Beiträge

HAPPY BABY im Interview für eine Schweizer Facharbeit

“Das Thema fetales Alkoholsyndrom interessierte uns auch sehr, weil wir nie davon gehört haben und wir deshalb vermuten, dass es vor allem in der Schweiz noch ein Tabuthema ist und deshalb auch gar nicht so bekannt ist“, stellen Alina und Rabea, die für ihre Ausbildung zu Pharma-Assistentinnen eine Facharbeit geschrieben haben, klar. Laut einer Schweizer Studie hat eine von fünf schwangeren Frauen angegeben, gelegentlich bis sogar täglich Alkohol zu konsumieren, mussten die beiden 17jährigen mit Entsetzen realisieren.

Während ihrer Recherche im Internet stießen die Schweizerinnen auf unsere Kampagne Happy-Baby-no-Alcohol. “Der Blog weckte schnell unser Interesse, da die Geschichten der Betroffenen uns sehr berührt haben“, berichten die beiden. So wollten sie denn auch wissen, wie es ist, die Betroffenen und deren Familien zu interviewen und die Geschichten zu schreiben.

Durch das Interview und die Recherchieren sei ihnen immer mehr bewusst geworden, wie eingeschränkt die Personen mit dem fetalen Alkoholsyndrom sind: “Nicht nur körperlich unterscheiden sich die Betroffenen von gesunden Personen, auch psychisch sind sie je nach Ausprägung sehr eingeschränkt. Für sie ist es nicht einfach, sich in eine grössere Gruppe einfügen zu können. Ihr Benehmen wird häufig falsch bewertet, weil sie ihr Gegenüber missverstehen, ihr Verhalten nicht immer steuern können oder eine falsche Eigenwahrnehmung haben. Genau deshalb ist für sie nicht immer einfach sich in eine Menschengruppe zu integrieren. Die Betroffenen werden von den Menschen durch Ihr auffälliges Verhalten nach falschen Massstäben beurteilt und verurteilt.”

In ihrer Facharbeit beziehen Alina und Rabea klar Stellung: “Wir finden es nicht gerecht gegenüber den Betroffenen wie auch den Familien und Freunden. Durch mehr Bekanntheit des Syndroms würde auch mehr Akzeptanz, Verständnis und auch Geduld herrschen.

Alina & Rabea: Wir haben auf dem Blog gesehen, dass du Journalistin bist und die Geschichten der Betroffenen erfasst. Wie bist du überhaupt dazu gekommen? Warum bist du Teil dieses Vereins geworden?

Dagmar: Ich bin durch mein persönliches Umfeld mit dem Thema „Fetales Alkoholsyndrom“ (FAS) in Berührung gekommen. Der Junge Luca, über dessen Werdegang ich außerdem in unregelmäßigen Abständen blogge, sagte als 14jähriger nach seiner Diagnose zu mir: „Du bist doch Journalistin – schreib’ drüber, sonst gibt es immer mehr wie mich.“ 

Die Zahlen, dass jedes Jahr zwischen 10.000 und 20.000 Kinder mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommen und wir aktuell 1,6 Millionen Betroffene in Deutschland haben, hatten ihn umgehauen. Außerdem die Tatsache, dass sich FAS grundsätzlich zu 100 Prozent vermeiden lässt, indem man in der Schwangerschaft und Stillzeit einfach mal keinen Alkohol trinkt. Er realisierte sehr klar, dass es nur einen Weg geben kann FAS zu verhindern: Aufklärung – und das flächendeckend. 

Das war für mich der Startschuss. Zumal ich schon so lange miterlebt hatte, welches Leid die Betroffenen und ihre Familien durchmachen. Und dieses Leid muss nicht sein. FAS ist keine Laune der Natur, sondern entsteht vor allem durch Unwissenheit. Nur 44 Prozent der Deutschen wissen überhaupt, dass es FAS gibt und was es in seiner Konsequenz bedeutet. Und wenn man permanent mitbekommt, dass gesagt wird, “ein Gläschen schadet doch nicht”, es aber anders weiß, dann ist klar: Es muss endlich etwas passieren. 

Ich habe sofort losgelegt und die Kampagne aus der Taufe gehoben. Der Weg kann nur sein aufzuklären, um FAS zu verhindern, um sodann durch Aufklärung eine Sensibilisierung für die Betroffenen zu erreichen. Denn ihnen muss endlich angemessen geholfen werden. Es ist skandalös, dass FAS immer noch nicht bundesweit als Behinderung anerkannt ist.

Den gemeinnützigen Verein habe ich gegründet, weil ich auch konkrete Projekte realisieren wollte. Dafür braucht es Supporter – Botschafter ebenso wie Partner. Mit ihnen haben wir die Online-Beratung auf die Beine stellen können. Jetzt sind wir daran, eine bundesweit agierende Telefonberatung zu realisieren und haben dafür einen Förderantrag bei Aktion Mensch e.V. gestellt. So etwas geht eben nur, wenn man als gemeinnütziger Verein agiert.

Alina & Rabea: Du bist Teil diese Blogs, deswegen nehmen wir an, dass es dir wichtig ist, dieses Thema zu publizieren. Denkst du dieses Thema hat Aufklärungsbedarf?

