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Wir brauchen weitergehende Diagnostik

Öffentliche Anhörung „Alkoholpräventionsstrategie“ im deutschen Bundestag am 03.03.2021

Stellungnahme

Dr. med. Khalid Muraf

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Chefarzt und Geschäftsführender Gesellschafter Klinik Walstedde

 

Die fetalen Alkoholspektrumsstörungen stellen an sich schon eine komplexe Problematik mit vielen unterschiedlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Systemen der betroffenen Kinder da.

Nicht nur, dass die Kinder durch verzögertes Wachstum und retardierende Reifung auffallen. Sie zeigen Organschädigungen, Stigmata (besondere Kennzeichen im Gesicht z.B. schmales Lippenrot, fliehendes Kinn, bestimmt Augenstellung, veränderte Nasenwurzelstruktur, verstrichenes Philtrum etc.), neurologische und motorische Entwicklungsverzögerungen, außerdem seelische Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Jenseits dieser schon äußerst komplexen Beeinträchtigungen, hervorgerufen durch Alkohol- und Drogenkonsum in der Schwangerschaft, sind diese Kinder prädestiniert für weitergehende Belastungsfaktoren.

Hintergrund hierfür ist eine vermehrte Neigung der Mütter, auch während der Schwangerschaft gegen besseres Wissen Alkohol zu konsumieren. Ursache dafür kann z.B. eine bestehende Abhängigkeitserkrankung sein und / oder eine mütterliche, nicht angemessene Einschätzung hinsichtlich der Wirkung des Alkoholkonsums. Beides wiederum kann einhergehen mit affektiven Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen sowie anderen psychiatrischen Erkrankungen – Psychosen, Angststörungen und unspezifische Affekt- und Impulsregulationsstörungen. Hierbei können genetische Komponenten eine Rolle spielen. Das wiederum führt dazu, dass hier ein erhöhtes Risiko besteht, dass die geborenen Kinder neben den alkoholbedingten Erkrankungen eigenständige psychiatrische Erkrankungen mit genetischen Komponenten entwickeln.

Bekanntlich ist die Zeit der Schwangerschaft mit einem höheren Risiko belastet, auch andere psychosoziale Stressoren aufzuweisen: Partnerschaftskonflikte, soziale Belastungen, Armut, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge im Rahmen eines übermäßigen Alkoholkonsums, Partnergewalt, etc. All diese Bedingungsfaktoren führen zu erhöhter Stressauslösung im mütterlichen Organismus, der sich wiederum negativ auf die kindliche Entwicklung im Mutterleib auswirkt. Das bedeutet, dass auch sog. epigenetische Faktoren, also stressbedingte Umprogrammierung genetischer Voraussetzungen in der kindlichen Entwicklung, mit dann erhöhtem Risiko z.B. depressive Erkrankungen entwickeln können.

Die Aspekte der schwerwiegenden lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren während der Schwangerschaft, oder auch mütterlicherseits vor der Schwangerschaft, können einhergehen mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter und einer komplexen Traumafolgeerkrankung. Diese Stressoren, die sich auch auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen, können zu einer deutlichen Beeinträchtigung der frühen nachgeburtlichen Interaktion mit dem Säugling führen. Das wiederum kann die notwendige basale Versorgung des Neugeborenen, sowie die im besonderen emotionale dringend notwendige Resonanz in den ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahren deutlich einschränken. Derlei Resonanzentziehungen können auch bei anderen, ebenso bestehenden psychiatrischen Erkrankungen mütterlicherseits ohne genetische Komponenten – so z.B. bei eigener mütterlicher frühstruktureller Störung (oftmals auch als Borderline-Störung benannt) – relevant sein.

Die eingeschränkte Resonanzfähigkeit mütterlicherseits führt zu einer desorganisierten chaotischen Entwicklung der emotionalen Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationsfähigkeit des Kindes. Das hat entsprechend weitreichende und tiefgreifende Folgen für die weitere emotionale und psychische Entwicklung des betroffenen Kindes; mit dann auch eben der Entwicklung einer sog. frühstrukturellen Störung (also früh entstehend und tief strukturell eingreifend). Das wiederum bedeutet einen sehr langfristigen negativen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, zumeist einhergehend mit den schon frühen Verhaltensauffälligkeiten in der Affekt- und Impulsregulation. Mit dem Eintreten in die Pubertät stellt sich dies noch einmal mehr mit aller Deutlichkeit in der Symptomentwicklung dar, dies vor dem Hintergrund der sogenannten neuronalen Neuvernetzung, die sich mit eintreten in die Pubertät einstellt.

Eine der schwierigen Aufgaben für die betroffenen Kinder ist die Regulation von Gefühlslagen; dies im besonderen in Beziehungen. Das offenbart sich mit dem Eintritt in die Pubertät oftmals ganz besonders durch Brüche mit den Adoptiv- und Pflegefamilien. Die Jugendlichen fallen mit massivem destruktivem Verhaltensweisen auf. Oft sind diese auch gegen sich selbst gerichtet, oder auch gegen innerhalb der bisher vielleicht gerade noch tragfähigen Familienkonstellation bedeutsame und relevante Bezugspersonen.

Nicht selten gibt es bei den von fetalen Alkoholschäden betroffenen Kindern einen Adoptiv- oder Pflegestatus. Allein das Wissen darum stellt für die Kinder eine psychodynamische Last dar, die für sie schwierig zu integrieren ist, wenn sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder

müssen. Zur eingeschränkten Fähigkeit, mit solchen emotionalen Aspekten umzugehen, kommt auf der Ebene des FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) dann auch noch im Sinne der frühstrukturellen Störung oder anderen bestehenden affektiven Erkrankungen eine hohe Neigung zur Dysregulation.

Dies heißt nicht, dass hier eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Psychotherapie besteht. Vielmehr müssen im Behandlungsgang sowohl diese biologisch psychiatrischen Aspekte, teilweise mit einer spezifischen Medikation (z. B. antidepressiven Medikation oder neuroleptischen Medikation oder stimmungsstabilisierenden Medikation), angegangen werden, als auch psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. All dies unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge. Denn bei diesen Kindern kann es sein, dass eine isolierte Fokussierung auf die schon ausreichend komplexe Problematik der FASD-immanenten Folgen zu kurz greift und es eben zusätzlicher spezifischer Behandlungsangebote bedarf.

Hier ist also folgendes zu fordern: Eine weitergehende Diagnostik, sowohl bezogen auf biologische psychiatrische Erkrankungen, Traumafolgeerkrankungen, als auch frühstrukturelle Störungen mit dem Risiko der weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung. So wird sichergestellt das spezifische Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickelt werden.

Bezogen auf eigene Traumafolgeerkrankung ist auffällig, dass das Milieu, in dem ein erhöhtes Risiko mit vermehrtem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht, eben auch ein Risikomilieu sein kann für frühe Traumatisierung, miterlebter Partnergewalt, selbst erlebter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen.

Nicht zuletzt ist zu beobachten und zu berücksichtigen, dass vor allem bei den Mädchen die fehlende Selbstwirksamkeit der FASD-Kinder bei gleichzeitig ausgeprägtem Wunsch sozial erfolgreich zu sein dazuzugehören, anderen zu gefallen, zu einer leichten Beeinflussbarkeit führen kann, die dazu führt, dass sie selber niederschwellig Opfer von Traumatisierungen werden durch sexuelle Ausbeutung und sexuelle Grenzverletzung.

Hier erleben die Kinder und Jugendlichen über die einfachen Aspekte von sexueller Attraktivität eine hohe Selbstwirksamkeit und eine inadäquate zunehmende Bedeutung für eine andere Person, können dies aber leider nicht genau differenzieren. Dadurch können sie sich selbst nicht ausreichend schützen und werden so nur Objekt der Begierde, aber nicht um ihrer selbst Willen begehrt und geliebt.

Darüber hinaus ist durch die Veränderung der Ansprechbarkeit des sogenannten dopaminergen Systems (Dopermin als Neurotransmitter gerade im Belohnungssystem) im Grunde eine hohe Suchtentwicklungsbereitschaft vorprogrammiert, so dass der Kontakt mit mindestens Alkohol aber auch anderen Suchtmitteln bis hin zu Medienkonsum niederschwelliger Suchterkrankungen

entwickeln lässt und damit auch frühzeitig spezifisch thematisiert werden sollten, wenn möglich in Prävention, spätestens aber als Sekundärprofilaxe im weiteren Verlauf der seelischen Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Risikostruktur über die eigentlichen unmittelbar durch den Alkoholkonsum ausgelösten Belastungen der betroffenen Kinder teilweise deutlich hinausgeht, diese differentialdiagnostisch zusätzlich einer Untersuchung bedarf, im besonderen dann, wenn die bisherigen FASD-orientierten Behandlungsmethoden nicht ausreichend erscheinen, um schließlich noch einmal weitergehende spezifische Behandlungsmethoden angepasst an die individuellen Möglichkeiten zu etablieren.

Mit 18 bin ich trotz FAS kein Kind mehr

Ich merkte es selbst. Das Rad drehte immer schneller. Ich wurde immer aggressiver, fuhr immer schneller aus der Haut, konnte meine Wutausbrüche kaum mehr regulieren. Ich rastete immer wieder so sehr aus, dass ich mich selbst verletzte, indem ich brutal gegen die Wände schlug bis die Handknöchel aufplatzten, oder zumindest der Handrücken blau anschwoll. Ich hatte keine Lust mehr auf die Arbeit in der Küche des Altenwohnheims, ich hatte keine Lust mehr in der Wohngemeinschaft zu leben. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses verdammte Leben.

