit der Schwangerschaft mit einem höheren Risiko belastet, auch andere psychosoziale Stressoren aufzuweisen: Partnerschaftskonflikte, soziale Belastungen, Armut, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge im Rahmen eines übermäßigen Alkoholkonsums, Partnergewalt, etc. All diese Bedingungsfaktoren führen zu erhöhter Stressauslösung im mütterlichen Organismus, der sich wiederum negativ auf die kindliche Entwicklung im Mutterleib auswirkt. Das bedeutet, dass auch sog. epigenetische Faktoren, also stressbedingte Umprogrammierung genetischer Voraussetzungen in der kindlichen Entwicklung, mit dann erhöhtem Risiko z.B. depressive Erkrankungen entwickeln können.

Die Aspekte der schwerwiegenden lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren während der Schwangerschaft, oder auch mütterlicherseits vor der Schwangerschaft, können einhergehen mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter und einer komplexen Traumafolgeerkrankung. Diese Stressoren, die sich auch auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen, können zu einer deutlichen Beeinträchtigung der frühen nachgeburtlichen Interaktion mit dem Säugling führen. Das wiederum kann die notwendige basale Versorgung des Neugeborenen, sowie die im besonderen emotionale dringend notwendige Resonanz in den ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahren deutlich einschränken. Derlei Resonanzentziehungen können auch bei anderen, ebenso bestehenden psychiatrischen Erkrankungen mütterlicherseits ohne genetische Komponenten – so z.B. bei eigener mütterlicher frühstruktureller Störung (oftmals auch als Borderline-Störung benannt) – relevant sein.

Die eingeschränkte Resonanzfähigkeit mütterlicherseits führt zu einer desorganisierten chaotischen Entwicklung der emotionalen Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationsfähigkeit des Kindes. Das hat entsprechend weitreichende und tiefgreifende Folgen für die weitere emotionale und psychische Entwicklung des betroffenen Kindes; mit dann auch eben der Entwicklung einer sog. frühstrukturellen Störung (also früh entstehend und tief strukturell eingreifend). Das wiederum bedeutet einen sehr langfristigen negativen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, zumeist einhergehend mit den schon frühen Verhaltensauffälligkeiten in der Affekt- und Impulsregulation. Mit dem Eintreten in die Pubertät stellt sich dies noch einmal mehr mit aller Deutlichkeit in der Symptomentwicklung dar, dies vor dem Hintergrund der sogenannten neuronalen Neuvernetzung, die sich mit eintreten in die Pubertät einstellt.

Eine der schwierigen Aufgaben für die betroffenen Kinder ist die Regulation von Gefühlslagen; dies im besonderen in Beziehungen. Das offenbart sich mit dem Eintritt in die Pubertät oftmals ganz besonders durch Brüche mit den Adoptiv- und Pflegefamilien. Die Jugendlichen fallen mit massivem destruktivem Verhaltensweisen auf. Oft sind diese auch gegen sich selbst gerichtet, oder auch gegen innerhalb der bisher vielleicht gerade noch tragfähigen Familienkonstellation bedeutsame und relevante Bezugspersonen.

Nicht selten gibt es bei den von fetalen Alkoholschäden betroffenen Kindern einen Adoptiv- oder Pflegestatus. Allein das Wissen darum stellt für die Kinder eine psychodynamische Last dar, die für sie schwierig zu integrieren ist, wenn sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder

müssen. Zur eingeschränkten Fähigkeit, mit solchen emotionalen Aspekten umzugehen, kommt auf der Ebene des FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) dann auch noch im Sinne der frühstrukturellen Störung oder anderen bestehenden affektiven Erkrankungen eine hohe Neigung zur Dysregulation.

Dies heißt nicht, dass hier eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Psychotherapie besteht. Vielmehr müssen im Behandlungsgang sowohl diese biologisch psychiatrischen Aspekte, teilweise mit einer spezifischen Medikation (z. B. antidepressiven Medikation oder neuroleptischen Medikation oder stimmungsstabilisierenden Medikation), angegangen werden, als auch psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. All dies unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge. Denn bei diesen Kindern kann es sein, dass eine isolierte Fokussierung auf die schon ausreichend komplexe Problematik der FASD-immanenten Folgen zu kurz greift und es eben zusätzlicher spezifischer Behandlungsangebote bedarf.

Hier ist also folgendes zu fordern: Eine weitergehende Diagnostik, sowohl bezogen auf biologische psychiatrische Erkrankungen, Traumafolgeerkrankungen, als auch frühstrukturelle Störungen mit dem Risiko der weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung. So wird sichergestellt das spezifische Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickelt werden.

Bezogen auf eigene Traumafolgeerkrankung ist auffällig, dass das Milieu, in dem ein erhöhtes Risiko mit vermehrtem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht, eben auch ein Risikomilieu sein kann für frühe Traumatisierung, miterlebter Partnergewalt, selbst erlebter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen.

Nicht zuletzt ist zu beobachten und zu berücksichtigen, dass vor allem bei den Mädchen die fehlende Selbstwirksamkeit der FASD-Kinder bei gleichzeitig ausgeprägtem Wunsch sozial erfolgreich zu sein dazuzugehören, anderen zu gefallen, zu einer leichten Beeinflussbarkeit führen kann, die dazu führt, dass sie selber niederschwellig Opfer von Traumatisierungen werden durch sexuelle Ausbeutung und sexuelle Grenzverletzung.

Hier erleben die Kinder und Jugendlichen über die einfachen Aspekte von sexueller Attraktivität eine hohe Selbstwirksamkeit und eine inadäquate zunehmende Bedeutung für eine andere Person, können dies aber leider nicht genau differenzieren. Dadurch können sie sich selbst nicht ausreichend schützen und werden so nur Objekt der Begierde, aber nicht um ihrer selbst Willen begehrt und geliebt.