Dagmar: Unbedingt herrscht bei diesem Thema Aufklärungsbedarf. Fakt ist, dass 58 Prozent der Schwangeren Alkohol trinken und 54 Prozent selbst dann noch, wenn sie wissen schwanger zu sein. Es ist ihnen nicht klar, welches Risiko sie eingehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es beim Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft nicht zwingend zu Schäden kommt. Es kann passieren, aber eben auch nicht. Es gibt keine wissenschaftlich erwiesene Menge Alkohol, die für das Ungeborene unschädlich wäre. 

Aber, und das ist fatal – es gibt zu viele Menschen, die das Risiko herunter spielen, weil sie während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben, die Kinder dennoch gesund auf die Welt gekommen sind. Die stellen sich dann hin und sagen: “Was wollt ihr denn, passiert doch gar nichts.” Das ist ein fatales Signal. Man weiß vorher nicht, ob der Alkohol Schaden anrichten wird oder nicht. Man setzt auf Risiko, das grenzt an Russisch Roulette. Und wenn der Alkohol das Baby schädigt, dann bedeutet es ein Leben lang unendliches Leid für alle Beteiligten – die Betroffenen und ihre Familien. Es ist die Hölle!

Alina & Rabea: Wie ist es für dich, die Betroffenen und deren Familien zu interviewen und die Geschichten zu schreiben?

Dagmar: Es ist jedes Mal hochemotional für beide Seiten. Nicht selten fließen Tränen. Die Betroffenen und ihre Eltern, ob leibliche, Pflege- oder Adoptiveltern, erleben so viel Ablehnung, Ignoranz und Missbilligung. Sie müssen schmerzhafte, anstrengende Kämpfe durchstehen, um die Anerkennung der Behinderung durchzusetzen und Unterstützung und Hilfsleistungen zu erreichen. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2013 Richtlinien für FAS vorgegeben hat, passiert es immer noch rauf und runter, dass selbst Diagnosen von weltweit renommierten FAS-Experten wie die von Professor Hans-Ludwig Spohr aus Berlin von den Behörden nicht anerkannt werden. Selbst Ärzte in den Sozialäpdiatrischen Zentren stellen sich noch hin und behaupten, FAS gebe es nicht. Unfassbar!

Wenn ich diese schrecklichen Geschichten höre, bin ich immer wieder aufs Neue entsetzt und wütend. Aber gerade das treibt mich auch an weiterzumachen. Und vor allen Dingen hilft die Berichterstattung in vielerlei Hinsicht: auf die Schwachstellen in unserem Sozialsystem aufmerksam zu machen, den schwierigen Alltag der Betroffenen und ihrer Familien zu erklären, die Gesellschaft zu sensibilisieren, gegenseitige Hilfe zu mobilisieren. Verständnis füreinander erreicht man nun mal am besten durch authentische Erzählungen.

Jedenfalls bin ich immer tief berührt, welch großes Vertrauen mir entgegen gebracht wird. Auch wenn der Leidensdruck der Betroffenen und ihrer Familien groß ist, empfinde ich das nicht als Selbstverständlichkeit.

Alina & Rabea: Wie gehen die Familien damit um? Ist es immer noch so ein Tabuthema?

Dagmar: Ja, FAS ist immer noch ein Tabuthema. Das macht es ja so schwierig Gehör zu finden. Und deshalb bedeutet es für nahezu alle Familien, dass sie sich auf jahrelange Kämpfe einzustellen haben, nicht selten auch ein Leben lang. Das ist sehr kräftezehrend. Alle diese Familien leisten Unglaubliches, legen eine Energie an den Tag, die bewundernswert ist. 

Wichtig dabei ist, dass sie sich über all das nicht selbst verlieren, sondern sich auch Raum für eigene Bedürfnisse schaffen. Es muss genug Zeit bleiben für Freude und Lachen.

Genau das wird aber im Keim erstickt, wenn Eltern im Unklaren gelassen werden, dass ihr Kind fetale Alkoholschäden haben könnte. FAS ist ja nicht immer sichtbar. Im Gegenteil. Das wird dann bei der Vermittlung von Pflege- und Adoptivkindern allzugern bewusst verschwiegen. Spätestens in der Grundschulzeit fällt dann aber auf, dass da irgendetwas nicht stimmt, dass das Kind anders ist als die anderen. Es ist das besondere an all diesen Eltern, dass sie nicht locker lassen bei der Suche nach der Antwort, auch wenn sie gegen Wände aus Beton laufen.

Alina & Rabea: Was machen für dich FAS-Betroffene aus? Typische Eigenschaften?