Ich war nur noch selten gut gelaunt unterwegs. Im Grunde war ich dauerwütend. Das bekamen vor allem die Betreuer in der WG zu spüren. Ich war verbal ausfallend, behandelte alle wie Dreck, hielt mich nicht mehr an Regeln, manche hatten sogar Angst vor mir. Immer öfter ging ich nicht mehr zur Arbeit. Wenn ich es vermeiden konnte, blieb ich der WG fern, schlief ständig bei irgendwelchen Freunden.

Warum auf einmal dieser Stimmungswandel, da bisher ja eigentlich alles soweit ganz gut gelaufen war?

Ich war inzwischen 18 Jahre alt geworden und ich fühlte mich immer noch behandelt wie ein Kind. Ständig wurde ich bevormundet. 18 Jahre heißt ja schließlich volljährig, selbst bestimmen, was man tun und lassen will, nicht mehr permanent unter Beobachtung stehen. Ich hatte auch keine Lust mehr auf dämliche Spieleabende in der WG, keine Lust auf Gemeinschaftskochen, keine Lust auf gemeinsames Ausgehen am Samstagabend. Ich hatte kein Bock mehr für alles ständig kontrolliert zu werden. Und ich wollte mich nicht mehr für alles und jedes rechtfertigen müssen. Ich wollte behandelt werden als erwachsener Mensch. Ich wollte insgesamt mehr Freiraum im Rahmen der Betreuung.

Dass ich nicht alles alleine konnte, war mir schon klar. Ich schaffe es zum Beispiel nicht, regelmäßig selbständig aufzustehen und pünktlich zur Arbeit zu kommen. Ich komme einfach mit der Zeit nicht klar, weil mir das Gefühl dafür fehlt. Geld muss ich wöchentlich ausgehändigt bekommen, sonst gebe ich alles auf einmal aus. Meine vielen Arztbesuche, Friseurtermine und solche Dinge kann ich nicht alleine organisieren, da brauche ich Hilfe.

Meine Mutter war im alarmierten Dauereinsatz, die WG-Betreuer zu beruhigen und nach einer Lösung zu suchen. Die Idee war: Einzelzimmer-Appartement im gleichen Haus der Wohngemeinschaft. Das gab es, diese waren aber belegt. Ich sollte mich in Geduld üben. Man arbeite daran, hieß es wieder und wieder. Die Wochen verstrichen, die Monate zogen ins Land. Nichts passierte, gar nichts. Mir riss der Geduldsfaden. Ich beschwerte mich bei meiner Mutter, dass sich nichts ändere. Sie bot mir an, dass sie nach anderen Möglichkeiten schauen könne, was aber mit einem Ortswechsel verbunden sei. Das wollte ich nicht. Veränderungen sind anstrengend für mich, im Grunde überfordern sie mich. Außerdem wollte ich meine Freunde nicht verlieren.

In der WG fing ich wieder an zu randalieren. Die Betreuer unterstellten mir, ich sei gewalttätig. Sie glaubten, ich würde mit Kriminellen abhängen. Heimlich durchsuchten sie mein Zimmer, schauten in meine Schränke. Das ist verboten. Das interessierte sie aber nicht. Was sie fanden, brachten sie zur Polizei und wollten mich wegen Waffenbesitzes anzeigen, um mich schon allein aus diesem Grund rausschmeißen zu können. Der Trick funktionierte aber nicht. Denn was sie der Polizei vorlegten, war schlicht ein Brieföffner, dessen Klinge nicht einmal lang genug war, um als Waffe zu gelten. Den hatte ich mal im Sperrmüll gefunden. Dann unterstellten die Betreuer mir noch, im Supermarkt geklaut zu haben. Auch das war Fake.

Trotzdem, eines Tages kam es blitzartig zum Shutdown. Denn wenn ich mich nicht an die Vorgaben und Regeln der WG hielte, passe ich nicht mehr in den vorgegebenen Rahmen. Zwei Betreuer kamen auf mich zu und sagten: “Pack Deine Sachen. Du bist raus. Maßnahme beendet.” In wilder Hast musste ich zwei Taschen packen. Draußen wartete die Polizei. Ich musste mit auf die Polizeistation. Meine Mutter war über die ganze Aktion nicht informiert. Das hatten die Mitarbeiter der Wohngemeinschaft gemeinsam mit dem Jugendamt heimlich abgestimmt. Der Rausschmiss bedeutete aber auch: Da landet ein volljähriger zu 80 Prozent Schwerbehinderter mit den Merkmalen G,B,H quasi obdachlos auf der Straße. Deshalb hatte die Einrichtung die Polizei verständigt. Sollten die doch sehen, was sie mit mir machen. Wow!

Die Polizisten waren sehr nett zu mir. Sie kannten mich. Einer, der Chef, rief meine Mutter an und ich hörte wie er sagte, dass er nichts schlechtes über mich sagen könne. Er kenne mich aus dem Ort nur freundlich und kooperativ. Dass ich gewaltbereit sei, das könne er nicht bestätigen. Meine Mutter jedenfalls fiel aus allen Wolken und war fassungslos über all das Geschehen.

Jetzt war guter Rat teuer. Aber meine Mutter, ja die kann tatsächlich Berge versetzen. Um es kurz zu machen: Ich kam in eine andere Stadt in eine offene Wohngemeinschaft mit ambulanter Betreuung. Über das Bildungswerk wurde ich für Praktika an Altenwohnheime vermittelt, um dort in der Küche zu arbeiten.

Tja, was soll ich sagen. Zunächst ging das alles einigermaßen gut. Ich genoss vor allem meine neu erworbene Freiheit. In den ersten Wochen kümmerte sich meine Mutter sehr intensiv um mich. Für mich war ja alles neu und fremd. Ich musste so viele neue Menschen kennenlernen. Ich musste so viele Wegstrecken erlernen. Wie oft stand ich irgendwo völlig orientierungslos und wusste nicht weiter, war außer mir, wütend über die Situation, über mich, weil ich mir nicht selber helfen konnte, es hasste, unfähig zu sein. Die Betreuer, die ich vor Ort hatte, konnte ich in solchen Situationen nicht anrufen. Die hatten feste Zeiten mit mir. Das machte mich wütend. Das war schwierig für mich einzusehen. Deshalb musste meine Mutter immer am Telefon herhalten. Das war nervenaufreibend – für sie, für mich.

Ich musste lernen, wo ich was einkaufen und wo ich was im Supermarkt finden konnte. Die Supermärkte hier waren um ein vielfaches größer als das, was ich von vorher gewohnt war. Bis ich dann endlich mal die Produkte, die ich gewohnt war, in den Regalen gefunden hatte, dauerte. Ich vergaß vieles wieder. Anfangs begleitete mich meine Mutter, dann wollte ich allein. Das klappte mehr schlecht als recht, so dass ich häufig entnervt war. Meine Mutter weigerte sich, mich dauerhaft so intensiv wie zu Anfang zu unterstützen. Das sollte die Aufgabe der Betreuer sein. Das wollte ich aber nicht. Ich kannte die doch gar nicht. Ich bockte viel und war unfreundlich. Es dauerte, bis ich mich auf fremde Hilfe einließ.

Dann kam die Pandemie und damit der erste Lockdown, der alles verändern sollte.

Niedergeschrieben von Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

PAUL – Professionell. Authentisch. Unabhängig. Loyal

Im Dezember 2017 gründete sich aus einer Initiative von acht Pflegeeltern in Niedersachsen der Pflege- und Adoptivfamilien- unabhängiger Landesverband Niedersachsen (PAUL Niedersachsen) e.V.

Es sollte einen Verband geben, der unverhandelbar und ausschließlich das Wohlergehen der Kinder in den Mittelpunkt seiner Bemühungen stellt und zugleich aktive Lobbyarbeit für Pflege- und Adoptivfamilien betreibt…. professionell, authentisch, unabhängig und loyal.

Unser Landesverband bietet seinen Mitgliedern nicht nur persönliche und telefonische Beratung rund um das Pflegeverhältnis an, sondern begleitet auch als Beistand gemäß § 13 (4) SGB X zu Gesprächen mit Ämtern und Behörden. Wir sind so sehr nah an unseren Mitgliedern und wissen, wo gerade bei besonderen Kindern eine große Erfüllung für die Familie bereichernd wirken kann. Zugleich wissen wir aber eben auch, dass der Schuh manchmal drücken kann, wenn Ämter nicht immer die notwendige Zeit für die Pflegefamilie haben oder/und das Wissen um die speziellen Bedürfnisse der Pflegekinder in ihrem Handeln und Entscheiden nicht angewendet wird.

Hier kann ein Beistand erheblich zur Versachlichung des Gesprächs mit den Mitarbeitern der Ämter beitragen, weshalb wir zunehmend auch angefragt werden, wenn es darum geht, für FASD zu sensibilisieren und zu vermitteln.

Wir erklären uns das große Interesse an einer Mitgliedschaft in unserem Landesverband durch das Bedürfnis von Pflegeeltern, in einer solidarischen Gemeinschaft Halt und ganz praktische Unterstützung zu finden. Denn das hilft gerade auch in Krisenzeiten und fördert die Resilienzen der Beteiligten, was wiederum dazu führt, dass die Pflegekinder ihren sicheren Ort bei den Pflege- und Adoptiveltern spüren können…. was leider nicht immer so gegeben ist, aber unabdingbar so sein sollte.

Unseren Bemühungen in der Pflegekinderhilfe liegt die berechtigte Aussicht zugrunde, dass das Aufwachsen in einem stabilen und kontinuierlichen familiären Lebensumfeld für Kinder und Jugendliche von besonderem Wert ist, und dass die Kontinuität der Beziehung mit und zu Eltern bzw. „psychologischen“ Eltern am besten das Wachstum und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördert. 