Darüber hinaus ist durch die Veränderung der Ansprechbarkeit des sogenannten dopaminergen Systems (Dopermin als Neurotransmitter gerade im Belohnungssystem) im Grunde eine hohe Suchtentwicklungsbereitschaft vorprogrammiert, so dass der Kontakt mit mindestens Alkohol aber auch anderen Suchtmitteln bis hin zu Medienkonsum niederschwelliger Suchterkrankungen

entwickeln lässt und damit auch frühzeitig spezifisch thematisiert werden sollten, wenn möglich in Prävention, spätestens aber als Sekundärprofilaxe im weiteren Verlauf der seelischen Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Risikostruktur über die eigentlichen unmittelbar durch den Alkoholkonsum ausgelösten Belastungen der betroffenen Kinder teilweise deutlich hinausgeht, diese differentialdiagnostisch zusätzlich einer Untersuchung bedarf, im besonderen dann, wenn die bisherigen FASD-orientierten Behandlungsmethoden nicht ausreichend erscheinen, um schließlich noch einmal weitergehende spezifische Behandlungsmethoden angepasst an die individuellen Möglichkeiten zu etablieren.

Das vertuschte Syndrom

                          Öffentliche Anhörung zum Thema “Alkoholpräventionsstrategie”

                                         im Deutschen Bundestag am 3. März 2021

                                                      Stellungnahme

                                                               Dagmar Elsen

Sie kommen mit einem Loch im Herzen auf die Welt, mit Fehlbildungen oder Skoliose. Manche der Neugeborenen krümmen sich schreiend über Wochen hinweg, sind untergewichtig, bindungsgestört oder apathisch. Als heranwachsende Kinder gelten die meisten von ihnen als faul, frech, unerzogen und delinquent. Die “Schlimmsten” unter ihnen prügeln, schreien, quälen, lügen, stehlen, missachten Regeln und rennen davon. Die Schule ist für sie ein Ort des Grauens, sie fühlen sich als Versager, werden gemobbt und verstoßen, sind oft genug Opfer sexueller Übergriffe.

Es folgen Kita- und Schulverweise, Hilfeplangespräche, Androhungen der Heimunterbringung. Das alles zumeist ohne Sinn und Verstand, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es wird lieber geglaubt, dass die Kinder einen schlechten Charakter haben, sich keine Mühe geben wollen und es den Eltern an Erziehungskompetenz mangelt.

Weder die Kinderärzte, Psychiater und Therapeuten, noch die Pädagogen, Erzieher und Sozialarbeiter erkennen oder wollen wahr haben, um was es sich bei all diesen Kindern tatsächlich handelt: um vorgeburtliche Schädigungen, vor allem Hirnschädigungen, irreversibel hervorgerufen durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.

Genau so erleben es vor allem Pflege- und Adoptiveltern landauf landab in Deutschland und müssen erbitterte Kämpfe um Anerkennung, Unterstützung und Hilfeleistungen für ihre Schützlinge führen. Seltener dagegen wird von positiven, reibungslosen Erfahrungen berichtet.

Ist das wirklich so, oder bleiben die negativen Beispiele besser in Erinnerung? Wie ist die Gemengelage im Umgang mit dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS)? Was hat sich seit den 70er Jahren, da Mediziner weltweit begannen, sich mit der Materie intensiver auseinanderzusetzen, verändert?

Ich habe in meiner Eigenschaft als Journalistin und Initiatorin der Aufklärungskampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL in Berlin, wo der Grand Sengieur der FAS-Forschung, Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, anno 2007 an der Charité das erste FAS-Beratungszentrum Deutschlands gründete, eine Lagebesprechung gemacht. Neben dem international renommierten Experten Spohr befragte ich dazu auch die Ärztin Heike Wolter, die in der Charité, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie, in seine Fußstapfen getreten ist, befragte Vertreter von Jugendämtern und Trägervereinen, nicht zuletzt zahlreiche Adoptiv- und Pflegeeltern.

Dazu einige Kernaussagen vorab, die selbstredend belegen, dass sich einiges zum Positiven verändert hat, es aber nicht einmal in Berlin eine einheitliche Marschrichtung gibt, obwohl hier die Dichte der Experten am größten ist:

“Wir werden belächelt von Kollegen für unsere Arbeit.” (Wolter, Charité). “Ich kann es nicht mehr hören, wenn die Ärzte im SPZ sagen, sie haben FAS nicht auf dem Schirm.” (Prof. Spohr)

“Wir haben ja mit dem Thema schon lange zu tun, und trotzdem ist es so, dass es erst JETZT ein Thema ist. Davor sind die Eltern ja für bekloppt gehalten worden, ist es als Modediagnose abgetan worden, das war schwierig.” (Heinßen, Verein für Familien und Kinder)

“Ohne dass ich das mit Zahlen belegen kann, ich finde schon, dass sich die Situation in Berlin deutlich geändert hat. Wir kriegen deutlich mehr Anfragen von Pflege- und Adoptiveltern für Diagnostik als vorher. Das Jugendamt selbst fragt auch an, oder die Vermittlungsstellen der Pflegekinder. Dafür halte ich dann auch Slots frei, weil ich das wichtig und unterstützenswürdig finde, wissen zu wollen, ob das Kind von FAS betroffen ist.” (Wolter, Charité)

“Selbst die eindeutige FAS-Diagnose von Professor Spohr, einer echten Kapazität, wurde vom Jugendamt nicht akzeptiert. Und es wurde damit gedroht, uns das Kind wegzunehmen.” (Andrea*, Pflegemutter)

“Ja, es gibt diese schlechten Verläufe, aber es gibt eben auch Pflegeeltern, die ganz viel positive Unterstützung erfahren. Aber das ist, und das muss man ganz klar sagen, das ist nicht die Regel. Klar, es gibt Eltern, die haben einen vernünftigen Sozialarbeiter und die kriegen auch einen Einzelfallhelfer an die Seite gestellt, aber die meisten sind am Betteln und kriegen es nicht.” (Nitzsche und Heinßen, Verein für Familien und Kinder)