Dagmar: Es gibt keinen wirklichen FAS-Prototyp. Es erklärt sich schon dadurch, dass es 419 Symptome gibt, oft genug begleitet von Sekundärerkrankungen. Typisch ist, dass sie alle hirnorganische Schäden haben, die sie in der Bewältigung des täglichen Lebens extrem beeinträchtigen. Sie haben sozusagen permanent Chaos im Kopf und das ist für sie sehr anstrengend. Häufig ist der kognitive Bereich stark betroffen. Abstrahieren fällt ihnen schwer, ebenso das Erkennen von Sinnzusammenhängen. Um so schwieriger ist es für sie, Regeln zu lernen und diese einzuhalten. Fast immer ist die Konzentrationsfähigkeit vermindert. Sie sind oft nur für kurze Zeit aufmerksam und lassen sich schnell selbst von Kleinigkeiten ablenken. Deswegen fällt es ihnen schwer, Aufträge bis zum Ende auszuführen und Verabredungen einzuhalten.
Die Frustrationsschwelle von Kindern mit FAS ist äußerst niedrig, Wut und Ärger schwer für sie zu kontrollieren. Sie sind sehr risikobereit, aber ohne die Gefahren richtig einschätzen zu können. Und: Sie lernen schlecht aus gemachten Erfahrungen.
Auffällig an Kindern mit FAS ist ihre hohe Hilfsbereitschaft. Da sie aber auch leichtgläubig, naiv, vertrauensselig sind, lassen sie sich leicht verleiten. Sie geraten schnell in unangenehme Situationen und sind sich der Folgen ihres sozialen Handelns nicht bewusst.

Über all dem wird aber gerne vergessen, welch liebevolle, loyale, empathische und hilfsbereite Menschen sie sind. Fast alle haben viel Humor und lachen gern. Viele sind sehr kinder- und tierlieb. Zumeist zeichnen sie Inselbegabungen aus. 

Alina & Rabea: Kann man eine Parallele von FAS-Betroffenen zu ADHS-Betroffenen stellen? Oder worin unterscheiden sich die beiden Erkrankungen in der Verhaltensweise?

Dagmar: Beide Diagnosen sind zum einen miteinander vereinbar, zum anderen beschreiben sie an verschiedenen Punkten eben verschiedene Störungsbilder. Das FAS beinhaltet neben der neuropsychologischen Auffälligkeit auch Auffälligkeiten in der körperlichen Entwicklung, Besonderheiten im Sinne von fazialen Dysmorphien. 

Es kommen weitere Symptome hinzu, beispielsweise Störungen der räumlich visuellen Wahrnehmung und der räumlich konstruktiven Fähigkeiten oder besondere emotionale Störungen wie Impulsdurchbrüche, Launenhaftigkeit, Bindungsstörungen. Darüber hinaus sind körperliche Symptomatiken entscheidend. Als Hauptunterscheidungskriterium sind aber die deutlich impulsiveren und aggressiveren Impulsdurchbrüche zu nennen. 

Alina & Rabea: Wir haben gelesen und auch einige Bilder gesehen, dass FAS-Betroffene spezielle Gesichtszüge haben. Kann man das generalisieren bei den FAS-Betroffenen?

Dagmar: Beim Vollbild des FAS haben die Betroffenen oft eine schmale Oberlippe, fehlt die Lidspalte, ist das Philtrum (die Rinne zwischen Nase und Oberlippe) kaum ausgebildet, ist der Kopfumfang vermindert und auch der mittlere Teil des Gesichtes abgeflacht. Wenn die Kinder auf die Welt kommen, sind sie häufig auffällig klein und leicht, es liegen Herzfehler vor, Fehlbildungen an den Ohren, ist die Nierenfunktion gestört, wird Skoliose diagnostiziert.

Alina & Rabea: Wir haben gelesen, dass FAS-Betroffen oft Probleme mit dem Umgang mit anderen Menschen haben. Wie äussert sich das? Ist das individuell?

Dagmar: Wie schon beschrieben, sind die Ausprägungen des FAS sehr individuell. Dennoch lässt sich sagen, dass die Betroffenen durch Verhaltensstörungen auffallen. Dadurch, dass sie ihr Verhalten nicht immer steuern können, eine falsche Eigenwahrnehmung haben, außerdem ihr Gegenüber oft missverstehen, wird ihr Benehmen nach den üblichen Regeln des Sozialverhaltens und damit falsch bewertet. 

Es wird ihnen unterstellt, dass sie dissonant, frech und boshaft sind. Sie können in dem Moment aber nicht anders, weil sie mit der Situation überfordert sind. Das merken sie selbst und werden wütend – auf sich, auf die Situation, auf das Gegenüber, das falsche Erwartungen hegt. Die verbalen und bei manchen auch darüber hinaus gehenden Wutausbrüche werden aufgrund von Unwissenheit persönlich genommen. Das schafft leider Distanz und zieht beiderseitige Abgrenzung und Rückzug nach sich.

Alina & Rabea: Auf eurem Blog haben wir gelesen, dass die Lebenserwartung eines FAS-Betroffenen ca. bei 34-Jahren liegt. Bei unseren Nachforschungen haben wir dies zuvor nicht erfahren. Woran liegt das?

Dagmar: Diese 34 Jahre sind ein statistischer Wert und es klingt in der Tat dramatisch. Er kommt natürlich dadurch zustande, dass auch früh verstorbene Babys mitgezählt werden. Wir haben diesen Wert der durchschnittlichen Lebenserwartung aber deshalb auf der Webseite aufgeführt, damit er klar macht, wie dramatisch die Lage für FAS-Betroffene ist. Sage und schreibe 80 Prozent der Betroffenen landen am Rande der Gesellschaft – im Gefängnis, der Obdachlosigkeit, im Drogen- und Prostitutionsmilieu oder begeht Suizid. All jene werden in der Regel tatsächlich nicht sehr alt. Und das liegt daran, dass die Masse der FAS-Betroffenen keine Unterstützung erhält.