Dies ist für alle Pflege- und Adoptivkinder existentiell notwendig, besonders wichtig vor allem für Pflege- und Adoptivkinder, die von FASD betroffen sind und oft schon vor der Herausnahme aus ihrer Herkunftsfamilie oder vor der Adoption nicht die für sie besonders wichtigen förderlichen Bedingungen für ihre Entwicklung vorgefunden haben.

Es gibt immer wieder Pflege- und Adoptivkinder mit physischer, geistiger und/oder psychischer Entwicklungsverzögerungen und herausforderndem Verhalten, was sich erst im Laufe der Entwicklung immer deutlicher herauskristallisiert. Es bestehen bei ihnen oft verschiedene Mischdiagnosen wie sozial-emotionale Entwicklungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Anpassungsstörung, Bindungsstörung, Anpassungsstörung, Traumatisierung und immer öfter ist auch das fetale Alkoholsyndrom bereits festgestellt oder steht zumindest als Verdacht im Raum. Die Entwicklung dieser Kinder verläuft anders…. irgendwie schleppender…. mit Fortschritten zwar aber auch mit plötzlich eintretenden und starken Rückschritten und dann oft so, dass die Eltern sagen, unserem Kind scheint etwas im Wege zu stehen. Eltern beobachten, dass sämtliche pädagogischen und therapeutischen Bemühungen langfristig keine oder nur mäßige Erfolge in der sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder zeigen und die Eltern und auch Sozialarbeiter an sich zweifeln lassen.

Oft hören wir, dass man Pflegeeltern dann sogar unterstellt, sie seien defizitorientiert oder wollten an der Behinderung ihres Pflegekindes wirtschaftlich partizipieren, wenn sie auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder hinweisen und um Berücksichtigung der besonderen Beeinträchtigung FASD  bitten oder manchmal auch einfach nur mehr Unterstützung für die Kinder beantragen.

Unserer Erfahrung nach werden alkoholgeschädigte Pflegekinder, insbesondere diejenigen mit PFAS (partielles FAS) von der Umwelt zu Unrecht oft als frech, faul und unerzogen abgestempelt. Pflegeeltern müssen sich oft anhören, dass sie zu streng oder einfach zu nachlässig in der Erziehung sind, dass sie versagen, übertreiben, dem Kind Unrecht tun, es stigmatisieren. Hier setzen wir uns gezielt für ein besseres Verstehen des Verhaltens der betroffenen Kinder und ihrer Pflege- und Adoptiveltern ein und machen uns dafür stark, auch stets die besonderen Begabungen und Talente der FAS Kinder zu sehen. Viel zu oft mangelt es am dringend notwendigen Lob für ihre oft großen Anstrengungen und Bemühungen, den Erwachsenen in ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Die Haltung den Betroffenen gegenüber sollte eine wertschätzende und überaus ermutigende sein, damit auch sie ein positives Selbstbild entwickeln können. 

Es zeigt sich leider immer wieder und das seit Jahrzehnten, dass immer noch zu wenig Hintergrundwissen zu FASD vorhanden ist und unsere Gesellschaft über diese oft unsichtbare Behinderung und ihre weitreichenden Auswirkungen nicht gut genug aufgeklärt und informiert ist. In den Jugend- und Sozialämtern unterliegen alle Mitarbeiter den regional sehr unterschiedlichen finanziellen und personellen Ressourcen, was dann zur Folge hat, dass wir keine bundesweit einheitlichen Bedingungen für Pflegekinder und hier insbesondere für FAS Kinder vorfinden…. ein Unding in unserer Gesellschaft und eine Baustelle, die politisch bearbeitet werden sollte. Auch in Niedersachsen besteht hier ein immenser Bedarf, die Bedingungen für FASD Betroffene zu verbessern und ein Helfernetzwerk an kundigen Fachkräften weiter auszubauen.

Die von uns unterstützten Pflegeeltern melden uns fast ausnahmslos zurück, wie erleichternd es ist, sich nicht mehr ganz allein zu fühlen, sondern Ansprechpartner zu haben, die als Außenstehende wissen, warum manches einfach schwierig ist und bleibt. So können betreuende Pflege- und Adoptiveltern Entlastung verspüren, denn der Druck lässt sich auf mehreren Schultern oft viel leichter ertragen und auch Erfolge können gemeinsam zum wertvollen Richtungsweiser werden. Wir klären zu FASD auf, übersetzen das oft fehlgedeutete Verhalten der FAS Kinder in Gesprächen mit Ämtern und anderen Behörden, fördern das gegenseitige Verständnis für FASD Betroffene, veranstalten Fortbildungen und Seminare zum Umgang mit den Besonderheiten, organisieren Hilfe zur Selbsthilfe und bieten so einen Austausch, Vernetzung und eine Gemeinschaft an, die trägt. Die fachlich leider immer noch zu weit verbreitete Unkenntnis und daraus erwachsende Ohnmacht müssen aufhören und Pflegeeltern/ Pflegekinder sollen sich in einem Helfer-Netzwerk verstanden fühlen.

Als Verband benennen wir offen und klar, inwiefern die vorgegebenen Strukturen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe/ der Sozialhilfe eine ungenügende Versorgung nicht nur in Niedersachsen darstellen und den Betroffenen leider oft auch regelrecht im Wege stehen, um am Leben teilhaben zu können. Für uns stehen neben der Beratung aber die Prävention und umfassende und nachhaltige Aufklärung im Mittelpunkt, denn diese Behinderung ist zu 100 % vermeidbar. 

Daher unterstützen wir HAPPY BABY NO ALCOHOL und freuen uns, dass diese Initiative nun mit Paul Niedersachsen e.V. zusammenarbeitet.

Gastbeitrag von Silke Hagen-Bleuel, Vorsitzende PAUL Niedersachsen e.V.

Paten – für die Kinder geliebte Bezugsperson, für gestresste Eltern Entlastung

“Unsere Tochter Mimi* hat ein sehr sehr hohes Energielevel, welches uns sehr häufig an unsere Grenzen bringt”, erzählt Pflegemutter Sarah*. Der kleine, vier Jahre alte Unruhegeist hat im vergangenen Jahr das Fetale Alkoholsyndrom diagnosdiziert bekommen, fordert von seinen Eltern permanente Aufmerksamkeit. An manchen Tagen brennen denn auch schon eine Stunde nach dem Aufstehen alle Lichter im Kopf der gestressten Eltern. Der dringende Wunsch nach “Entlastung und Zeit für uns” führte Sarah zu “Patenkinder Berlin”, einem Angebot der in der Hauptstadt ansässigen Familien für Kinder gGmbH.

Das Projekt „Patenkinder Berlin“ richtet sich grundsätzlich an alle Kinder, die einen Pflegegrad haben. Ein Großteil sind jedoch Pflegekinder. “Die ursprüngliche Idee war der Wunsch Pflegeeltern zu entlasten, die oft von der anstrengenden Erziehungsarbeit mit den Pflegekindern berichteten und darüber, dass unvorbereitete Betreuungspersonen völlig überfordert sind und oft nicht wiederkommen”, weiß Jutta Ringel, Sozialpädagogin und zuständig für die Projektkoordination bei “Patenkinder Berlin”. Außerdem tun sich Pflegekinder erfahrungsgemäß schwerer Freundschaften zu schließen. “Pat*innen sollen konstante Bezugspersonen sein, mit denen die Kinder verschiedene Freizeitaktivitäten machen können und die sich ihnen einmal in der Woche Eins-zu-eins widmen, was Eltern ja aufgrund ihrer zahlreichen anderen Aufgaben nicht permanent leisten können”, erläutert die Fachfrau.

Kontinuität ist auch für Sarah ein wichtiger Aspekt, sowie vollständiges Vertrauen. Sarah ist es wichtig, dass die Bezugsperson Lust hat sich auf ihre Tochter einzustellen, sich mit ihren besonderen Eigenschaften auseinandersetzt, Mimi’s Stärken erkennt und nutzt und ihr die Welt zeigt. Die Wahl fiel hier auf eine junge Medizinstudentin, die, so Sarah’s Beschreibung, sehr sportlich, vielseitig interessiert und so lebensfroh ist, dass sie alle damit ansteckt. “Mimi ist zwar noch zu jung, um der Patenschaft eine Bedeutung beizumessen”, sagt Sarah. Wichtig sei aber letztlich, dass Mimi eine Spielkameradin habe, die ihr die heiß geliebte Eins-zu-eins-Betreuung schenke.

Von freudigen Kindern, die kaum erwarten können, dass es endlich losgeht, weiß auch Jutta Ringel zu berichten. Die Tatsache, dass jemand regelmäßig zu ihnen komme und sich ausschließlich nur ihnen widme – ohne nebenbei noch schnell die Spülmaschine auszuräumen – erlebten die Kinder als etwas Besonderes. Die Sozialpädagogin: “Für Pflegekinder sind Patenschaften auch oft eine Möglichkeit zu üben, wie man positive Beziehungen eingeht bzw. wie man Freundschaften knüpft. Dass man sich streiten und sich beim nächsten Treffen aussprechen kann und dass eine Freundschaft nicht zu Ende ist, nur weil man sich nicht einig oder wütend auf den anderen ist.”

Das Fetale Alkoholsyndrom ist ein Thema, das allein durch sein hohes Aufkommen zunehmend an Bedeutung gewinnt. 10.000 Babys jährlich kommen mit Alkoholschäden auf die Welt. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht von einer Dunkelziffer von 1,5 Millionen Betroffenen aus, da oft genug unerkannt oder falsch oder nur teilsymptomatisch diagnostiziert (sprich Autismus, ADHS). Wie sind hier die Erfahrungen bei Patenkinder Berlin?