“Die Jugendämter arbeiten so unterschiedlich. Es ist immer einzelfallabhängig und deshalb ein ewiger Kampf, weil die Zuständigkeiten ja auch dauernd wechseln. Die Behinderung müsste endlich bundesweit anerkannt sein.” (Leonie*, Adoptivmutter)

“Ich mache seit 40 Jahren Fortbildung bei den Jugendämtern. Der ganze Osten muss noch Geld sparen, die sitzen da und sagen: FAS, das kenne ich nicht, so ein bisschen Alkohol, das macht doch nichts. Es ist wirklich so in den Köpfen.” (Prof. Spohr)

Es haben alle gewusst – die Lehrer, die Eltern in der Schule, das Jugendamt, die Nachbarn, die Ärzte – dass meine Mutter täglich getrunken hat. Aber mir wurde gesagt, dass man nichts für mich tun könne”. (Elvira*, FAS-Betroffene)

Wenn FAS festgestellt ist, “dann muss es auf den Tisch. Dann sehen wir, dass die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden.” (Rüttgers, Jugendamt Mitte)

“Wir vermissen Hilfestellung, dass man uns sagt, was unserem Kind weiterhelfen würde.” (Olaf*, Pflegevater)

Vor zwanzig Jahren, da hatte Berlin den Weg in die richtige Richtung eingeschlagen. “Da haben die Kinder IMMER eine Diagnostik durchlaufen, bevor sie vermittelt wurden”, weiß Peter Heinßen, Geschäftsführer des “Vereins für Familien und Kinder”. Inzwischen ist es noch nicht einmal mehr Usus, dass Kinder, die mit Auffälligkeiten zur Welt kommen, gleich ins Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) überwiesen werden. Mikrozephalie, fasziale Auffälligkeiten, ein Loch im Herzen, Kleinwuchs, verdrehte Ohren, etc. – alles Hinweise, dass es sich um fetale Alkoholschäden handeln könnte.

“Es müsste zur Normalität werden, dass diese Kinder auf FAS untersucht werden”, fordert Heike Wolter, Ärztin in der Charité, Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Doch, allein die Neonatologen haben, wie sie nicht nur Heike Wolter immer wieder gestehen, FAS nicht wirklich auf dem Schirm. Nicht einmal dann, wenn bekannt ist, dass die Mutter drogenabhängig ist und gleichermaßen der Verdacht auf Alkoholkonsum besteht.

“Dabei wäre es schon hilfreich, wenn einfach die Diagnose (für Abusus) auf dem Bericht über das Neugeborene oben drauf steht. Die in der Neonatologie müssen ja gar nicht mehr machen”, erläutert die Charité-Ärztin. Selbst die meisten Ärzte, die in den SPZ arbeiten, haben kein Auge für fetale Alkoholschäden, selbst wenn bekannt sein sollte, dass die Mutter getrunken haben könnte.

Derlei Ausreden mag Professor Hans-Ludwig Spohr nicht mehr hören, denn der springende Punkt ist: “Es hat sich bisher in Deutschland die Ärzteschaft nicht dafür interessiert. Das muss man einfach so sagen.” Einer der Gründe ist sicherlich, dass das Thema Fetale Alkoholschäden in der medizinischen Ausbildung eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Lediglich an der Charité ist das dank Spohr seit 2015 anders. Hier ist FAS für die Zweitsemester Pflicht und sorgt dafür, dass die FAS-Experten künftig nicht mehr von ihren medizinischen Kollegen aus anderen Fachbereichen belächelt werden für ihre Arbeit, so wie auch Heike Wolter immer wieder diese Erfahrung hat machen müssen.

Als nächste in der Pflicht, Fälle von Fetalen Alkoholschäden herauszuarbeiten, stünde die Instanz Jugendhilfe – also die Jugendämter und die freien Träger. Grundsätzlich ist hier Heike Wolter “erstaunt, wie wenig Fälle aus dem Kinderschutzbereich zur Diagnostik kommen.” Des Weiteren lässt sich der Umgang mit dem Thema, auch wenn Berlin einen überschaubaren Rahmen bietet, selbst hier nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

“Das ist von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich. Es ist einzelfallrelevant, vielleicht gibt es Mal Fallhäufungen in einzelnen Jugendämtern oder bei einzelnen Mitarbeitern des Jugendamtes”, sagt der Geschäftsführer des Vereins für Familien und Kinder, Peter Heinßen. Es sei alles möglich, im positiven, wie im negativem, pflichtet ihm Angelika Nitzsche bei, die seit 17 Jahren in der Pflegekinderhilfe tätig ist.

So lässt zum Beispiel der Teamleiter Marco Rüttger beim Jugendamt Mitte verlauten: “Das Fetale Alkoholsyndrom ist bekannt bei uns, es steht jedem frei, sich beim Sonnenhof fortzubilden. Wir haben Material vom (Verein) FASD Deutschland ausliegen. Und wenn wir einen Fall von FAS auf dem Tisch haben, dann sehen wir, dass wir die entsprechenden Maßnahmen einleiten.”

Soweit die Theorie.

In der Praxis sieht das leider oft anders aus. Pflegemutter Andrea kann ein trauriges Lied davon singen. Für ihren Sohn fegte das Jugendamt die FAS-Diagnose aus der Charité von Professor Spohr höchstselbst mit einem Handstreich vom Tisch. Die Pflegemutter sei hysterisch und erzieherisch inkompetent. Den Jungen müsse man nur richtig anpacken und ihm seine Delinquenz austreiben. Die leibliche Mutter betont bis heute, sie habe keinen Alkohol getrunken.

Einerseits regt es Psychiater Spohr auf, dass selbst Diagnosen aus renommierter Hand angezweifelt werden. Anderseits zeigt er auch Verständnis: “Das ist das große Problem. Wenn die leiblichen Mütter nein sagen, sie haben nicht getrunken, dann muss das arme Jugendamt in Marzahn, unterbesetzt wie es ist, entscheiden, und dann kommt die Mutter mit einem Rechtsanwalt.” Diese argumentiere dann sogleich, in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt zu werden.