Fetales Alkoholsyndrom (FAS) und oder, oder ADHS ?

Sind Kinder ausnehmend impulsiv, überdreht, ungeduldig, ungehemmt, unaufmerksam, hochemotional, sind sie schnell frustriert, stören gern und haben häufig eine schlechte Feinmotorik, so wird immer wieder die Thematik diskutiert, handelt es sich diagnostisch um das FAS und oder, oder um ADHS. FAS-Experten vermuten, dass viele ADHS-Kinder falsch diagnosdizierte FAS-Kinder sind, vor allem dann, wenn der Alkoholkonsum bei der Diagnose unbekannt, unberücksichtigt oder im Sinne der sozialen Unerwünschtheit verschwiegen bleibt. 

Dazu ein Interview mit Philipp Wenzel, Assistenzarzt in der Institutsambulanz der Tagesklinik und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Walstedde in Nordrhein-Westfalen mit dem Schwerpunkt FAS. Philipp Wenzel zeichnet für die Differentialdiagnostik und die entsprechende Behandlung von FAS und Komorbiditäten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verantwortlich. Außerdem agiert er als Referent der Psychopharmakologie für Jugendhilfeklientel.

Bei Recherchen zum Thema begegnet man der Aussage, dass es sehr wohl Unterschiede gebe. Würden Sie das bestätigen? Wenn ja, welche Unterschiede sind das?

Philipp Wenzel: Beide Diagnosen sind zum einen miteinander vereinbar, zum anderen beschreiben sie an verschiedenen Punkten eben verschiedene Störungsbilder. Das Fetale Alkoholsyndrom zum Beispiel beinhaltet neben der neuropsychologischen Auffälligkeit auch Auffälligkeiten in der körperlichen Entwicklung, Besonderheiten im Sinne von fazialen Dysmorphien und auch weitere Symptomewie Störungen der räumlich visuellen Wahrnehmung und der räumlich konstruktiven Fähigkeiten oder besondere emotionale Störungen wie Impulsdurchbrüche, Launenhaftigkeit, Bindungsstörungen. Darüber hinaus sind noch weitere körperliche Symptomatiken für das Fetale Alkoholsyndrom als diagnostische Kriterien entscheidend. Als Hauptunterscheidungskriterium sind aber die deutlich impulsiveren und aggressiveren Impulsdurchbrüche der Patienten mit FAS zu nennen. Viele Kinder, welche vom Fetalen Alkoholsyndrom betroffen sind, zeigen aber auch neben der hyperaktiven Symptomatik eine Symptomatik, die mehr in den Bereich des autistoiden Spektrums einzuordnen ist.

In neueren Arbeiten werden das FAS und ADHS nicht mehr als separate Störungen betrachtet. Man spricht von ADHS mit und ohne pränatale Alkoholexposition. Kann man FAS diagnostisch nicht objektivieren, wird die Diagnose ADHS gestellt. Das würde aber doch bedeuten, dass viele Menschen, die angeblich ADHS haben, eigentlich vom Alkoholsyndrom betroffen sind, wüsste man, dass die Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat.

Philipp Wenzel: Ich möchte Ihrer Aussage widersprechen, dass man FAS diagnostisch nicht vollständig objektivieren kann. Der pränatale Alkoholkonsum der Kindsmutter ist kein notwendig zu erfüllendes Kriterium. Dies ist nur der Fall, wenn körperliche Symptome wie faziale Auffälligkeiten oder Minderentwicklung des Kindes ausgeschlossen sind. Auch dann, wenn der mütterliche Alkoholkonsum während der Schwangerschaft nicht zu 100 % bestätigt ist, kann die Diagnose als Verdachtsdiagnose geäußert werden. Oftmals ist dies genau die Diskrepanz, in der sich der Diagnostiker befindet. Eindeutige und belastbare Aussagen der Kindsmutter bezogen auf den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft mit den zu beurteilenden Patienten wird meistens verschwiegen oder verneint bzw. in vielen Fällen auch bagatellisiert.

Gibt es Schätzungen, wie oft sich hinter der Diagnose ADHS eigentlich ein FAS verbirgt?

Philipp Wenzel: Es gibt leider keine Schätzungen darüber, wie oft sich hinter einer ADHS-Diagnose auch ein FAS verbergen könnte. Da aber die Dunkelziffer der Kinder, welche an einem FAS erkrankt sind, sehr hoch ist, lässt darauf schließen, dass viele Kinder mit einem reinen ADHS eben hierüber fehldiagnostiziert sind. Viele Kollegen bzw. Diagnostiker kennen nur das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndromes und nicht die Abstufungen in FAS, PFAS und ARND*. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Diagnose FAS von vielen ärztlichen Kollegen verleugnet wird bzw. nicht anerkannt wird. Dies führt dazu, dass Kinder, welche von einem ARND betroffen sind, fälschlicherweise mit einem ADHS diagnostiziert werden.

Ist es richtig, dass sich die Prognosen für die jeweiligen Krankheitsbilder unterscheiden? Die Probleme der Kinder mit dem FAS nehmen zu, die der ADHS-Kinder nehmen ab?