Jutta Ringel: Fast die Hälfte der Patenkinder im Projekt hat die Diagnose FAS. Einige Pflegeeltern berichten, dass es ein sehr langer Weg war, bis die Diagnose tatsächlich bestätigt wurde. Ich weiß von einem Mädchen, die schon 11 Jahre war, als sie die Diagnose FAS bekam.

Für Pflegeeltern ist es, glaube ich, meistens erstmal ein Schock zu erfahren: mein Pflegekind hat FAS. Später dann im Alltag ist das Wissen um FAS eine Erleichterung, weil das mitunter auffällige Verhalten der Kinder und auch die Entwicklungsverzögerungen dann eine schlüssige Erklärung haben. Die Menschen in der Umgebung der Familie reagieren auch verständnisvoller, wenn es eine diagnostizierte Krankheit oder Behinderung gibt.

Für die Patenschaften ist es meiner Meinung nach nicht so relevant, dass die Kinder diagnostiziert sind. Hier geht es ausschließlich um Freizeitgestaltung. Die Kinder müssen weder etwas leisten noch funktionieren. Sie können in ihrem Tempo die Sachen machen, an denen sie Spaß haben, egal ob mit oder ohne Diagnose.

Werden die Pat*innen auf Kinder mit Handicaps, im speziellen auch auf das Fetale Alkoholsyndrom, vorbereitet?

Jutta Ringel: Wir haben verschiedene Seminare, mit denen wir die Ehrenamtlichen auf die Patenschaften vorbereiten bzw. die begleitend stattfinden. Dort geht es immer wieder um die Vorgeschichte der Kinder, verschiedene Krankheitsbilder und welches Verhalten daraus resultieren kann. Dazu haben wir eine regelmäßig stattfindende Intervisionsgruppe, wo wir immer wieder aktuelle Themen aufgreifen und gemeinsam bearbeiten. In diesem Kontext war auch das Thema FAS schon mehrfach aktuell. Wir arbeiten mit dem FAS-Methodenkoffer in der Gruppe und in Einzelgesprächen mit den Ehrenamtlichen. Der Koffer ist zwar eher für Betroffene und ihre Eltern konzipiert, aber auch in der Rolle als Ehrenamtliche kann man viele nützliche Ideen für Lösungen bekommen.

Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom sagen von sich selbst: Wir sind nochmal anders als anders – Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen?

Jutta Ringel: In den Vorgesprächen erlebe ich diese Kinder meist als sehr lebendig und auch chaotisch. Sie spielen sich in einer Stunde durch 20 verschiedene Spielmöglichkeiten und sind ständig in Bewegung. Da bekomme ich eine Idee davon, wie anstrengend der Alltag mit einem Kind sein kann, dass ein Fetales Alkoholsyndrom hat. Die Geschichten der Pflegeeltern bestätigen das auch. Die Kontakte mit den Pat*innen laufen in der Regel aber gut. Ich denke das liegt daran, dass sie sich für die Stunden, die sie mit dem Kind verbringen, voll auf das Kind fokussieren. Die emotionalen Beziehungen zwischen den Ehrenamtlichen und den Kindern sind meist stabil und die Rückmeldungen der Ehrenamtlichen positiv.

Es gibt natürlich auch schwierige Situationen, wenn Kinder aggressive Ausfälle haben und bei Ausflügen das Kind z. B. mit Stöcken oder Steinen wirft. Dann versuchen wir im Einzelgespräch zu klären, welche Handlungsmöglichkeiten die Ehrenamtlichen haben, um mit der Situation gut umzugehen.

 

Wenn man eine Patenschaft übernehmen möchte …..

Jutta Ringel: Wir führen mit allen Ehrenamtlichen ein Einzelgespräch, um ihre Eignung zu überprüfen und ihr Profil herauszuarbeiten. Dafür füllen die Ehrenamtlichen auch Fragebögen aus. Für uns ist beispielsweise wichtig, dass die Pat*innen verlässlich sind, dass sie sich auf die Bedürfnisse der Kinder einstellen können und dass sie in der Lage sind eine positive Beziehung zu knüpfen, denn Patenschaften sind besonders am Anfang anstrengende Beziehungsarbeit. Wir finden es wichtig, dass die Ehrenamtlichen selbst gut vernetzt sind, das sie ihre Freizeit aktiv verbringen und eigene Hobbys haben.

Die Motivationen der Ehrenamtlichen sind sehr unterschiedlich. Oft steht der Wunsch, ein Kind ins Leben zu begleiten und als Bezugsperson für das Kind ansprechbar zu sein im Vordergrund. Manche Ehrenamtliche freuen sich darauf, Ausflüge zu unternehmen oder Dinge zu erleben, die man als erwachsener Mensch ohne Kinder nicht erlebt. Weil es sowieso immer ganze Motivationsbündel gibt, die die Ehrenamtlichen antreiben, haben wir da keine Vorgaben. Gut ist es, wenn die Vorstellungen von der Patenschaft möglichst offen sind. Dann kann sich die Patenschaft kreativer entwickeln und es bleibt mehr Raum für die Ideen und Wünsche der Kinder.

https://www.patenkinder-berlin.de

Infoline: 030/ 21 00 21 28

*Namen geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Nein, es wächst sich nicht aus!”

Der neun Jahre alte Dennis lacht dem Leben ins Gesicht, ein lustiger Kerl ist er, fröhlich und den Menschen zugetan. Auch ein sehr liebes Kind, sagt seine Mutter. Dennis ist begeisterter Musikfan, er liebt Tiere, vor allem den Familienhund und die Katzen, mit denen er aufwächst, und er beschäftigt sich mit allem, was unter den Begriff Landwirtschaft fällt. Das macht ihn glücklich und froh. Seine Adoptiveltern, die liebt er über die Maßen. “Er braucht viel Liebe und Nähe“, sagen sie. Die geben sie ihm gern. Zumal auch sie ihn über alles lieben.

Eigentlich ist Dennis ein allseits beliebtes Kind. Eigentlich! Wieso eigentlich? Was hat er, das sagen lässt – eigentlich? Man sieht oder merkt ihm nichts an – weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick.

Als seine Mutter Dominique beginnt zu erzählen, tut sie dies in einer Atemlosigigkeit, die schon vermuten lässt, dass sich hier Unglaubliches Bahn bricht. Und so ist es auch. Es ist eine Geschichte, bei der man von einer Fassungslosigkeit in die nächste stürzt.

In Sachen eigenem Kinderwunsch meinte es das Schicksal mit Dominique und ihrem Mann Michael nicht gut. Dominique leidet unter dem PCO-Syndrom. Zahlreiche künstliche Befruchtungen schlugen fehl. Die beiden gaben auf und entschieden, ein Herzenskind zu adoptieren. Der Antrag wurde positiv beschieden.

Als sie beim Jugendamt gefragt wurden, ob es ein Kind von Drogenabhängigen oder von Rauchern sein dürfe, oder auch ein Kind, bei dem bekannt sei, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe, lehnten Dominique und ihr Mann dies ab. Das wurde schriftlich festgehalten und unterschrieben. Dass Alkoholgenuss, Drogen und Rauchen schädlich für das ungeborene Lebensei, darüber waresie vom Jugendamt aufgeklärt worden. Die Folgen, das Fetale Alkoholsyndromblieben unerwähnt. Davon hatten die Beiden bis zum Tag der Tage auch noch nie etwas gehört.

Aber zurück zu den Anfängen: “Überglücklich” war das Paarals das Jugendamt ihnen eines Tages, es war gegen Ende 2010, mitteilte: Wir haben einen Jungen für sie. Dennis heißt erist 13 Monate alt, lebt bei einer Pflegefamilie. Dominique und Michael bekamen die Auflage, Dennis langsam kennenzulernen, sich sukzessive einander zu gewöhnen und Nähe aufzubauen. Im Februar 2011 durften sie ihn zu sich nach Hause holen.

Allerdings mit der Auflage des Jugendamtes”, erzählt Dominique, “dass niemand von außerhalb an das Kind herandürfe. Dafür musste sie ihren Beruf aufgeben. Alles drehte sich nur noch um Dennis. “Eineinhalb Jahre lang konnte ich nirgendwo hingehen”, erinnert sich die heute 34jährige noch zu gut.

Fassungslosigkeit 1: Eineinhalb Jahre? So lange? Warum? “Es dauerte so lange, bis wir es geschafft hatten, eine feste Bindung zwischen uns aufzubauen, dass Dennis anfing zu sprechen, dass er Nähe zuließ und Mama und Papa zu uns sagte“, erinnert sich seine Mutter. “Er hat immer nur Fäuste gemacht. Er ist immer zu fremden Leuten gelaufen statt zu uns, auch ster noch”, erinnert sich seine Mutter, ich habe geheult und dachte, ich mache irgend etwas falsch.

Der kleine Junge zeigte sich völlig traumatisiert. Er schrie und schrie und schrie. Zu dieser Zeit glaubten Dominique und ihr Mann noch, das liege an den schrecklichen Umständen. Ihnen war bekannt, dass Dennis’ leibliche Mutter das Kind nach der Geburt zum Kindernotdienst gebracht hatte. Von dort ging es zu ersten Pflegefamilie. Wenige Wochen später wollte die leibliche Mutter ihr Baby wieder haben. Es dauerte nicht lange, und Dennis landete wieder beim Kindernotdienst, bis ihn die nächste Pflegefamilie aufnahm.

Heute wissen es die Adoptiveltern besser: Ständiges Schreienebenso wie die Schwierigkeit Bindungen aufzubauen, spätes Sprechen lernen und das hemmungslose Zutrauen zu fremden Menschen, zumal das alles in der Kombination, sind typische Anzeichen für FAS.