Kollegin Heike Wolter hatte vor einiger Zeit einen solchen Fall. Es habe sogar ein Erziehungsfähigkeitsgutachten über die leibliche Mutter gegeben, in dem von massivem Alkoholkonsum die Rede gewesen sei. Da die Mutter bei ihrer Behauptung geblieben sei, dass sie keinen Tropfen angerührt habe, musste die FAS-Diagnose zurückgenommen werden.

Juristisch steht das Kindesrecht über dem Elternrecht. In der Praxis, so hat es sich in vielen weiteren Fällen schon bewahrheitet, wird dieses Recht umgekehrt.

Das scheint dazu zu führen, dass so manche Einrichtung das Vorkommen des Fetalen Alkoholsyndroms schlicht und ergreifend negiert. Immer wieder gibt es Rückmeldungen vor allem von Pflegeeltern, die berichten, dass nicht wenige Mitarbeiter von Ämtern und Trägervereinen behaupteten, dass FAS kein Thema sei und sie sich deshalb nicht mit dem Krankheitsbild beschäftigten.

Als die Charité-Ärztin Wolter das hört, kann sie es kaum fassen: “Ich finde es schon erstaunlich, mehr noch, es macht mich sprachlos, dass es noch jemanden gibt heutzutage, der einfach sagt, das gibt es nicht.”

Es geht aber auch ganz anders: Das Kind Ben*, mit sechs Monaten an Pflegeeltern vermittelt, wird in der Kita FAS-auffällig, kommt sofort ins Sozialpädiatrische Zentrum und landet bei Heike Wolter, die den Verdacht bestätigt. Sodann übernimmt eine Charité-Kollegin die Aufgabe, die Mitarbeiter in der Kita über FAS, die Beeinträchtigungen und den Umgang damit aufzuklären.

Der Antrag für den Pflegegrad bei der Krankenkasse wird in die Wege geleitet, die zur Entlastung der Pflegeeltern eine Pflegepatenschaft finanziert. Das Jugendamt genehmigt ohne Diskussionen sofort den erweiterten Förderbedarf. Über den Betrag dürfen die Pflegeeltern frei verfügen. Das Kind bekommt Ergotherapie und passgenauen Schwimmunterrricht. Nicht zuletzt wird ihm ein Integrationshelfer in der Kita zur Seite gestellt.

Die Liste positiver wie negativer Beispiele in Berlin lässt sich beliebig fortsetzen. Einig sind sich alle Akteure auf dem FAS-Parkett: Die Situation in Berlin hat sich zugunsten der Bereitschaft zur Aufklärung, Fortbildung, Diagnostik und Unterstützung Betroffener und ihrer Familien vor allem in den vergangenen fünf Jahren deutlich verbessert.

Aber ausreichend?

Noch lange nicht, wenn 44% der Deutschen nicht wissen, um was es sich beim Fetalen Alkoholsyndrom handelt und das berühmte “Gläschen zum Anstoßen” auch für Schwangere gutheißen.

Es ist überfällig, dass das Fetale Alkoholsyndrom endlich bundesweit als Behinderung anerkannt wird.

*Auf Wunsch und zum Schutz sind nur die Vornamen benannt

Gemeinsames Ziel: Stop dem FAS

Zwischen 800.000 und 1.600.000 Menschen in Deutschland sind aktuell von fetalen Alkoholschäden betroffen, davon rund 160.000 Menschen mit einer schweren Behinderung, dem Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms. Ursache ist, dass die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nicht ausreichend bekannt sind. 44 Prozent der Deutschen wissen nichts darüber. Aufklärung tut dringend Not.

Pro Bundesbürger gab das Bundesministerium für Gesundheit 2018 gerade einmal 0,2 Cent für die Bekämpfung des Fetalen Alkoholsyndroms aus, hat die Bundestagsfraktion der FDP errechnet und klagt außerdem an: Auch für die Erkennung und Behandlung von fetalen Alkoholschäden wird kaum etwas getan.

Das soll sich nach dem Willen der FDP schnellstmöglich ändern. Deshalb hat die Fraktion einen entsprechenden Antrag an die Bundesregierung gestellt. Diesem wird in Zusammenarbeit mit HAPPY BABY NO ALCOHOL für den Gesundheitsausschuss am 3. März noch ein ergänzendes Forderungspaket nachgereicht. Wir werden berichten.

Jenseits dessen sind für die Diskussion im Gesundheitsausschuss Sachverständige angefragt. Aus den Reihen der Supporter von HAPPY BABY NO ALCOHOL sind dies FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr aus Berlin, der Chefarzt und FAS-Experte der Klinik Walstedde bei Münster, Dr. Khalid Murafi, sowie die Initiatorin der Kampagne, die Journalistin Dagmar Elsen.

Um eine Stellungnahme zur Thematik haben wir nun den sucht- und drogenpolitischen Sprecher der FDP, Dr. Wieland Schinnenburg, im Rahmen eines Blog-Gastbeitrags gebeten.

Ungeborene Kinder vor schweren Schäden durch Alkohol schützen

Wie viele Kinder tatsächlich jährlich mit Schäden geboren werden, die auf Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zurückzuführen sind, ist nicht ganz klar. Leider wird die Diagnose immer noch häufig übersehen, oder nicht richtig erkannt. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 10.000 und 20.000 Kinder jährlich betroffen sind und etwa 2.000 bis 3.000 Kinder mit schweren Schäden zur Welt kommen (Drogen- und Suchtbericht 2019, https://bmcmedicine.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12916-019-1290-0). Zusammengefasst werden diese Schäden unter der Bezeichnung Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD). Damit verbundene Symptome sind Wachstumsstörungen, körperliche Fehlbildungen, Störungen im zentralen Nervensystem und Betroffene haben mit neurologischen, kognitiven und psychiatrischen Problemen zu kämpfen. Bei der besonders schweren Form der Schädigung, dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), werden die Kinder mit solch schweren Einschränkungen geboren, dass sie ein Leben lang geistig und körperlich schwerbehindert sind. Legt man eine durchschnittliche Lebenserwartung in der deutschen Bevölkerung von rund 80 Jahren zugrunde, so sind aktuell zwischen 800.000 und 1.600.000 Menschen in Deutschland durch FASD betroffen, davon rund 160.000 Menschen mit einer schweren Behinderung (FAS).