Philipp Wenzel: Die Prognosen für die jeweiligen Störungsbilder unterscheiden sich in diversen Punkten. In der Regel ist es so, dass Kinder und Jugendliche, die von einem ADHS betroffen sind, in der späteren Adoleszenz nicht mehr unter so massiven Konzentrationsschwierigkeiten leiden wie Kinder, welche vom FAS betroffen sind. Oftmals ist eine Behandlung mit Stimulanzien im frühen Erwachsenenalter bei Kindern, welche rein mit ADHS diagnostiziert sind, beendet.

Junge Erwachsene mit einem FAS benötigen diese Medikation in der Regel darüber hinaus. Auch die Medikation zur Behandlung der aggressiven Impulsdurchbrüche beim FAS muss meistens über das junge Erwachsenenalter fortgesetzt werden. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche, welche schwer vom FAS betroffen sind, im Erwachsenenalter keine adäquate körperliche und geistige Entwicklung vollziehen. So bleibt ein Teil eben dieser Betroffenen pflegebedürftig oder hat nicht die Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Ausbildung bzw. Anstellung zu erhalten.

Laut einer aktuellen Studie ist es so, dass nur ca. 20 bis 25 % der vom FAS betroffenen Kinder und Jugendliche einen Regelschulabschluss erhalten. Die anderen Betroffenen erlangen meist einen Förderschulabschluss und müssen berufsperspektivisch noch weit über das 18. Lebensjahr hinaus betreut werden.

Neben der Bildungsentwicklung der Kinder und Jugendlichen, welche vom FAS betroffen sind, ist auch das Konsumverhalten eben dieser Kinder und Jugendlichen sehr auffällig. Bei Kindern und Jugendlichen, welche von ADHS betroffen sind, ist gehäuft zu beobachten, dass diese im Rahmen einer Selbstmedikation Amphetamin und THC konsumieren. Das Amphetamin wirkt in diesem Fall als Stimulanz wie das Methylphenidat auch. Das THC wird darüber hinaus konsumiert, um die überschießende stimulierende Wirkung des Amphetamins zu kompensieren. Bei Kindern und Jugendlichen, welche vom FAS betroffen sind, ist dagegen der Konsum auch von Alkohol und anderen härteren Drogen gehäuft. Nicht zuletzt gibt es aktuelle Studien zur Erforschung des gesteigerten Medienkonsums bezogen auf vom FAS betroffener Kinder und Jugendlicher.

Wenn dem so ist, sollte dann die Diagnose-Unterscheidung im Alter nicht einfacher sein?

Philipp Wenzel: Die Diagnosestellung im höheren Alter wie zum Beispiel bei jungen Erwachsenen bezogen auf das FAS ist nicht immer leichter als die Diagnosestellung eines ADHS. Die Problematik liegt hier darin, dass aus der kompletten Entwicklung des Jugendlichen Berichte über Verhalten und Entwicklung bzw. auch körperlicher Auffälligkeiten vorliegen müssen. Diese Notwendigkeit an Fülle von Informationen macht es meistens schwierig, eine gezielte Diagnostik stattfinden zu lassen. Darüber hinaus ist es bei jungen Erwachsenen aufgrund des zeitlichen Abstandes meistens sehr schwierig zu evaluieren, ob ein Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft gesichert wahrscheinlich oder nicht nachweisbar ist. Genauere Informationen hierzu sind wahrscheinlich in den kommenden Jahren zu erwarten, wenn die Familientagesklinik in Walstedde ihren Betrieb aufgenommen hat und dort im Rahmen der FAS-Diagnostik auch gezielt Erwachsene untersucht worden sind.

Kann man sagen: FAS und ADHS unterscheidet, dass Kinder mit ADHS grundsätzlich besser auf Therapien ansprechen?

Philipp Wenzel: Kinder und Jugendliche, welche vom ADHS betroffen sind, reagieren in der Regel sehr gut auf die Behandlung mit Methylphenidat oder anderen Stimulanzien. Darüber hinaus sind psychotherapeutische Maßnahmen möglich wie familientherapeutische Ansätze, kognitive Verhaltenstherapie oder auch systemische Therapie unter Einbeziehung von Lehrern und anderem pädagogischen Personal. Auch weitere Therapiemöglichkeiten wie zum Beispiel Neurofeedback** sind in der Behandlung von ADHS zugelassen und auch zielführend.

Bei der Behandlung des fetalen Alkoholsyndromes ist die Etablierung einer Psychotherapie meist sinnlos, da die Betroffenen unter massiven Merk- und Erinnerungsfähigkeitsstörungen leiden. Therapeutisch bearbeitete Aspekte müssen somit meist in jeder Therapiesitzung neu aufgegriffen werden, was dazu führt, dass neue Inhalte meist erst nach viel zu langer Zeit angesprochen werden können. Aerdem ist es bei von FAS betroffenen Patienten in der Regel notwendig, neben einem Stimulantium, welches die Aufmerksamkeitsproblematik behandelt, noch ein Neuroleptikum zu etablieren, welches dafür sorgt, dass die aggressiv expansiven Impulsdurchbrüche des Patienten vermindert bzw. eliminiert werden.