Fassungslosigkeit 2: Es kam der Tag, da Dennis in die Kita kam. Dort war er schnell als das “schwierige Kind” verschrien. Dennis hielt partout die Regeln nicht ein, er kasperte ständig herum, wollte alle Aufmerksamkeit nur auf sich ziehen, hatte Wutanfälle, wenn etwas nicht nach seinem Kopf war, ärgerte die Spielkameraden. “Für die Erzieher war das sehr anstrengend mit ihm”, stellt Dominique klar. Sie waren definitiv überfordert, auch wenn sie sich allergrößte Mühe gaben. Ebenso wie die Eltern zu Hause stellten die Erzieher in der Kita fest, dass Dennis zudem massive Entwicklungsdefizite hatte. Seine Auffassungsgabe funktionierte nur im direkten Blickkontakt. Zusammenhänge erfassen, das konnte er überhaupt nicht. Ungewöhnlich war auch, dass er die Farben nicht lernte.

Dennis bekam therapeutische Unterstützung: Logopädie und Ergotherapie. Es hieß: Das wird noch. Von wegen. In Absprache mit den Adoptiveltern bestellte die Leiterin der Kita Entwicklungstests. Ergebnis: Dennis war mit vier Jahren auf dem Stand eines zweijährigen. Dennis wurde den Kita-Erziehern zur Last. Die waren richtig genervt, berichten seine Eltern. Irgendwann gab ihnen der Kinderarzt ohne weitere Erklärung eine Überweisung nach Leipzig ins Sozialpädiatrische Zentrum.

Fassungslosigkeit 3: “Als ich nach Leipzig kam, war die erste Frage der Ärztin, ob die leibliche Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe”, weiß Dominique noch zu gut, “ich verneinte natürlich, denn so war es beim Jugendamt schriftlich festgehalten worden. Uns war lediglich gesagt worden, dass der leibliche Vater Alkoholiker sei, die Mutter unter Schwangerschaftsdepressionen gelitten habe. Die Ärztin wollte das nicht glauben. Dominique: “Ich rief während des Termins meinen Mann an, weil ich schon begann an mir selbst zu zweifeln.” Dominique fühlte sich wie in einem schlechten Film.

Die Ärztin klärte Dominique eingehend über das Fetale Alkoholsyndrom auf. Sie war sich ihrer Diagnose sicher und forderte den Geburtsbericht von Dennis an. “Den durfte sie mir aber nicht zeigen”, berichtet Dominique sichtlich erzürnt. Als die Ärztin kurz in einem Nebenzimmer verschwand, las Dominique schnell den Bericht: “Alkoholbedingte Entzugserscheinungen bei der Geburt” stand da zu lesen.

Fassungslosigkeit 4: Trotz der FAS-Diagnose, die zu einer Feststellung der Schwerbehinderung zu 80 Prozent mit den Merkmalen G*, B* und H* mit Pflegestufe 1 und Pflegegrad 2 führte, müssen sich die Eltern auch heute noch rechtfertigen. Ständig werden wir von anderen dargestellt, als bildeten wir uns das alles nur ein“, klagt die Mutter. Oder es werde gesagt: Das wächst sich noch aus. “Nein, es wächst sich nicht aus”, ruft Dominque empört aus. Selbst wenn man dem Kind körperlich überhaupt nichts ansehe, müsse man die Diagnose der vielen neurologischen Schäden doch nicht ständig anzweifeln, klagt sie.

Anders in der Kita. “Hier haben sie uns spüren lassen, dass sie den Jungen lieber in einem Behindertenkindergarten gesehen hätten”, sagt Dominique. Doch Dominique und Michael konnten sich durchsetzen. Ein nochmaliger Wechsel bevor Dennis eingeschult würde, war auch für die Kita-Leitung nicht zu vertreten. Dennis durfte bleiben. Als es vor zwei Jahren um die Einschulung ging, forderte das Schulamt die Inklusion für ihn in einer Regelschule. “Wir wussten aber, dass er damit völlig überfordert wäre“, sagt Dennis Mutter. Rückendeckung bekamen die Eltern hier vom Sozialpädiatrischen Zentrums in Leipzig und der Kita. Inzwischen besucht Dennis eine Förderschule für geistige Entwicklung.

Fassungslosigkeit 5: Der Vorgang beim Jugendamt hat den Adoptiveltern von Dennis keine Ruhe gelassen. Denn es ist ein Fall, der zum Himmel und nach Rechenschaft schreit. Zum einen, weil das Jugendamt aus ihrer Sicht wider besseres Wissen gehandelt hat. Zum anderen, weil sowohl sie selbst als auch das Kind über Jahre hinweg aufgrund ihres Unwissens großem Leid ausgesetzt und die Auswirkungen des Fetalen Alkoholsyndroms dadurch nur noch verschlimmert worden sind.

Sie wandten sich deshalb an einen Anwalt. Der gab zu Bedenken, dass es bei einer Gerichtsverhandlung auch darum gehen werde, Dennis wieder zurückzugeben. Bei dieser Vorstellung stockt den Adoptiveltern der Atem. Das wollen sie auf gar keinen Fall. Dennis ist und bleibt von ganzem Herzen ihr Sohn. Daran ändert auch die Diagnose FAS nichts. Eine Klage haben sie deshalb ad acta gelegt.

(In Kürze: Das Merkzeichen G* wird Menschen zuerkannt, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind. Das Merkzeichen B* wird für eine ständige Begleitung zuerkannt. Das Merkzeichen H* bedeutet, dass die Person dauernd fremde Hilfe benötigt, um das Leben auch im alltäglichen meistern zu können. Eingehende Erläuterungen für FAS-Betroffene vgl. Blog “Hilfe für Betroffene” mit dem Titel “Anspruch auf Unterstützung”.)

Autorin: Dagmar Elsen

“Wenn ich sage, was ich habe, gucken mich alle an und denken, ich spinne”

Alexia, heute 17 Jahre alt, hat das Fetale Alkoholsyndrom. Als sie 10 Jahre alt war, wurde das schwere Handicap bei ihr diagnosdiziert. Im Interview begegne ich einem fröhlichen, selbstbewussten und aufgeschlossen Menschen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Zu Recht. Denn sie hat viel erlebt und ertragen müssen. Am wenigsten erträgt sie, dass unentwegt neue Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf die Welt kommen, obwohl das durch Aufklärung vermeidbar wäre. Deshalb unterstützt sie mit herausragendem Einsatz unsere Kampagne.

Wann ist Dir das erste Mal bewusst gewesen, dass Du anders bist als die anderen?

Alexia: Als ich andere Mädels in der Stadt gesehen habe, die ohne ihre Mutter unterwegs waren. Das ging ja für mich aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht.

Welche Beeinträchtigungen durch FAS hast Du, welche stören Dich am meisten?

Alexia: Am meisten nervt und frustriert mich, dass ich Gefühle nicht richtig kontrollieren kann. Freude kann ganz schnell in Wut umkippen und Wut in Traurigkeit. Und all das von einer auf die andere Sekunde, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ich kann auch schlecht mit Aufregung umgehen. Das kann auch sehr schnell in Wut umschwenken.

Das Vergessen ist auch sehr schlimm. Ich lerne etwas in der Schule, kann es wirklich richtig gut, komme nach Hause und möchte es meiner Mutter erzählen – ich weiß nichts mehr, es ist wie ausradiert.

Ich habe kein Gefühl für Zeit, ich kann sie nicht greifen. Die Uhr kann ich nur digital.

Und auch Orientierung habe ich nicht. Ständig Wiederholtes, Gewohntes – das geht. Aber wehe es passieren Abweichungen. Und ich alleine in der Fremde? Da habe ich keine Chance.

Wenn Du mich quälen willst, gib’ mir Matheaufgaben.

Meine Konzentrationsfähigkeit reicht nur für eine Stunde.

Druck kann ich nicht aushalten. Innerlich läuft alles Sturm. Ganz schlimm.

An manchen Tagen spüre ich keine Schmerzen. Da kann ich mir beispielsweise Blasen laufen bis die Schuhe voller Blut sind und merke es nicht. Und morgen kann es dann wieder ganz anders sein. Das macht mir auch Angst.

Ach ja, mit Geld umgehen, das kann ich gar nicht. Erst gebe ich ganz lange gar nichst aus, dann ist plötzlich alles auf einmal weg und ich weiß nicht mehr wofür.

Wie versuchst Du, Deine Schwierigkeiten etwas in den Griff zu bekommen?

Alexia: Ich muss immer meine Kopfhörer dabei haben. Wenn ich in Not bin und meine Umwelt ausschalten muss, dann drehe ich die Musik extrem laut, dass ich nichts anderes mehr wahrnehmen muss und kann.

Gegen innere Unruhe, Anspannung, Nervosität habe ich zwei Igelbälle – einen weichen und einen harten. Den harten, den brauche ich, um zu merken, dass ich noch da bin. Den weichen Ball nehme ich zum Beruhigen.

Außerdem bekomme ich Medikamente, die mir helfen.

Welche besonderen Talente hast Du?

Alexia: Ich kann sehr gut reflektieren und mich in andere hineinfühlen. Ich ahne oft Dinge, die dann tatsächlich eintreten.

Ich kann sehr gut mit Tieren umgehen und mit kleinen Kindern.

Wie begegnen Dir Menschen, die keine Ahnung von FAS haben?

Alexia: Da man mir nichts ansieht, denken sie, ich sei “normal”. Selbst wenn ich es Erwachsenen erkläre, dann wollen die mir das nicht glauben. Die denken immer, ich sei nur frech und man könne mein dummes Verhalten weg-erziehen. Selbst Lehrer behaupten, dass man FAS weg-erziehen kann. Eine Leiterin hat meiner Mutter mal gesagt, dass ich mir die Krankheit ja nur ausgedacht habe als Ausrede für mein Benehmen. Ich dachte, ich höre nicht richtig, als ich das erfahren habe.