Fetale Alkoholspektrumstörungen sind damit die häufigsten chronischen Erkrankungen, die bereits bei Geburt bestehen (https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs15014-020-2335-8). Das ist besonders tragisch, da FASD eine vermeidbare Ursache hat: Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Schon geringe Alkohol-Mengen können schwere Schäden an ungeborenen Kindern hervorrufen. Bislang wissen jedoch 44 Prozent der Menschen in Deutschland nicht, dass Alkohol in der Schwangerschaft zu schweren Schäden bei ungeborenen Kindern führen kann (Drogen- und Suchtbericht 2018). Zudem konsumieren 20 Prozent der schwangeren Frauen in moderaten Mengen Alkohol, 8 Prozent haben sogar ein riskantes Alkoholkonsumverhalten. Knapp 16 Prozent der schwangeren Frauen praktiziert „Rauschtrinken“ mit mehr als vier alkoholischen Getränken pro Gelegenheit (vgl. Drs. 19/1228). Selbst medizinisches Personal unterschätzt das Risiko von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft (https://bmcmedicine.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12916-019-1290-0).

Trotz der hohen Anzahl an betroffenen Menschen und der Vielzahl von Frauen, die während einer Schwangerschaft Alkohol konsumieren, wird von Seiten der Bundesregierung kaum etwas gegen FASD und FAS unternommen. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat das Thema FASD zu einem ihrer Schwerpunktthemen gemacht – allerdings ohne nennenswerte Aktivitäten. Pro Bundesbürger gab das Bundesministerium für Gesundheit 2018 gerade einmal 0,2 Cent für die Bekämpfung von FAS und FASD aus. Auch für die Erkennung und Behandlung von FASD und FAS wird kaum etwas getan. In den U-Untersuchungen werden Kinder nicht systematisch nach FASD und FAS untersucht (vgl. Drs. 19/6794). Das betreffende Fachpersonal scheint immer noch nicht ausreichend geschult.

Dabei ist eine Prävention und eine möglichst frühe Erkennung von Betroffenen von zentraler Bedeutung, um FASD einzudämmen und wirksam zu behandeln. Hier muss dringend mehr unternommen werden, um Kinder und Eltern vor den schweren Folgen von FASD und FAS zu schützen. Daher fordert die FDP-Bundestagsfraktion in einem aktuellen Antrag ein wissenschaftlich fundiertes Präventionskonzept. Dabei ist wichtig, dass Frauen während ihrer Schwangerschaft mehrmals erreicht werden, um Alkoholkonsum vorzubeugen. Das Wissen in der Allgemeinbevölkerung zur schädlichen Wirkung von Alkohol auf ungeborene Kinder muss gesteigert werden, dafür benötigen wir eine flächendeckende Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Frauen mit einer Alkoholabhängigkeit müssen während ihrer Schwangerschaft besonders unterstützt werden. Außerdem muss das Personal im Gesundheitswesen aufgeklärt und sensibilisiert werden.

Unser Ziel ist es, die Anzahl der Neugeborenen mit FASD und FAS bis zum Jahr 2025 mindestens um die Hälfte zu reduzieren.

Gastautor: Dr. Wieland Schinnenburg

Betreuerin Lisa: “Meine Arbeit wurde teilweise in Frage gestellt”

Lisa, 31 Jahre alt, hatte zunächst in Augsburg eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Im Anschluss arbeitete sie in Berlin in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen. Hier wurde ihr alsbald angetragen, auch für die Betreuung eines jungen Mannes verantwortlich zu sein, dem im Alter von 18 Jahren fetale Alkoholschäden diagnostiziert wurden. Das war 2014. Seit 2018 studiert sie in Regensburg an der Hochschule soziale Arbeit und schreibt gerade an ihrer Bachelorarbeit zum Thema Fetales Alkoholsyndrom. Lisa möchte sich damit fit machen, noch besser aufklären zu können. Das finden wir großartig und wollten mehr von ihr wissen.

Wird an Deiner Uni das Fetale Alkoholsyndrom thematisiert? Wenn ja, in welcher Form?

Lisa: Meiner Meinung wird es total vernachlässigt. Lediglich bei einem Seminar mit dem Titel „Suchterkrankung“ wurde die Thematik in einer Vorlesung angesprochen. Es handelte sich hierbei nicht einmal um eine Pflichtveranstaltung, sondern um einen Wahlkurs. Das heißt, viele meiner Kommilitonen haben während ihres gesamten Studiums nichts vom Fetalen Alkoholsyndrom gehört.

Wann bist Du mit der Thematik zum ersten Mal in Berührung gekommen?

Lisa: Nach meiner Ausbildung zur Erzieherin in Berlin. Neben meiner Tätigkeit in einer Wohngruppe wurde es zu meiner Aufgabe, im ambulant betreuten Wohnen einen jungen Mann zu begleiten, der die Diagnose FASD hatte. Er sollte zum ersten Mal allein in einer eigenen Wohnung zurechtkommen. Vorher hatte er viele Jahre im betreuten Wohnen gelebt.

Warst Du denn auf diesen Job speziell vorbereitet?

Lisa: Im Vorfeld hatte ich noch nie etwas über dieses Krankheitsbild gehört und mir wenig Gedanken darüber gemacht, ob es spezielle Punkte gibt, die zu beachten sind. Auch für die Einrichtung war es neu, da bisher nur Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung begleitet wurden. Aus diesem Grund konnte ich nicht auf bestehende Erfahrungen zurückgreifen. Wenn ich jetzt an die Zeit zurückdenke, wäre einiges leichter gewesen, wenn ich zum damaligen Zeitpunkt schon mehr über die Diagnose gewusst hätte.

Für mich war die Zusammenarbeit mit dem jungen Mann ein Lernprozess, in dem ich immer wieder erfahren musste, wie weitreichend sich dieses Krankheitsbild auf den gesamten Alltag auswirken kann.

Was genau war Dein Arbeitsauftrag?

Lisa: Wir lernten uns kurz vor dem Einzug in seine neue Wohnung kennen und wir waren beide aufgeregt und gespannt, wie unsere Zusammenarbeit, das Einrichten der Wohnung und das Finden gemeinsamer Abläufe werden würde. Ein großes Ziel war die berufliche Integration des jungen Mannes und das Strukturieren seines Alltags.

Aus heutige Sicht – wie bewertest Du Deinen Umgang mit dem jungen Mann?

Lisa: Im Nachhinein weiß ich, dass ich den jungen Mann, vor allem zu Beginn, häufig überfordert habe mit verschiedenen Ideen und Aufgaben, die ich hatte. Für mich einfache und klare Aufgaben, wie das Aufräumen der Wohnung, waren für den jungen Mann nur schwer zu bewältigen. Mit der Zeit verstand ich, dass Handlungsabläufe einfach nicht strukturiert umgesetzt werden konnten, oder gemeinsame Termine nicht „bewusst“ vergessen wurden, sondern diese Aspekte Teil der Behinderung sind. Die größte Herausforderung war für mich immer wieder, Geschehnisse nicht persönlich zu nehmen und zu verstehen, dass es dem jungen Mann einfach nicht möglich war, bestimmte Dinge zu erledigen.

Zum Glück waren wir beide nicht nachtragend und konnten so nach der Bewältigung einiger Hürden gemeinsam einen professionellen Weg finden, um verschiedene Ziele zu erreichen. Wir hatten uns auch schon von Beginn an gut verstanden.

Wir führten viele Gespräche, die mir geholfen haben, die Lebenswelt und das Krankheitsbild des jungen Mannes besser zu verstehen. Ich bin froh, dass er damals so offen mir gegenüber war, obwohl er in seiner Vergangenheit bereits viele negative Erlebnisse mit Fachkräften gemacht hatte. Die Diagnose hatte er erst nach seinem 18. Lebensjahr bekommen. Er erzählte, dass er in seiner Kindheit und Jugend oft missverstanden wurde, dass sein Verhalten häufig fehlverstanden wurde.

Welche Ziele konntet ihr erreichen, welche nicht?

Lisa: Wir erstellten gemeinsam Pläne für verschiedene Aufgaben, auf denen detailliert die einzelnen Arbeitsschritte aufgelistet waren. Viel Zeit nahm das angeleitete Aufräumen der Wohnung ein. Auf den Plänen waren für jeden Tag verschiedenen Aufgaben aufgelistet, welche in der Wohnung erledigt werden sollten. Diese arbeiteten wir gemeinsam bzw. unter Anleitung ab.

Ein weiterer großer Punkt war die Ernährung. Ich versuchte ihm Abläufe beim Kochen zu erklären und diese aufzuschreiben, da er sich ausschließlich von Fertigprodukten ernährte. Eine gesunde Ernährung war wichtig, da er einen zu hohen Zuckerwert hatte und deshalb genau darauf achten sollte, was er zu sich nimmt, um nicht an Diabetes zu erkranken.

Die berufliche Integration war ein weiterer großer Bereich. Das Arbeitsamt wollte ihn immer wieder auf den ersten Arbeitsmarkt schicken, was ihn aber überforderte. Dort wurde die Überforderung nicht erkannt, sondern sein Verhalten als „faul“ eingestuft. Wir erarbeiteten gemeinsam seine Interessen und organisierten verschiedene Praktika im Seniorenheim oder in einer Fahrradwerkstatt. Im Rahmen der Praktika ist es ihm immer wieder schwer gefallen, den dort herrschenden Anforderungen gerecht zu werden.

Auch Betreuer von Menschen mit fetalen Alkoholschäden merken schnell, dass sie bei anderen auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Welche Erfahrungen hast Du gemacht?

Lisa: Das Unverständnis von außenstehenden Personen hat mich immer wieder wütend gemacht. Bei Themen, wie beispielsweise einer geeigneten Arbeitsplatzsuche, kämpften wir immer wieder mit Rückschlägen. Wie eben kurz angesprochen, verstand das Arbeitsamt nicht, dass ihn viele Dinge überforderten. Ich fand es schwer mit anzusehen, dass er durch die Vorgaben vom Amt immer wieder an seine Grenzen gebracht wurde und frustrierende Erfahrungen machen musste. Selbst bei meinen Kollegen habe ich Unverständnis wahrgenommen.

Meine Arbeit wurde teilweise in Frage gestellt, da zum Beispiel die Wohnung trotz aller Bemühungen nicht dem subjektiven Bild von ordentlich entsprach. Die gesamte Zusammenarbeit kam mir wie ein Hürdenlauf vor. Sobald wir das Gefühl hatten eine Hürde überwunden zu haben, zeigte sich die nächste.

Wie ist Dein Eindruck – sind die Menschen über die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft genug aufgeklärt?

Lisa: Ich finde, dass die Gesellschaft nicht ausreichend aufgeklärt ist, welche Folgen der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft haben kann. Immer wieder hört man Aussagen wie „ein Gläschen Sekt während der Schwangerschaft ist doch nicht so schlimm“ oder „das bisschen Alkohol in der Nachspeise macht doch wohl nichts aus während der Schwangerschaft“. Wenn ich solche Aussagen höre versuche ich immer wieder aufzuklären und ein Verständnis zu schaffen. Durch meine Bachelorarbeit kann ich mich nun noch einmal intensiver mit dem Thema auseinandersetzen und hoffe, dass ich durch mein Wissen andere aufklären und für das Thema sensibilisieren kann.

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Alkohol hat im Wehencocktail nichts verloren

Die Schwangerschaft vergeht, der Entbindungstermin rückt näher. Und spätestens, wenn sich das Baby zum Geburtstermin noch nicht auf den Weg gemacht hat, oder sogar über eben diesen hinausgeht, wird über die Möglichkeit der Geburtseinleitung nachgedacht.

Dafür besonders favorisiert von den Hebammen ist da eine “natürliche Art der Geburtseinleitung” – der berühmt berüchtigte Wehencocktail

So weit so gut. Schaut man sich die Zusammensetzung eines Wehencocktails an, stellt man schnell fest: Es gibt viele verschiedene Rezepte und jede anwendende Hebamme hat ihr eigenes. Die Hauptbestandteile des Wehenklassikers sind dabei seit vielen Jahrzehnten immer gleich: Rizinusöl, Fruchtsaft und Alkohol – in Form von Sekt, Rotwein oder Schnaps.

Aber Moment: Alkohol? In der Schwangerschaft? Verabreicht durch eine Hebamme? Das heißt verabreicht von Fachpersonal, welches um die schädigende Eigenschaft des Zellgiftes Alkohol Bescheid weiß? Gibt es etwa einen Tag X in jeder Schwangerschaft, ab der um Stunde Null der hochgiftige Alkohol dem Ungeborenen nicht mehr schadet?

Nein. Gibt es nicht. Alkohol schadet dem Baby. Immer! Jeder Schluck! Zu jeder Zeit! Egal wann in der Schwangerschaft und auch nach der Geburt.

Und warum dann der Alkohol?

Schaut man auf die Wirkungsweise des Wehencocktails, ist das darin enthaltene Rizinusöl der Hauptbestandteil. Es regt den Darm an und fördert die Peristaltik, also die Darmtätigkeit. Diese Darmtätigkeit wiederum wirkt wehenanregend, da sie die Muskulatur der Gebärmutter aktiviert.

Dafür ist der Alkohol nicht notwendig. Er dient allerdings als Emulgator. Was ist ein Emulgator? Es ist ein Hilfsstoff, zwei nicht miteinander vermischbare Flüssigkeiten – beim Wehencocktail das Rizinusöl und der Fruchtsaft – doch mischen zu können.

Jeder, der schon einmal zu Hause ein Salatdressing gemacht hat, wird sich jetzt denken: Aber Moment mal … Flüssigkeit mit Öl mischen .. . ohne Alkohol …. geht das nicht auch…? Genau: mit einem Mixer.

Mixt man Öl mit Flüssigkeit, entsteht eine Öl-in-Wasser-Emulsion. Und das ganz ohne Alkohol als Hilfsmittel. Exakt das Gleiche funktioniert so auch bei dem Wehencocktail.

Anstatt also dem ungeborenen Kind grundlos quasi einen ordentlichen Schnaps, Sekt oder Rotwein zu verabreichen und damit das Risiko einzugehen, dass es zu bleibenden, nicht reversiblen Schäden beim Kind führt, kann es nur heißen:

Alkohol hat im Wehencocktail nichts verloren!

Lieber Geld in einen ordentlichen Mixer investiert, einen alkoholfreien Wehencocktail serviert und mit einem ruhigen Gewissen sagen können: Es ist alles getan, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt.

Gastbeitrag unserer Botschafterin, der Hebamme Christine Krutschinski

PAUL – Professionell. Authentisch. Unabhängig. Loyal

Im Dezember 2017 gründete sich aus einer Initiative von acht Pflegeeltern in Niedersachsen der Pflege- und Adoptivfamilien- unabhängiger Landesverband Niedersachsen (PAUL Niedersachsen) e.V.

Es sollte einen Verband geben, der unverhandelbar und ausschließlich das Wohlergehen der Kinder in den Mittelpunkt seiner Bemühungen stellt und zugleich aktive Lobbyarbeit für Pflege- und Adoptivfamilien betreibt…. professionell, authentisch, unabhängig und loyal.

Unser Landesverband bietet seinen Mitgliedern nicht nur persönliche und telefonische Beratung rund um das Pflegeverhältnis an, sondern begleitet auch als Beistand gemäß § 13 (4) SGB X zu Gesprächen mit Ämtern und Behörden. Wir sind so sehr nah an unseren Mitgliedern und wissen, wo gerade bei besonderen Kindern eine große Erfüllung für die Familie bereichernd wirken kann. Zugleich wissen wir aber eben auch, dass der Schuh manchmal drücken kann, wenn Ämter nicht immer die notwendige Zeit für die Pflegefamilie haben oder/und das Wissen um die speziellen Bedürfnisse der Pflegekinder in ihrem Handeln und Entscheiden nicht angewendet wird.

Hier kann ein Beistand erheblich zur Versachlichung des Gesprächs mit den Mitarbeitern der Ämter beitragen, weshalb wir zunehmend auch angefragt werden, wenn es darum geht, für FASD zu sensibilisieren und zu vermitteln.

Wir erklären uns das große Interesse an einer Mitgliedschaft in unserem Landesverband durch das Bedürfnis von Pflegeeltern, in einer solidarischen Gemeinschaft Halt und ganz praktische Unterstützung zu finden. Denn das hilft gerade auch in Krisenzeiten und fördert die Resilienzen der Beteiligten, was wiederum dazu führt, dass die Pflegekinder ihren sicheren Ort bei den Pflege- und Adoptiveltern spüren können…. was leider nicht immer so gegeben ist, aber unabdingbar so sein sollte.

Unseren Bemühungen in der Pflegekinderhilfe liegt die berechtigte Aussicht zugrunde, dass das Aufwachsen in einem stabilen und kontinuierlichen familiären Lebensumfeld für Kinder und Jugendliche von besonderem Wert ist, und dass die Kontinuität der Beziehung mit und zu Eltern bzw. „psychologischen“ Eltern am besten das Wachstum und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördert. 

Dies ist für alle Pflege- und Adoptivkinder existentiell notwendig, besonders wichtig vor allem für Pflege- und Adoptivkinder, die von FASD betroffen sind und oft schon vor der Herausnahme aus ihrer Herkunftsfamilie oder vor der Adoption nicht die für sie besonders wichtigen förderlichen Bedingungen für ihre Entwicklung vorgefunden haben.

Es gibt immer wieder Pflege- und Adoptivkinder mit physischer, geistiger und/oder psychischer Entwicklungsverzögerungen und herausforderndem Verhalten, was sich erst im Laufe der Entwicklung immer deutlicher herauskristallisiert. Es bestehen bei ihnen oft verschiedene Mischdiagnosen wie sozial-emotionale Entwicklungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Anpassungsstörung, Bindungsstörung, Anpassungsstörung, Traumatisierung und immer öfter ist auch das fetale Alkoholsyndrom bereits festgestellt oder steht zumindest als Verdacht im Raum. Die Entwicklung dieser Kinder verläuft anders…. irgendwie schleppender…. mit Fortschritten zwar aber auch mit plötzlich eintretenden und starken Rückschritten und dann oft so, dass die Eltern sagen, unserem Kind scheint etwas im Wege zu stehen. Eltern beobachten, dass sämtliche pädagogischen und therapeutischen Bemühungen langfristig keine oder nur mäßige Erfolge in der sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder zeigen und die Eltern und auch Sozialarbeiter an sich zweifeln lassen.

Oft hören wir, dass man Pflegeeltern dann sogar unterstellt, sie seien defizitorientiert oder wollten an der Behinderung ihres Pflegekindes wirtschaftlich partizipieren, wenn sie auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder hinweisen und um Berücksichtigung der besonderen Beeinträchtigung FASD  bitten oder manchmal auch einfach nur mehr Unterstützung für die Kinder beantragen.

Unserer Erfahrung nach werden alkoholgeschädigte Pflegekinder, insbesondere diejenigen mit PFAS (partielles FAS) von der Umwelt zu Unrecht oft als frech, faul und unerzogen abgestempelt. Pflegeeltern müssen sich oft anhören, dass sie zu streng oder einfach zu nachlässig in der Erziehung sind, dass sie versagen, übertreiben, dem Kind Unrecht tun, es stigmatisieren. Hier setzen wir uns gezielt für ein besseres Verstehen des Verhaltens der betroffenen Kinder und ihrer Pflege- und Adoptiveltern ein und machen uns dafür stark, auch stets die besonderen Begabungen und Talente der FAS Kinder zu sehen. Viel zu oft mangelt es am dringend notwendigen Lob für ihre oft großen Anstrengungen und Bemühungen, den Erwachsenen in ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Die Haltung den Betroffenen gegenüber sollte eine wertschätzende und überaus ermutigende sein, damit auch sie ein positives Selbstbild entwickeln können. 

Es zeigt sich leider immer wieder und das seit Jahrzehnten, dass immer noch zu wenig Hintergrundwissen zu FASD vorhanden ist und unsere Gesellschaft über diese oft unsichtbare Behinderung und ihre weitreichenden Auswirkungen nicht gut genug aufgeklärt und informiert ist. In den Jugend- und Sozialämtern unterliegen alle Mitarbeiter den regional sehr unterschiedlichen finanziellen und personellen Ressourcen, was dann zur Folge hat, dass wir keine bundesweit einheitlichen Bedingungen für Pflegekinder und hier insbesondere für FAS Kinder vorfinden…. ein Unding in unserer Gesellschaft und eine Baustelle, die politisch bearbeitet werden sollte. Auch in Niedersachsen besteht hier ein immenser Bedarf, die Bedingungen für FASD Betroffene zu verbessern und ein Helfernetzwerk an kundigen Fachkräften weiter auszubauen.

Die von uns unterstützten Pflegeeltern melden uns fast ausnahmslos zurück, wie erleichternd es ist, sich nicht mehr ganz allein zu fühlen, sondern Ansprechpartner zu haben, die als Außenstehende wissen, warum manches einfach schwierig ist und bleibt. So können betreuende Pflege- und Adoptiveltern Entlastung verspüren, denn der Druck lässt sich auf mehreren Schultern oft viel leichter ertragen und auch Erfolge können gemeinsam zum wertvollen Richtungsweiser werden. Wir klären zu FASD auf, übersetzen das oft fehlgedeutete Verhalten der FAS Kinder in Gesprächen mit Ämtern und anderen Behörden, fördern das gegenseitige Verständnis für FASD Betroffene, veranstalten Fortbildungen und Seminare zum Umgang mit den Besonderheiten, organisieren Hilfe zur Selbsthilfe und bieten so einen Austausch, Vernetzung und eine Gemeinschaft an, die trägt. Die fachlich leider immer noch zu weit verbreitete Unkenntnis und daraus erwachsende Ohnmacht müssen aufhören und Pflegeeltern/ Pflegekinder sollen sich in einem Helfer-Netzwerk verstanden fühlen.

Als Verband benennen wir offen und klar, inwiefern die vorgegebenen Strukturen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe/ der Sozialhilfe eine ungenügende Versorgung nicht nur in Niedersachsen darstellen und den Betroffenen leider oft auch regelrecht im Wege stehen, um am Leben teilhaben zu können. Für uns stehen neben der Beratung aber die Prävention und umfassende und nachhaltige Aufklärung im Mittelpunkt, denn diese Behinderung ist zu 100 % vermeidbar. 

Daher unterstützen wir HAPPY BABY NO ALCOHOL und freuen uns, dass diese Initiative nun mit Paul Niedersachsen e.V. zusammenarbeitet.

Gastbeitrag von Silke Hagen-Bleuel, Vorsitzende PAUL Niedersachsen e.V.