Auch die massiven Schlafstörungen, welche bei vom FAS betroffenen Kindern und Jugendlichen beschrieben werden, müssen in der Regel medikamentös behandelt werden. Hier scheint es aktuell keine gute Alternative zur gezielten medikamentösen Behandlung der Symptomatik zu geben.

Kinderärzten wird gern vorgeworfen, dass sie sich mit der bekannten Diagnose ADHS zufrieden geben und die Kinder dann auf ADHS behandeln. Woran liegt das? Was müsste sich hier grundlegend ändern?

Philipp Wenzel: Kinderärztliche Kollegen geben sich zum einen schnell mit der ADHS-Diagnose zufrieden, weil diese in vielen Fällen wie oben beschrieben die Symptomatik eines Kindes erklärt. Zum anderen ist es häufig so, dass viele Kollegen die genaue Symptomatik des FAS eben nicht hinreichend kennen. Es gibt zwar eine Fallleitlinie zur Diagnostik des FAS. Diese wird auch ständig verbessert und weiterentwickelt. Der Inhalt dieser Leitlinie scheint jedoch auch nicht hinreichend unter pädiatrischen Fachärzten bekannt zu sein.

Jenseits dessen ist zur gezielten Diagnostik des FAS auch mit der leiblichen Mutter des Kindes zu klären, ob während der Schwangerschaft ein Alkoholkonsum stattgefunden hat. Da dies von vielen Kollegen einerseits als Stigmatisierung und andererseits auch als zu konfrontativ für ihre Patientenmütter angesehen wird, unterbleibt diese Fragestellung meistens.

An dieser Stelle ist in meinen Augen eine grundlegende Änderung nur notwendig, wenn dies einen entscheidenden Vorteil für die vom FAS betroffenen Kinder und Jugendliche hat. Sind diese mit einer zum Beispiel ADHS-Diagnose aufgrund eines vorliegenden ARND* und Unwissen des Diagnostikers gut versorgt und gut medikamentös behandelt, so macht es keinen Sinn, das Familiensystem durch die Fragestellung einer FAS-Diagnostik infrage zu stellen und eventuell eine Herausnahme des Kindes aus der Familie zu forcieren.

Welche therapeutischen und medikamentösen Behandlungsmethoden sind bei Alkoholschäden mit ADHS, welche mit “nur” ADHS sinnvoll? Kann es nicht, wenn ja welche, fatale Folgen haben, wenn Kinder, die eigentlich das Fetale Alkoholsyndrom plus ADHS haben, fälschlicherweise nur auf ADHS behandelt werden?

Philipp Wenzel: Bei der Behandlung des ADHS werden in den allermeisten Fällen Stimulanzien eingesetzt. Diese erhöhen die Signaldichte in der postsynaptischen Zelle und fördern somit die Konzentrations- und Fokussierfähigkeit der Patienten. Neben den amphetaminbasierten Stimulanzien sind seit einigen Jahren auch die Wirkstoffe Atomoxetin und Guanfacin für die Behandlung des ADHS zugelassen.

Das FAS bedarf nicht zwangsläufig einer medikamentösen Behandlung. Hier werden zum einen Stimulanzien aber auch alternative ADHS-Medikamente eingesetzt. Darüber hinaus ist es, wie schon erwähnt, oftmals notwendig, eine entweder niederpotente oder atypische neuroleptische Behandlung des Patienten zu etablieren, um die aggressiven Impulsdurchbrüche des Patienten zu begrenzen. Hier werden die Wirkstoffe Pipamperon, Risperidon und seit neuerer Zeit auch Olanzapin mit gutem Erfolg eingesetzt.

Zur Behandlung der Schlafstörungen der Patienten wird in den meisten Fällen Circadin (Melantonin) eingesetzt. Auf andere Schlafmedikamente wird aufgrund des hohen Suchtpotenzials meistens nicht zurückgegriffen.

Natürlich kann es Folgen haben, wenn ein Kind nur auf ADHS statt auf ADHS plus FAS behandelt wird. Diese Folgen beschränken sich aber in der Regel auf Förderungsdefizite, welche keine akuten fatalen Folgen haben, sondern eben nur den bestmöglichen Start für die betroffenen Kinder und Jugendliche einschränkt. Oftmals kommt es hier zu einer Zunahme der expansiv aggressiven Verhaltensweisen unter den Stimulanzien und dann später auch zu krimineller Devianz der Patienten. Auch in punkto Suchtgefahr scheinen die Patienten, welche nicht ausreichend im Sinne des FAS behandelt werden, viel gefährdeterals Kinder und Jugendliche, die adäquat behandelt sind.