Hast Du Schwierigkeiten Freunde zu finden? Wenn ja, warum?

Alexia: Das macht mir sehr zu schaffen, dass es schwierig ist, Freunde zu finden. Die meisten sehen nicht, dass ich FAS habe und denken alle, dass ich normal bin. Wenn ich ihnen das dann sage, dann gucken die mich an, als ob ich spinne. Die wollen das dann gar nicht glauben.

Ich hatte mal eine Freundin, die hat mich ganz so gemocht wie ich war. Die hat mich richtig verstanden. Leider sind die dann weggezogen.

Jetzt habe ich einen festen Freund. Der hat auch so seine Probleme. Er kann zum Beispiel auch nicht gut Druck aushalten. Ich kann das ja gut verstehen. Wir ergänzen uns super. Das sagen auch meine Eltern.

Hast Du Ausgrenzung erlebt, wenn ja, in welcher Form?

Alexia: Es sind immer wieder Leute über whatsapp auf mich losgegangen. Als ich mal in einer Reha war, habe ich richtiges Mobbing erlebt.

Die verstehen alle nicht, dass FAS eine Krankheit ist und werden böse. Teilweise bin ich richtiggehend bedroht worden. Ich kann eigentlich gar nicht genau sagen, warum die nichts mit mir zu tun haben wollen. Das ist doof. Es macht mich traurig und wütend zugleich.

Welche Unterstützung hast Du bisher bekommen und was hat Dir besonders gut getan?

Alexia: Ich reite, seit ich drei Jahre alt bin. Meine Mama hat mich das erste Mal auf der Lochmühle auf ein Pferd gesetzt. Seitdem bin ich einmal die Woche beim therapeutischen Reiten.

Sprachtherapie und auch Ergotherapie haben mir gut getan.

Es ist schön, Hunde und Katzen zu haben so wie wir.

Was wünschst Du Dir, was Dein Leben leichter machen würde?

Alexia: Ich wünsche mir mehr Hilfe, vor allem in der Schule. Ich wünsche mir, dass die Lehrer besser geschult werden, mehr Fortbildung bekommen, damit sie FAS verstehen und besser auf uns eingehen können. Es ist doch ein Unding, dass sich die Lehrer einfach ihr eigenes Bild machen und versuchen, uns umzuerziehen. Das geht doch sowieso nicht.

Ich hatte mal eine Lehrerin, die sprach mit mir, als ob ich drei Jahre alt wäre. Als ich mal eine Pause von ihr brauchte und weggehen wollte, hat sie mich am Genick und den Händen festgehalten und mir befohlen dazubleiben. Meiner Mutter hat sie gesagt, ich sei nicht beschulbar. Ich finde, sie hat den falschen Beruf.

Welchen Berufswunsch hast Du?

Alexia: Ich würde gerne mit Tieren arbeiten. Vielleicht kann ich ja Tierarzthelferin werden. Was mich auch interessiert, ist die Umwelt. Ich mache mir viel Gedanken über die Umweltverschmutzung. Ich kann nicht verstehen, dass die Menschen die Umwelt allein schon dadurch verschmutzen, dass sie ständig Plastik, Flaschen und andere Sachen einfach in die Gegend schmeißen.

Kennst Du Deine biologische Mutter? Welche Gefühle hast Du, wenn Du an sie denkst?

Alexia: Ich kenne sie nur vom Foto. Ich will sie gar nicht kennen lernen. Ich habe so ein schönes Leben und stehe mit beiden Beinen im Leben. Das haut mich dann nur weg, wenn ich ihr begegnen würde und das will ich nicht.

Ich habe Wut und bin sehr traurig, wenn ich darüber nachdenke. Sie leugnet, dass sie getrunken hat. Meine biologische Mutter sehe ich lediglich als eine Erzeugerin.

Meine Mutter ist die, die mich groß gezogen hat, die, die immer für mich da war und ist und mich immer unterstützt. Alles andere zählt für mich nicht.

Hast Du Dich schon immer so mutig dazu bekannt FAS zu haben?

Alexia: Nein, überhaupt nicht. Der Mut kam erst durch die Feuerwehr. Mein Bruder ist da hingegangen. Eines Tages hat er mich mitgenommen. Sechs Jahre bin ich dabei geblieben. Daher habe ich mein sicheres Auftreten bekommen.

Ich habe dann aber aufgehört, als ich bei einer Mannschaftsprüfung mitmachen sollte. Allein die Vorstellung, ich mache bei der Prüfung einen Fehler, der dann der ganzen Mannschaft angerechnet wird und sie deshalb durch die Prüfung fällt – das war mir zu viel Druck. Das habe ich nicht ausgehalten. Ich kann mit Druck einfach nicht umgehen.

Warum unterstützt Du die Kampagne?

Alexia: Mit FAS zu leben ist einfach nur Scheiße. Ich träume schon so lange davon, dass es endlich eine Kampagne gibt, die das Thema Alkohol in der Schwangerschaft öffentlich macht. Es sollen nicht noch mehr Kinder geboren werden, die das Fetale Alkoholsyndrom haben.

Ich möchte dazu beitragen, dass die Menschen wissen, dass FAS vermeidbar ist. Es ist doch so einfach.

Die Frauenärzte sagen einfach immer noch zu oft, dass es okay sei, wenn man während der Schwangerschaft mal ein Gläschen Sekt trinkt. Aber das stimmt nicht! Ich fände es wichtig, dass die Frauenärzte mal eine Aufklärung bekommen.

Zum Hintergrund:

Gerade mal acht Monate war die kleine Alexia alt, als sie zu ihren Adoptiveltern kam. “Ein sehr süßes und fröhliches Baby”, erinnert sich ihre Mutter Gabriele Schwinn. Es sei zwar bekannt gewesen, dass die biologische Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken habe. Aber es habe lediglich ein Verdacht bestanden, dass eine Alkoholschädigung vorliegen könnte.

Aus heutiger Sicht kaum zu glauben. Denn Alexia hatte ein Loch im Herzen, schrie extrem viel, konnte erst mit viereinhalb Jahren sprechen und sie schielte – alles typische Anzeichen für das Fetale Alkoholsyndrom (FAS).

Alexia wurde operiert und therapiert. FAS war kein Thema.

Im Kindergarten dann die ersten Verhaltensauffälligkeiten, besonders gravierend ihre unkontrollierten Wutanfälle. Erziehungsmaßnahmen – Fehlanzeige. Mütter von Kindergartenfreunden gingen auf Distanz. Die Probleme waren in nicht in den Griff zu kriegen. Ein Antrag auf sonderpädagogische Förderung wurde gestellt.

Aktuell besucht Alexia eine Schule für geistige Entwicklung. “Eigentlich ist sie dafür zu fit”, sagt ihre Mutter, “aber sie benötigt den Schonraum.”

Autorin: Dagmar Elsen

Menschen mit FAS verstehen

Familien mit FAS-Kindern können ein Lied davon singen, wie anders ihre Schützlinge ticken. Die von mir zusammen getragenen Beispiele dürften aber auch allen anderen Eltern nicht unbekannt sein – kann man diese oder ähnliche Geschichten auch bei kleinen Kindern oder unseren “viel geliebten Pubertieren” erleben. Der Unterschied zum Menschen mit FAS – bei ihm bleiben eben jene Verhaltensmuster ein Leben lang:

Das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene mit FAS….

…… gelobt hoch und heilig Besserung, doch eine Stunde später schon ist alles wieder Schall und Rauch

…… eignet sich hemmungslos Sachen an ohne zu fragen und verleiht diese dann auch noch fröhlich weiter

……. will stundenlang um die Anordnung eines Verbotes diskutieren – immer und immer wieder

…… steht nach dem Wecken zwar auf und macht sich fertig, legt sich dann aber in voller Montur wieder ins Bett und schläft weiter, wenn noch fünf Minuten Zeit bis zum Verlassen des Hauses sind

….. hat nahezu täglich zu beklagen, dass etwas kaputt oder verloren gegangen ist

…… isst unbekümmert und ohne jegliches Unrechtsbewusstein den kompletten Geburtstagskuchen des Bruders alleine

…… geht aus dem Haus ohne sich zu verabschieden und merkt das nicht

…… realisiert Schuldgefühle erst, wenn er darauf hinwiesen worden ist, was er getan hat

…. hat den Schrank gerade mit auf Kante gelegten Kleidungsstücken ordentlich gemacht, eine halbe Stunde später sieht der Schrank aus, als habe ein Einbrecher etwas gesucht

….. gibt bei Geschehnissen drei Versionen wieder, von denen eine glaubhafter ist als die andere, wahrscheinlich aber erst die zwölfte Version der Wahrheit entsprechen könnte

… schafft es immer, dass nach dem Zwiebel hacken die halbe Küche mit Zwiebelstückchen übersät ist

….. muss stets mehr Zeit einplanen, um wegzukommen, weil immer irgendetwas fehlt oder vergessen wurde

….. ist völlig aufgebracht, weil er für eine Tat zu unrecht beschuldigt worden ist, aber Minuten vorher bei genau der gleichen Tat erwischt worden war

…. braucht nur eine winzige Ablenkung, um die ihm aufgetragene Aufgabe, die bereits aufwändig begonnen worden war, komplett zu vergessen und in eine andere Welt abzutauchen.

Menschen mit FAS stoßen aufgrund ihres Verhaltens und Benehmens viel auf Ablehnung und Unverständnis. Was macht es so schwer, Menschen mit FAS zu verstehen und ihre Behinderungen als solche anzunehmen? Welchen Rat geben Sie?

Dr. Murafi:

Im besonderen ergibt sich Ablehnung aus der Diskrepanz der altersgemäßen Entwicklung hinsichtlich der körperlichen Reife und der Fähigkeit im Small-Talk, also der Alltagsschläue, zu brillieren, und den eben fehlenden Fähigkeiten, sich altersgemäß zu verhalten und den vorhandenen Begabungen entsprechend zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang wird allzu gerne Willentlichkeit unterstellt, der FAS-Betroffene verhalte sich aus Absicht unangemessen und weigere sich nur, seine Begabungen auszuschöpfen. Dadurch kommt eine moralische Komponente zum Tragen. Der FAS-Betroffene wird abgewertet, in der Folge wird sich von ihm distanziert.

Darüber hinaus ist auch Hilflosigkeit und Ohnmacht für alle Beteiligten ein unangenehmes Gefühl. Das führt zu viel Stress und Ärger. Die Anforderungen an Geduld und Ausdauer sind enorm. So kommt es im Beziehungskontext zum sogenannten High-Expressed-Emotion-System. Das bedeutet, dass sich die emotionale Interaktion zunehmend aggressiv aufschaukelt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die FAS-Betroffenen, da sie im Grunde eine hohe Neigung haben, sich anzupassen, zu gefallen und die richtigen Dinge zu tun.

(Gerade in Pflege- und Adopivfamilien mit FAS-Kindern ist dies noch bedeutsamer, da die Kinder sowieso das Gefühl haben nur Gast zu sein. Dass sie im Grunde nur geduldet werden, wenn sie die Erwartungen der sie großüzgig aufnehmenden Eltern erfüllen. Dies führt zu intensiven Spannungen und teilweise auch zu deutlichen Brüchen in der pubertären Entwicklung. Zuweilen kommt es auch zum Auseinanderfallen familiärer Kontexte, die bis dato gemeinsam gut funktioniert hatten.)

Es ist viel gewonnen, wenn sich alle, die mit FAS-Menschen zusammenkommen, klar machen, dass ihre Schützlinge keinesfalls einfach nur nicht wollen, dass sie opponieren nur des Opponierens Willen. Sie können nicht, weil sie aufgrund ihrer neurologischen und in Folge kognitiven Beeinträchtigungen nicht in der Lage dazu sind. Dabei ist es zudem wichtig zu realisieren, dass sich das auf die Lebensdauer hinaus betrachtet nicht ändern wird. Es handelt sich um irreversible Schäden im Gehirn, gegen diese weder Therapien noch Erziehung eine dauerhafte Chance auf Kompensation haben; allenfalls vorübergehend.

Menschen mit FAS brauchen deshalb immer wieder aufs Neue Unterstützung – nicht anders als Menschen mit körperlichen Handicaps. Wenn man sich alles das immer wieder aufs Neue vergegenwärtigt, erwächst automatisch ein größeres Verständnis. In der Folge sinkt die falsche Erwartungshaltung an den FAS-Betroffenen und steigert das empathische Umgangsvermögen.

Was hilft, sich in einen Menschen mit FAS hineinzuversetzen?

Dr. Murafi:

Es ist immer wieder wichtig sich vor Augen zu führen, dass die Handlungsmotive der Kinder positiver sind, als sie auf den Handlungsebenen und aufgrund ihrer Reaktionsweisen vermuten lassen. Die Kinder sind selbst Opfer ihrer Problematik, erleben sich selbst als hilflos und ohnmächtig. Deshalb benötigen sie hier Unterstützung, brauchen aber gleichzeitig klassifizierte Rahmenbedingungen und Halt gebende Beziehungen. Das heißt, dass es von großer Bedeutung ist, dass die Beziehung zu dem Kind nicht in Frage gestellt wird, egal, wie es sich verhalten hat.

Trotz allen Verständnisses für das Kind darf es nicht an der Klarheit von Anforderungen an das Kind fehlen und auch nicht an pädagogischen Konsequenzen.

Zu welchen grundsätzlichen pädagogischen Methoden raten Sie bei FAS-Kindern?

Dr. Murafi:

Zu keinen anderen als bei allen anderen Kindern auch – zu Klarheit, wohlwollender Konfrontation, sicherem Rahmen, einfach überschaubaren Konsequenzen, Entemotionalisierung im Bereich der pädagogischen Maßnahmen. Im besonderen die Bewahrung der positiven Beziehungsebene. Grundlage für eine pädagogische Führung der Kinder sind des weiteren die Entmoralisierung und in gewisser Weise die Reduktion der eigenemotionalen Betroffenheit.

Mit Sicherheit ist die grundlegende Haltung der Pädagogik von Heim Omar eine, die am ehesten hilfreich sein kann.

(Anm. : Heim Omar, gebürtiger Brasilianer, ist Psychologe, Publizist und Professor in Tel Aviv. Er entwickelte das Konzept der Neuen Autorität, die auf sieben Säulen basiert: Präsenz, Selbstkontrolle, Unterstützungssysteme, gewaltloser Widerstand, Transparenz und Widergutmachung)

Was hilft außerdem bei der Erziehung – Humor, Geduld, Gelassenheit, Ausdauer?

Dr. Murafi:

Tatsächlich hilft Humor, Geduld, Gelassenheit und Ausdauer sowie ein “Störungswissen”. Auf jeden Fall ist Selbsterfahrung bezogen auf den Umgang mit Hilflosigkeit und Ohnmacht von Vorteil. Wichtig sein sollte stets die kritische Reflexion der eigenen Motive in der Begleitung des Kindes. Unverzichtbar ist ein helfendes und stützendes Netzwerk um das Kind herum. Alleine ist das zumeist nicht zu schaffen und sollte auch nicht alleine versucht werden. Es braucht wirklich ein ganzes Dorf, um dem Kind das zu geben, was es braucht; und selbst das kann manchmal nicht reichen. Auf diesem Sektor einen adäquaten Umgang zu finden, ist mit Sicherheit der wichtigste Aspekt in der Begleitung der Kinder.

Autorin: Dagmar Elsen

Schmerzhafter Abschied von Zuhause

Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre ich zu Hause wohnen geblieben. Es war schwer, Abschied von meinem Zuhause zu nehmen. Nur noch an den Wochenenden zu Hause sein zu können und das noch nicht einmal an jedem, und auch nur einen Teil der Ferien bei meiner Familie und unseren Hunden sein? Statt dessen mit fremden Jugendlichen und Betreuern in einer Wohngemeinschaft leben? Nein, das wollte ich auf gar keinen Fall. So sehr ich mich dagegen sträubte, es half nichts.

Mein Arzt in der Klinik und alle anderen Betreuer dort hatten mir schon gesagt, dass es eine schmerzhafte Entscheidung für mich sein würde, aber definitiv das Beste. Ich hatte schon viel gelernt in der Klinik über mich und FAS und was es für mein Leben bedeutet. Genau deshalb war auch klar, dass ich in den kommenden Jahren noch sehr intensive Betreuung und Unterstützung rund um die Uhr brauchen würde.
Ich würde noch sehr viel lernen müssen, sehr viele alltägliche Dinge wie zum Beispiel morgens austehen und mich fertig machen, dass ich den Bus in die Schule nicht verpasse, dass ich mir etwas zu essen machen kann, dass ich nicht vergesse zu duschen, dass ich daran denke, regelmäßig die Tabletten zu nehmen. Sehr sehr wichtig ist auch, dass ich lerne mich abzugrenzen, mich nicht verführen lasse zu dummen Schandtaten, oder dazu die Schule zu schwänzen. Nein zu sagen fällt mir unglaublich schwer.

Orientierung ist für mich auch ein Riesenthema. Das lerne ich nur sehr langsam. Oje, und mit Geld umzugehen.
Naja, und es war auch klar, dass nach dem Aufenthalt in der Klinik nicht alles gleich rund laufen würde. Ich weiß ja selbst, dass ich teilweise unberechenbar bin, auch wenn das kein Vergleich mehr ist zu früher. Seit meiner Zeit in der Klinik bekomme ich Medikamente. Die tun mir gut. Ich merke das selbst an mir.
Ich kann mich besser kontrollieren, bin konzentrierter, bin nicht mehr daueraufgeregt, fühle mich nicht ständig im Ausnahmezustand. Ich bekomme auch nur noch Wutanfälle, wenn etwas ganz besonders schlimm für mich ist, wenn ich großem Stress ausgesetzt bin oder wenn ich mich überfordert fühle. Das geschieht schnell, weil die wenigsten Menschen wissen, mit was allem ich überfordert bin. Ich kann das fremden Menschen gegenüber nicht aussprechen, was es ist.

Ich habe schon eingesehen, dass ich zu Hause bei meiner Familie die für mich notwendige Betreuung und Unterstützung nicht bekommen könnte. Ein bisschen geholfen, die Entscheidung zu akzeptieren hat mir die Tatsache, dass ich auf eine andere Schule gehen konnte. In der alten, das war ja durch die Hetzjagd auf mich verbrannte Erde. Von all den Leuten dort wollte ich bis auf ein Mädchen niemand mehr wiedersehen. Trotzdem, ich war todunglücklich. Ich fühlte mich abgeschoben, auch wenn das nicht stimmt.

Geholfen hat mir, dass meine Mama ganz viel für mich da war. In den ersten Monaten haben wir uns auch jedes Wochenende gesehen. Sie war und ist immer für mich ansprechbar. Wir telefonieren täglich, das immer noch. Ich brauche das. Bis heute kommt sie zu Gesprächen in die WG, zu Gesprächen mit den Lehrern, fährt mit mir zu wichtigen Arzt- und Behördenterminen. Wenn ich in Not bin, kommt sie immer. Ich kann mich auf sie verlassen und ich kann alle wichtigen Dinge mit ihr besprechen. Das ist ein gutes Gefühl. Und sie hat fast immer die Hunde dabei. Die tun mir so gut.

Inzwischen habe ich ja auch Freunde dort, wo ich seitdem lebe. Inzwischen passiert es sogar manchmal, dass ich überlege, ob ich nach Hause fahre, oder ob ich lieber in der WG bleibe. Ich habe mich auch schon mal gegen einer Fahrt nach Hause entschieden. Meine Mama sagt, dass sei völlig in Ordnung und normal.
Aber es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis ich mich so gut gefühlt habe wie jetzt. Anfangs habe ich mich nur zurückgezogen. Nach der Schule bin ich sofort auf mein Zimmer und bin dort den ganzen Tag geblieben. Mit den Betreuern habe ich nur das Notwendigste geredet. Selbst mein Intensivbetreuer hat seine liebe Mühe gehabt an mich heranzukommen und mit mir klarzukommen. Der hat ganz schön viel mit meiner Mama telefoniert. FAS zu begreifen, das ist ganz ganz schwer. Das muss man lernen – als Betroffener und alle die, die mit einem zu tun haben.

Je älter Luca wurde, desto schwieriger gestaltete sich der Schulaufenthalt für ihn. Er ging in die Förderschule mit dem Ziel, einen qualifizierten Hauptschulabschluss zu machen. Zunächst war er noch zuversichtlich. Das sollte sich aber sukzessive ändern. Wie es Luca erging, erzählt er im nächsten Blog-Beitrag.

Autorin: Dagmar Elsen

Was legt den Verdacht auf FAS nahe?

Ist bekannt, dass die Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind vom FAS betroffen ist, sehr sehr groß. Egal, ob das Kind auffällige oder eher verdeckte Symptome aufweist – es sollte sofort eine umfassende Untersuchung in einem FAS-Fachzentrum gemacht werden. Wichtig ist, dass Spezialisten diese Arbeit tun. Die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern ist häufig ausnehmend schwierig.

Am einfachsten zu erkennen sind körperliche Beeinträchtigungen. Ist das Kind beispielsweise auffällig klein und leicht, hat es eine schmale Oberlippe, fehlt die Lidspalte, ist der kleine Finger verkürzt, fehlt das Philtrum (die Rinne zwischen Nase und Oberlippe), ist der Kopfumfang vermindert, ist der mittlere Teil des Gesichtes abgeflacht? Liegen Herzfehler, Fehlbildungen an den Ohren, Störungen der Nierenfunktion vor? Hat es grobe motorische Defizite? Sind epileptische Anfälle zu beobachten?
Schwierig wird es, wenn keine optischen oder organischen Schäden zu verzeichnen, aber Verhaltensstörungen zu beobachten sind, die Intelligenz vermindert ist, oder neurologische Schäden auftreten. Je nachdem, um was es sich handelt, kann, muss dies nicht, bereits im Kleinkindalter auffallen.
In der Regel der Fälle ist unbekannt, ob die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, weil es sich um Pflege- oder Adoptivkinder handelt. Diese Kinder haben per se mit Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten zu kämpfen. In welchem Maße ist davon abhängig, mit welchem Alter sie in ihre neue Familie gekommen sind und welche traumatisierenden Erlebnisse sie hatten.

Zu guter letzt spielt auch der Umstand eine Rolle, ob es sich um eine Auslandsadoption mit den damit einhergehenden kulturellen Unterschieden handelt. In den genannten Zusammenhängen können die daraus resultierenden Auffälligkeiten deckungsgleich zu FAS sein. Es ist deshalb wichtig, die Kinder genauestens zu beobachten, in welcher Form sich Symptome äußern, in welcher Intensität und welchem Kontext sie zu weiteren Verhaltensmustern oder Begebenheiten stehen.

Bei den Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten gibt es vielfältige Symptome. Welche sind für FAS am typischsten, welche kommen am häufigsten vor und welche sind am augenscheinlichsten?

Dr. Murafi: Kinder mit FAS haben fast in allen grundlegenden Bereichen der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung mit Defiziten zu kämpfen. Häufig sind die Wahrnehmung von Räumlichkeit und geometrischen Formen eingeschränkt, ebenso die Wort- und Figurenerkennung. Betroffen sind oftmals auch die sensorischen und akustischen Wahrnehmungen. Dabei entsteht für gewöhnlich das Paradoxon, dass die Kinder zwar sehr laut sind und dafür selbst kein gutes Gespür haben, sich aber hinsichtlich fremder Geräusche als sensibel und irritabel erweisen.

Hinsichtlich der Sprachentwicklung sind Verzögerungen zu beobachten. Im weiteren Verlauf kann sich aber durchaus ein gewisses sprachliches Geschick ausbilden mit guter Wortgewandtheit, teilweise auch einem vermehrten Rededrang. Das führt dazu, dass die Kinder zumeist in kognitiven Anforderungen leistungsstärker erscheinen als sie es tatsächlich sind.

Letztendlich haben FAS-Kinder eine Konstellation mit kombinierten Teilleistungsstörungen in unterschiedlichsten Bereichen. In der Endstrecke wirkt es so, als wenn die Intelligenz basal vermindert sei. Da die Kinder aber kombiniert über eine sogenannte Bauernschläue verfügen, hat das zur Folge, dass die Kinder ein Gespür für kognitive Defizite empfinden. Daraus entwickelt sich eine Scham, dass dies demaskiert werden könnte.

Gerade bei FAS-Kindern, die in Adoptiv- und Pflegekonstellationen sozialisiert werden, kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem ersten Erscheinungsbild und den tatsächlichen Leistungsfähigkeiten, zum Beispiel im schulischen Kontext. Deshalb fallen die Defizite und Störungen oft nicht schon im Kleinkindalter auf, sondern erst in der Grundschule. Logisches Denken oder das Lösen komplexer Aufgaben mit auch höheren Bedarfen an Ausdauer und Konzentration können nun nicht mehr kaschiert werden. Abstrakte Aufgaben, Regeln und Sinnzusammenhänge werden nur schlecht  wahrgenommen und verarbeitet.

Auffällig ist ebenso, dass FAS-Kinder dazu neigen, Erlebtes auch emotionalisiert zu erzählen bis hin zu einem gewissen Sensationsseeking, also mit gewisser Abenteuerneugier einhergehend. Hierbei verstricken sie sich in Widersprüche oder stellen die Geschichten ergänzend mit Fantasien dar. Das besondere an diesen Kindern ist, dass sie dies selten mit böser Absicht tun, sondern die eigene emotionale Überwältigung des Geschehenen, von dem berichtet wird, eine Rolle spielt und sich im Ausdruck niederschlägt. In diesem Kontext zeigt sich auch, dass das nach der Konfrontation dargestellte Reueverhalten durchaus authentisch wirkt. Man ist geneigt, den Kindern vieles zu verzeihen. Die Nachhaltigkeit der darauf folgenden Verhaltensänderung ist letztlich aber doch gering, so dass die Kinder immer wieder mit ähnlichen Verhaltensweisen auffallen.

Teilweise zeigt sich bei FAS-Kindern eine reduzierte Merkfähigkeit. Auch die Verinnerlichung von Arbeitsabläufen und Arbeitsschritten sowie strukturiertem Vorgehen fällt sehr schwer. Manchmal scheint es so, als ob die Kinder Gelerntes schon am nächsten Tag wieder vergessen haben und neu lernen müssen. Daher sind sie auf intensive Strukturhilfen (zum Beispiel Lernkarten, Lernpläne, etc.) angewiesen.

Stichwort Konzentrationsfähigkeit: Diese ist bei FAS-Kindern in aller Regel äußerst reduziert. So lassen sie sich leicht von allen möglichen Dingen ablenken, Aufgabe und Spiele, die etwas mehr Geduld erfordern, werden gerne abgebrochen, da auch die Frustrationstoleranz gering ist. Deshalb fällt es den Kindern schwer, Verabredungen einzuhalten, oder auch Aufträge, die sie zunächst motiviert annehmen, bis zum Ende auszuführen.

Von hoher Bedeutung sind bei Kindern mit dem Fetalen Alkoholsyndrom die sozialen und emotionalen Beeinträchtigungen, so zum Beispiel die sich abbildende Hyperaktivität in sozialen Kontexten. Das hat zur Folge, das die Kinder sehr unruhig, nervös, teilweise undiszipliniert und schwer zu kontrollieren sind. Wie schon beschrieben ist die Frustrationsschwelle grundsätzlich eher gering. Emotionen können daher nur schwer ausbalanciert oder kanalisiert werden. So gehören Wutausbrüche vielfach zur Tagesordnung, sind aber genauso schnell wieder vergessen und dann ebenfalls keine Quelle von nachhaltigem sozialen Lernen.

Die reduzierte Fähigkeit aus Erfahrung zu lernen, lässt die Kinder die Risiken nicht ausreichend korrekt einschätzen. Sie sind dann zu risikobereit und können soziale aber auch weitergehende Konsequenzen nicht ausreichend abschätzen. FAS-Betroffene sind vielfach, auch bis ins höhere Alter hinein, leichtgläubig, naiv und leicht beeinflussbar. Sie haben einen hohen Anpassungswunsch, so dass, kommen sie mit Menschen mit negativen Verhaltenstendenzen zusammen, sie diesen gerne folgen. Darüber erfahren sie soziale Wirksamkeit, die letztlich aber zumeist auf der Verhaltensebene zu Fehlverhalten, Mitläufertum, bis hin zum Ausüben von Straftaten führen kann. Gerade Mädchen sind durch diese leichte Beeinflussbarkeit der Gefahr ausgesetzt, dass sie niederschwellig bereit sind, sich sexuell ausbeuten zu lassen und in komplexe traumatisierende soziale Situationen geraten.

Autorin: Dagmar Elsen