*Das partielle FAS (pFAS) sind komplex embryotoxisch entstandene, alkoholbedingte, zerebrale (Teil-) Leistungsstörungen, die auch ohne das Gesamt der typischen körperlichen Merkmale auftreten. Das pFAS ist keine abgeschwächte Form eines Fetalen Alkoholsyndroms. Vielmehr haben Langzeitstudien gezeigt, dass die Entwicklung von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten in beiden Fällen gleich ungünstig verlaufen kann. Diagnostisch stellt sich die Zuordnung zum pFAS als schwieriger dar als die Diagnosestellung eines FAS. Diese diagnostischen Schwierigkeiten führten im weiteren sogar zu einer terminologischen Vielfalt kleinteiliger Abgrenzung. Im Beispiel: Zur Symptomatik der alkoholbedingten Geburtsschäden (ARBD) gehören insbesondere Dysmorphiezeichen, die erst nach gesicherter Alkoholexposition diagnostiziert werden, wie Herzfehler sowie Fehlbildungen und Dysfunktionen der Augen, Ohren, Knochen und Nieren. Außerdem können Fehlbildungen des Skelett- und Organsystems auftreten. Alkoholbezogene zentralnervöse Störungen (ARND) können nur mit gesicherter pränataler Alkoholexposition diagnostiziert werden. Hier sind nicht die physischen Fehlbildungen, sondern die Dysfunktionen des Zentralnervensystems symptomatisch. Mindestens eine der folgenden zentralnervösen Störung muss vorliegen: einkleiner Kopf, Hirnanomalien, eine schlecht ausgeprägte Feinmotorik, Hörprobleme oder ein auffälliger Gang. Außerdem können Verhaltensauffälligkeiten, wie schlechte Schulleistungen, defizitäre Sprachfertigkeiten, Probleme im abstrakten Denken und in Mathematik, geringe Impulsivitätskontrolle, ein schlechtes Sozialverhalten sowie Konzentrations-, Gedächtnis- und Beurteilungsproblematiken auftreten. (Quelle: Medizinische Fakultät Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

**vgl. unseren Blog-Beitrag in der Sparte “Hilfe für Betroffene” unter dem Titel “Therapie-Serie – Achtet auf das, was gut tut! Teil 9 – Neurofeedback”

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Wären Sie mal früher gekommen

Wie kann es sein, dass alle gewusst haben, dass meine Mutter Alkoholikerin und drogenabhängig war und das schon vor ihrer Schwangerschaft, und keiner hat etwas unternommen? Das kann und will die 24 Jahre alte Sandra* nicht begreifen. Alle, dass sind für Sandra die Mitarbeiter des Sozialamtes, des Jugendamtes, die Ärzte, die Familie,die Nachbarn; im Grunde alle, die sie sahen und erlebten.

Dass dem so gewesen sein muss, hat sie in den schriftlichen Unterlagen über sich nachgelesen. Erst als Sandra mit gut einem Jahr alt völlig verwahrlost, unterernährt und mit einer schlimmen Kopfverletzung in der Leipziger Kliniknotaufnahme abgegeben worden war, wurde gehandelt. “Ich war in einem so schlechten Zustand, dass man nicht einmal sicher war, ob ich es schaffen würde”, erzählt die Leipzigerin, “meine Mutter hatte mich nur mit Süßigkeiten gefüttert.”

Der kleine Wurm Sandra kämpfte sich durch und landete nach der Klinik zunächst in einem Kinderheim. Von dort ging es zu ihrer Tante, die mit ihrem Mann eigene Kinder hatteNach drei Monaten gab sie mit der Situation überfordert auf, denn Sandra benötigt besondere Aufmerksamkeit und Teilnahme. Inzwischen zwei Jahre alt, kam Sandra nun zu Pflegeeltern. Endlich kehrte Ruhe ein. Die Pflegeeltern, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, gaben alles, damit es Sandra gut ging und sie sich gut entwickelte. “Ich bin sehr behütet aufgewachsen”, sagt Sandra.

ABER! Da taucht es sofort auf, dieses unausweichliche ABER, wenn es um Alkohol in der Schwangerschaft geht, ob in großen Mengen konsumiert, oder kleinen. “Ich hatte eine Menge Probleme und die sind mit dem Alter immer schlimmer geworden”, berichtet die 24jährige. Es begann mit Verhaltensauffälligkeiten: hohe Aggressivität, extreme Wutausbrüche, emotionale Achterbahnfahrten, schlechtes Kurzzeitgedächtnis, ständige Diskussionen um alles mögliche, Antriebslosigkeit. Hinzu kamen Schlafstörungen, die Schwierigkeit den Fokus zu halten sowie eine gestörte Gefühlswahrnehmung. “Ich habe als Kind gebissen, um meine Zuneigung zu zeigen”, erinnert sich Sandra.

In der Schule zeigte sich alsbald, dass das Mädchen große Schwierigkeiten in Mathe hatte – Kopfrechnen beispielsweise geht bis heute nicht, weil Sandra sich keine Zahlen vorstellen kann. Es wurde eine Dyskalkulie diagnostiziertAuch das räumliche Denken ist deutlich unterentwickeltgenauso wie das Gefühl für Zeit. Ebensoder Umgang mit Geld wurde zum leidigen Thema. Mal funktioniere es, dann wieder lege sich urplötzlich ein imaginärer Schalter um, sagt sie. Obendrein ecke Sandra gerne an, weil sie über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verfüge, vieles anders sehe als andere und das nur allzu deutlich kundtue.

Ahnungslos und wohlmeinend wie die Pflegeeltern seinerzeit waren, setzte vor allem die Mutter, eine Lehrerin, das Mädchen unter Leistungsdruck. Sie sollte doch wenigstens den Hauptschulabschluss schaffen. “Meine Noten hat eigentlich meine Mutter geschrieben”, gesteht die 24jährige.

Der ständige Leistungsdruck blieb nicht folgenlos. Sandra rebellierte immer mehr, war kaum zu bändigen. Die Ärzte äußerten aufgrund “minimaler Anzeichen” den Verdacht auf ADHS.

Das Verhältnis zu ihrer Pflegemutter wurde zusehends schlechter. Hinzu kam, dass Sandra’s leibliche Mutter verstarb. Für die damals9jährige ein heftiger Schlag.Hatte sie doch stets die Hoffnung im Herzen getragen, eines Tages zu ihrer leiblichen Mutter zurückkehren zu können. “Mir ist nie richtig erklärt worden, was mit meiner Mama los ist. Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Und sie haben mich nicht auf meine Weise trauern lassen”, klagt Sandra.

Jetzt erst erfuhr sie, wie sehr drogenkrank ihre Mutter war, dass sie trotz ihrer Sucht noch drei weitere Kinder bekommen und zwei Fehlgeburtenerlitten hatte.“Wir haben alle einen anderen Vater”, weiß die 24jährige inzwischen. “Meine Pflegeelternwolltenmich beschützen”, ist Sandra heute klar, “aber es war der falsche Weg.”

Dieser führte dazu, dass Sandra das Haus ihrer Pflegeeltern verließ. Sie entschied sich für eine betreute Mädchen-Wohngemeinschaft, in der sie blieb, bis sie ihren 18. Geburtstag feierte. Die WG habe ihr gut getan, resümiert die junge Frau, sie habe ihr alle Facetten des Lebens aufgezeigt. Hier habe sie Selbständigkeit, das Erwachsen werden und den Alltag zu meistern gelernt.

Sandra’s persönliche Probleme jedoch blieben. Nur ihre Wutanfälle nahmen ab. Dafür bekam sie starkeDepressionenund Nervenzusammenbrüche, die an Intensität und Quantität zunahmen.Man verabreichte ihr Antidepressiva. Für Sandra ein Horrortrip: “Ich mutierte zu einem Zombie.” Daraufhin verweigerte sie Medikamente.

Die junge Frau kann es selbst kaum glauben, dass sie nach dem Hauptschulabschluss erfolgreich eine Lehre als Verkäuferin absolvierte. “Gefühlt wollte ich wohl fünf Mal abbrechen”, erinnert sie sich. Aber sie kämpfte sich durch und heuerte im Anschluss bei Leiharbeiterfirmen an. Eineinhalb Jahre hielt sie bei der letzten Stelle durch. Dann plötzlich streikte von jetzt auf gleich ihr Körper. Sandra brach während der Arbeit zusammen. “Seitdem bin ich arbeitslos”, berichtet sie, “ich halte keinen Druck mehr aus”.

Inzwischen lebt Sandra alleine mit ihrem Hund in einer Einzimmer-Wohnung. Er hat sie, wie sie sagt, aus ihrer tiefsten Krise geholt. Allein die Verantwortung für ihn motiviert sie, jeden Tag aus der Wohnung zu gehen, selbst wenn es ihr noch so schlecht geht. Und er spüre immer, wenn es ihr nicht gut gehe. Dann gibt er ihr Nähe und Zuneigung und sucht sie aufzumuntern. Gut tue ihr außerdem eine Gesprächstherapie, zu der sie regelmäßig geht. Und schließlich zeichnet sich auch endlich ab, was die Ursache für all ihr Unglück ist. “Ich bin gerade dabei diagnosdiziert zu werden”, erzählt die 24jährige.

Es war ihr Pflegevater, der vor einem Jahr von dem Fetalen Alkoholsyndrom gehört hatte. Er begann sich intensiv damit auseinanderzusetzen, besuchte Seminare und überredete Sandra einen entsprechenden Arzt aufzusuchen: Komm’, wir probieren es, sonst wirst Du immer nur in die Schublade geschoben, dass Du faul, dummund depressiv bist.

Als Erwachsene einen Diagnostiker für das Fetale Alkoholsyndrom zu finden und einen Termin zu bekommen – leichter gesagt als getan. “Wären Sie mal früher gekommen, haben wir zu hören bekommen”, berichtet Sandra verärgert. Inzwischen sind Pflegevater und Tochter in derUniklinik Erlangen angenommen worden und es sieht ganz danach aus, dass sich der Verdacht des Pflegevaters bestätigt. Einer der Tests hat Sandra besonders beeindruckt: “Bei einem Farbtest bin ich mit so vielen verschiedenen Farben gleichzeitig konfrontiert worden, dass ich plötzlich Lila gesagt habe, obwohl da gar kein Lila war. Mein Gehirn war vollkommen überfordert und hat die Notbremse gezogen.”

Ist die Diagnose eine Erleichterung für sie? “Nein”, stellt Sandra klar, “es ist lediglich eine Erklärung. Es ist schwierig, das anzunehmen. Ich bin immer noch am Reflektieren. Das alles zu verarbeiten, das braucht Zeit”. Für die 24jährige wird erst einmal “jeder Tag ein Kampf” bleiben. Sie hofft allerdings, dass ihr eine anstehende Medikation hilft, insbesondere ihre emotionalen Achterbahnfahrten und ihre Schlafprobleme etwas in den Griff zu bekommen.

*Name ist auf persönlichen Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne