“Es gibt keine Vorurteile gegen mich” – FAS-Betroffener klärt an der Schule auf

Wie ist es, mit dem Fetalen Alkoholsyndrom zu leben? Was hast Du für Defizite? Kann man damit arbeiten gehen? Vergisst Du viel? Ist es in Deiner Pubertät noch extremer gewesen? Trainierst Du Dein Gehirn, um Dich besser konzentrieren zu können?

Geduldig beantwortet Stefan Kunze, der erst 2016 im Alter von 32 Jahren in der Berliner Charité das Fetale Alkoholsyndrom diagnostiziert bekam, die Fragen der Schüler des Gymnasiums Henstedt-Ulzburg in Schleswig-Holstein. Es ist dem jungen Mann ein inneres Bedürfnis, nach so langen Jahren des Haderns mit sich selbst und dem Leben, des Leidens, der Verzweiflung ständig ausgegrenzt zu werden, weil man so anders war als die anderen, vieles nicht konnte und doch so gerne wollte, so sehr kämpfen musste für alles und jedes, endlich, endlich über diese Zeit sprechen zu können. “Es ist Vergangenheitsbewältigung, es ist Therapie”, bekennt der junge Mann.

Natürlich sind die Beeinträchtigungen nicht verflogen mit der Diagnose, das nicht. Aber es herrscht endlich Klarheit über das Warum und Wieso. Man könne endlich Frieden mit sich finden, sich auf das konzentrieren, was man gut könne, aber stets dachte, man könne es nicht, spricht Stefan aus, was viele Betroffene genauso empfinden.

“Meine Mentorin Kerstin gibt mir ein Gefühl der Selbstsicherheit”, freut sich Stefan selbst so sehr, “dass ich mich traue das zu tun.” Seine Mentorin Kerstin Klennert arbeitet für die örtliche ATS Suchtberatungsstelle und zeichnet seit Jahren für die Aufklärungsarbeit der Achtklässler am örtlichen Gymnasium verantwortlich. In Doppelstunden werden die 13-14jährigen über die Gefahren und Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft informiert. “Erst vermittelt Kerstin das Wissen über das Fetale Alkoholsyndrom – wie es entsteht, was mit dem Fötus passiert, welche Folgen der Alkoholkonsum für die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes haben kann”, erläutert Stefan, “dann bin ich an der Reihe aus meinem Leben zu erzählen und die vielen Fragen zu beantworten.” Die Interaktion mit den Schülern empfindet Stefan als vollkommen vorurteilsfrei: Es gibt keine Vorurteile gegen mich.” Das freut ihn sehr.

Was beeindruckt die Kinder ganz besonders? Die Antwort kommt von Stefan wie aus der Pistole geschossen: “Was man trotz der vielen Beeinträchtigungen und Defizite wie beispielsweise schwere Konzentrationsprobleme, geringe Belastbarkeit, schlechtes Kurzzeitgedächtnis, verminderte Auffassungsgabe alles schaffen könne. Stefan selbst hat tatsächlich den Realschlussabschluss erreicht und eine Ausbildung zur Fachkraft des Pflegeassistenten absolviert. Darauf ist er stolz. Und auch darauf, dass er sozusagen Dozent für die Aufklärung des Fetalen Alkoholsyndroms an den Schulen ist.

Fazit seiner Aufklärungsarbeit: “Es brennt sich besser ins Gedächtnis ein, wenn die Kinder meine persönliche Lebensgeschichte hören.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Der ist zu deppert aus dem Weg zu gehen”

Ausnahmezustand. Schon wieder Ausnahmezustand. Der andere ist noch gar nicht so lange her. Gefühlt gestern. Realiter vor ca. drei Jahren, als Anine* und ihr Mann Hannes* aus Nordrhein-Westfalen feststellten, dass mit ihrem Pflegesohn Liu* etwas Grundlegendes nicht stimmt und der Kampfes-Marathon um die richtige Diagnose, Unterstützung, Hilfsmittel und den richtigen Pflegegrad begann. Fetales Alkoholsyndrom eben – bundesweit nicht anerkannt, also Einzelfallentscheidung, also Hartnäckigkeit und Ausdauer gefragt. Die zahlte sich aus, die Pflegeeltern bekamen endlich angemessene Hilfe und Unterstützung. Und tatsächlich lief es dann mit ihren drei leiblichen und dem kleinen Liu richtig gut, so gut, dass Anine und Hannes sogar noch Liu’s kleine Schwester Tia* aufnahmen. Auch sie ist vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen.

Und nun wieder Ausnahmezustand. Ausnahmezustand, weil Liu nicht mehr in die Kita geht. Ein Paradebeispiel für gescheiterte Inklusion. Die Gründe in Kurzfassung: FAS? – eine Modediagnose! 1:1-Betreuung? – vielleicht sollte mal die Erziehungskompetenz zu Hause hinterfragt werden! “WIR hier kommen gut mit ihm zurecht”, hat Anine die Aussage der Erzieherin noch zu gut im Ohr. Vor Weihnachten sei dann die Grenze dessen, was ein Mensch wegzulächeln vermag, definitiv überschritten worden. Die Pflegeeltern zogen die Reißleine und nahmen ihren Jungen von einem auf den anderen Tag aus der Kita. Seitdem betreuen sie Liu zum größten Teil alleine. Anine: “Wir gehen gerade nicht nur ein bisschen auf dem Zahnfleisch, wir gehen gerade weit über unsere Grenzen.”

Dabei war eineinhalb Jahre alles recht gut gelaufen mit Liu in der nordrhein-westfälischen Kita. Schon sein älterer Bruder (allerdings nicht behindert) war dorthin gegangen und hatte sich sehr wohl gefühlt. Aber mit einer Strukturänderung, einem Leitungswechsel, einem anderen Personalschlüssel, der mehr Kinder und weniger Erzieher bedeutete, änderte sich plötzlich alles. Jeden Tag holten die Pflegeeltern ein Kind ab, das innerlich kochte wie eine Bombe und zu Hause dann so richtig explodierte. “Die Wutanfälle gerieten völlig aus dem Ruder”, berichtet Sonderpädagogin Aline, ebenso seine tourette-ähnlichen Anfälle. Kein Wunder also, dass Liu nicht mehr zu Kindergeburtstagen eingeladen wurde.

Hannes und Aline fragten immer wieder in der Kita nach, woran das denn liegen könnte. Aber stets hieß es, alles sei fein. Das ließen die Pflegeeltern nicht auf sich beruhen. Sie bekamen die Ärztin des Gesundheitsamtes mit ins Boot. Diese verschrieb für Liu sechs Stunden Kita-Assistenz. Mehr wollte die Kita nicht zulassen.

Und siehe da, die Assistenz beobachtete, dass in der Kita doch nicht alles reibungslos verlief. Sie beobachtete ein überangepasstes Kind, das ständig Angst hatte Fehler zu machen, weil es die vielen Abläufe und Regeln in der Kita nicht verstand und nicht umsetzen konnte. Ein Kind, das nicht realisierte, dass es zur Seite gehen muss, wenn jemand mit dem Essenswagen auf ihn zukommt und Kommentare erntete wie “der ist zu deppert aus dem Weg zu gehen.” Wurde Liu für Fehlverhalten bestraft, war die Aufregung groß, dass er das Gleiche am nächsten Tag wieder tat.

Was die Assistenz beobachtete und weitertrug, stieß natürlich in der Kita auf Missfallen und so wurde sie permanent attackiert und versucht sie einzuschüchtern.

Ein weiterer Höhepunkt, der das Fass mit zum Überlaufen brachte, war der plötzliche Vorstoß der Kita in Sachen Hygieneerziehung. Trotz Liu’s diagnostizierter und der Kita bekannten Stoffwechselstörung, wegen der das Kind bis zu sieben Mal am Tag in die Windel macht ohne das zu spüren, hieß es auf einmal ‘wir fangen jetzt mal mit Hygienerziehung an, der Junge muss endlich trocken werden.’ Liu’s Ärzte rieten unisono davon ab, jetzt schon das Thema anzugehen. Auf die Bitte der Pflegeeltern, das Thema mit der Kita gemeinsam zu besprechen, folgte die Reaktion: ‘Wir wissen gar nicht, was es da zu besprechen gibt.’

Nächste Maßnahme: Ein runder Tisch wurde einberufen. Es nahmen teil die Integrationsbeauftragte der Stadt und Vertreter des Trägers Erziehungsbüro Rheinland, die betroffenen Kita-Pädagogen und die Eltern. “Es war ein wirklich gutes Gespräch”, sagt Anine. Es herrschten Einsicht, Freude und der Wunsch nach Fortbildung, die allesamt kostenlos erhalten sollten, sowie die Einigkeit darüber, dass Liu 40 Stunden eine Assistenz an die Hand bekommen solle.

Eine Woche später kompletter Stimmungswandel. Komplette Ablehnung. “Einer Erzieherin rutschte über die Lippen, sie habe in ihrer Schwangerschaft jeden Tag ein Bier getrunken und ihr Kind habe nicht EINE Beeinträchtigung”, erinnert sich Liu’s Pflegemutter und klagt: “Diese Behinderung FAS wird so sehr tabuisiert, dass man sie lieber leugnet als sich den Tatsachen zu stellen. Was sie nicht sehen wollen, existiert auch nicht.”

Bis zum heutigen Tag wird Liu zu Hause betreut. Anine: “Aber wir erfahren gerade jetzt auch sehr viel Einsatz von unserem Träger, den Assistenzdienst und ganz besonders durch Liu’s persönliche Assistenz**. Wir haben Freunde, die unser Entsetzen teilen, uns sagen, dass wir keine unfähigen Eltern sind. Dass wir tolle Kinder haben. Wir haben ein gutes Netz. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen eine inklusive Gesellschaft.”

Zumindest für ihren Pflegesohn sehen Anine und Hannes ein Licht am Horizont. Mit vereinten Kräften haben Sozialamt, die Stadt, das Erziehungsbüro Rheinland und der Landschaftsverband Rheinland (LVR) einen Platz für Liu in einer Kita in Aussicht, wo man sich über eine 40-Stunden-Assistenz sowie kostenlose Fortbildungen freut. Gleichzeitig suchen die Pflegeeltern übrigens schon nach einer geeigneten Schule, in eineinhalb Jahren wird es soweit sein – ein kurzer Zeitraum, wenn es um ein behindertes Kind geht.

Die Geschichte ward geschrieben, da ereilt Hannes und Anine ein verrücktes Finale: Die Pflegeeltern werden aufgefordert ihr Kind umzumelden im städtischen online-Kitaportal. Ups, kein Liu registriert, ist die Rückmeldung. Wie das? Ohne im System registriert zu sein, hat man auch keinen Kita-Platz. Aber die Familie zahlt seit ehedem für diesen Platz. Oh, Systemfehler, stellt die Stadt fest, ein entsprechender Account wird wieder hergestellt. Doch – das bedeutet, Liu muss neu angemeldet werden. Heißt im Klartext: Das dauert drei Wochen, dann kommt das Kind auf die reguläre Warteliste.

Bitte? Wieder Stress. Alle Nerven lagen blank. Mit letzter Kraft nicht locker gelassen. Plötzliche Wende. Der neue Kita-Vertrag flattert auf den Tisch. Und Liu hatte tatsächlich schon seinen ersten Kita-Tag.

*Die Namen sind zum Schutz der Familie geändert

** Die Kita-Assistenz darf nicht zu Hause eingesetzt werden. Für die Unterstützung zu Hause ist die sogenannte Freizeit-Assistenz zuständig. Die Assistenz für die Kita zahlt üblicherweise der LVR, die für die Freizeit das Sozialamt aus den Mitteln des sogenannten persönlichen Budgets. Die beiden Behörden stritten zunächst wer die Kosten für die derzeitige Assistenz übernimmt und zahlten beide gar nichts bis der Streit geklärt sei. Anine und Hannes finanzierten die Freizeit-Assistenz deshalb erst einmal aus der eigenen Tasche. Inzwischen ist im Grunde klar, dass das Sozialamt zuständig zeichnen muss. Das ziert sich dennoch, fordert laut Anine immer neue Unterlagen und Nachweise für die Notwendigkeit der Maßnahme, weil man sich offensichtlich erhoffe, doch noch andere Kostenträger heranziehen zu können.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Meine Mutter wollte mich wegtrinken”

Theresa war kein gewolltes Kind. Theresa vermutet, dass ihr Vater gar nicht ihr Vater ist. Theresa hat vier Geschwister. Alle vier sind kerngesund. Nur Theresa nicht. Theresa ist das zweitgeborene Kind der Familie und nur Theresa hat das Fetale Alkoholsyndrom. “Meine Mutter wollte mich wegtrinken”, ist Theresa der festen Überzeugung. Sie glaubte wohl, durch einen extrem hohen Alkoholkonsum werde es zu einer Fehlgeburt kommen. Theresa’s trockener Kommentar: “Das hat aber nicht funktioniert.” Wie so viele Menschen saß auch Theresa`s Mutter dem überlieferten Irrglauben auf, starker Alkoholkonsum in den ersten Wochen der Schwangerschaft führe sowieso zu einem Abort.*

Theresa erblickte schon in der 31. Schwangerschaftswoche das Licht der Welt – per Kaiserschnitt. Neun Tage musste sie beatmet werden im Brutkasten und wegen einer schweren Lungenentzündung bis August im Krankenhaus bleiben. Dann durfte sie nach Hause. “Ach, was heißt zuhause? Es war die Hölle. Meine Mutter wollte mich gleich weggeben, aber meinem Vater war das wegen des gesellschaftlichen Ansehens peinlich”, berichtet die heute 32jährige. Er habe es lieber zugelassen, dass Theresa in ein Zimmer mit einer Matratze auf dem Fußboden “weggesperrt” wurde. Zumindest seit sie sich erinnern kann, war das so.

So wie sie auch noch sehr gut weiß, dass sie immer Hunger hatte. So großen Hunger, dass sie dem mit ihr als Gefährten in dem Zimmer eingesperrten Papagei oft die Körner weggefuttert hat. “Ich hatte einen dicken Bauch wie die Kinder in Afrika”, erzählt Theresa, “meine Eltern meinten, das käme vom zu vielen Trinken. So bekam ich nichts mehr zu trinken. Ich habe dann aus der Toilette getrunken.”

Da Theresa es gewohnt war aus der Toilette zu trinken, tat sie dies auch im Kindergarten der Lebenshilfe. Hier ging sie hin, weil sie extrem entwicklungsverzögert war, außerdem wegen, so ist es im Jugendamtsbericht zu lesen, “sozialer Deprivation”.

Nicht zu lesen, aber zu sehen ist, dass Theresa eine von der Herdplatte verbrannte Hand hat. “Eine Strafe meiner Mutter”, erinnert sich die junge Frau. Ebenso, dass sie von der ewig auf sie wütenden Mutter die Treppe hinuntergestoßen wurde. Einmal brach sich das Kind den Arm, ein anderes Mal das Bein. “Beim Arzt hieß es, ich sei von der Schaukel gefallen, ich sei so tolpatschig”, sagt Theresa – für die Erwachsenen eine nicht aus der Luft gegriffene Erklärung, denn im Bericht des Jugendamtes steht geschrieben: retadierende Motorik und Muskelhypotonie; festgestellt durch regelmäßige Untersuchungen einer Ärztin. “Auf mich wollte keiner hören, da hieß es immer nur – die übertreibt”, so Theresa.

Nicht körperlich schmerzhaft, aber demütigend als Strafe der Mutter war das Haare schneiden für Theresa. Zornig und wahllos sei an ihr herumgeschnitten worden. “Komische Strafen waren das”, findet die junge Frau.

Mit sieben Jahren wurde Theresa eingeschult; in die Förderschule. Sie trank immer noch aus der Toilette und kam mit vollen Windeln in den Unterricht. Die Lehrerin informierte das Jugendamt. Theresa wurde umgehend Pflegeeltern übergeben, einem älteren Ehepaar, das Theresa schon kannte. “Ich war schon an den Wochenenden immer bei ihnen gewesen. Meine Mutter hatte eine Anzeige in der Zeitung geschaltet, dass sie übers Wochenende Betreuung suche”, erzählt die junge Mutter. Theresa kam vom Regen in die Traufe: “Sie hatten auch immer so komische Strafen für mich. Ich musste eine ganze Nacht lang vor ihrem Bett stehen bis ich vor Müdigkeit halluzinierte.”

Das Glück kam endlich mit den zweiten Pflegeeltern, die Theresa bis heute als ihre “wirklichen Eltern” betrachtet. Diese hatten bereits ein Kind aus Rumänien adoptiert, das Theresa schon aus der Schule kannte. Es war ihr bester Freund. Und das Leben in dieser Familie die Rettung.

Die Pflegeeltern kümmerten sich um “das traurige Kind”, bis der (vermeintlich) leibliche Vater sich unvermittelt meldete und Theresa überredete, zu ihm zurückzukehren. Da war sie 16 Jahre alt. “Meine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, an meine Geschwister, die bei ihm lebten, konnte ich mich nicht erinnern”, sagt Theresa, “und ich war voll in der Pubertät. Ich war ganz schlimm.” Delinquenz, Stehlen und Lügen standen auf der Tagesordnung. “Eigentlich habe ich damals nur noch gelogen, weil ich immer Angst hatte Ärger zu bekommen”, sagt Theresa. Beim Vater musste sie immer “irgendwelche Sachen” unterschreiben, die sie nicht verstanden hat. Aus dieser Zeit hat sie noch heute 30.000 Euro Schulden.

Trotzdem schaffte Theresa den Schulabschluss, machte den Führerschein und begann anschließend eine Ausbildung im Restaurant. Die junge Frau schien einen guten Lauf zu haben, bis sie eines Tages bei der Arbeit mir nichts dir nichts zusammenklappte.

Die Ärzte, die sie von Kopf bis Fuß untersuchten, fanden nichts. Aber in Theresa wehrte sich alles, wieder zur Ausbildungsstätte zurückzukehren. Sie spürte, dass die Arbeit nicht gut für sie war. Von da an meldete sich Theresa arbeitslos.

In der Zwischenzeit hatte sie ihren heutigen Mann, einen Maler und Lackierer, kennengelernt. Mit ihm bekam sie drei Kinder. “Das Amt hat sie mir alle weggenommen. Ich würde das eh nicht können. Die Richterin sagte wörtlich zu mir: Sie als Arbeitslose brauchen keine Kinder. Sie kriegen eh nichts gebacken”, kann sich Theresa bestens erinnern.

“Ich kann es aber offensichtlich doch, Kinder groß ziehen”, schiebt Theresa strahlend und triumphierend hinterher. Theresa: “Wir sind einfach in eine andere Stadt gezogen.” Damit änderten sich die Zuständigkeiten. Die hiesigen Behörden fühlten sich nicht auf den Plan gerufen. Theresa und ihr Mann bekamen noch zwei Kinder – inzwischen zehn und acht Jahre alt, beide gehen zur Regelschule. Zu den anderen drei Kindern haben sie und ihr Mann keinen Kontakt. Ein Hin und Her – das möchte Theresa nicht, nicht für sich und nicht für die Kinder.

Und wie kam es nun zur Diagnose Fetales Alkoholsyndrom? “Jemand hat mich auf mein Aussehen angesprochen und ich wunderte mich ja selbst immer, dass ich aussehe wie eine Ameise”, erzählt Theresa lachend, “ich weiß ja selbst, dass ich komisch bin und sag’ das anderen auch.” Nachdem sie ein Jahr lang auf einen Termin hatte warten müssen, ist sie für zwei Tage nach Berlin zu ihrer Schwester gefahren. Im FASD-Fachzentrum Sonnenhof wurde 2018 die Diagnose gestellt.

Die Liste ihrer Beeinträchtigungen ist lang. Für Theresa selbst besonders auffällig ist ihre extreme Orientierungslosigkeit. Auto fahren kann sie nur, wenn wenigstens ihre Kinder dabei sind. “Die sind dann mein Navigationssystem, ich vergesse alle Wege”, sagt sie. Die Führerscheinprüfung zu absolvieren, schaffte sie allerdings problemlos. Ihre Kinder fragt sie auch, wie alt sie ist. Das kann sie sich nicht merken. Zahlen sind für sie sowieso ein Buch mit sieben Siegeln: “Mathe geht gar nicht.” Kurz- und Langzeitgedächtnis – defizitär. Und mit Wutausbrüchen sei das speziell: “Ich kann wegen Kleinigkeiten mir nichts dir nichts explodieren. Und dann mir bloß nicht ‘beruhig Dich mal’ sagen. Dann wird es noch schlimmer. Am besten lässt man mich in Ruhe. Es geht dann nach einer Weile wieder.”

Noch etwas? “Oh ja, Ordnung halten, aufräumen” …. ganz schwieriges Thema für Theresa. Aufgefallen ist ihr außerdem: “Ich habe ein anderes Schmerzempfinden. Ich bin hart im Nehmen. So schnell tut mir nichts weh.”

Was kann Theresa besonders gut? – “mit Pferden umgehen – ich kann sie lesen.”

Nach all dem, was vor allem ihre Mutter ihr angetan hat – empfindet sie Wut auf ihre Mutter? “Nein, überhaupt nicht. Ich kann verstehen, dass sie mich hasst, wenn es tatsächlich stimmt, dass ihr Vater sie mit mir geschwängert hat” sagt Theresa. Theresa hätte ihre Mutter so gerne nach all den Jahren noch einmal kennengelernt, um ihr zu sagen, dass sie ihr verziehen habe. “Aber sie verleugnet mich komplett bis heute.”

Theresa’s Wunsch an die Kampagne: “Ich würde gerne Gleichgesinnte kennenlernen. Und ich würde gerne Eltern helfen ihre FAS-Kinder besser zu verstehen wie sie ticken. Wir sind nämlich sehr anders.”

*Bei Alkoholkonsum, insbesondere verstärktem Alkoholkonsum, besteht tatsächlich eine erhöhte Gefahr, dass es zu einer Fehlgeburt kommt. Relativ sicher ist dies aber nur in den ersten zwei Wochen der Schwangerschaft. In den ersten 14 Tagen post conceptionem wird der Embryo durch das Blut der Mutter ernährt, das durch das extraembryonale Zölom und den Dottersack diffundiert. Alkohol und Acetaldehyd erreichen den Trophoblasten in dieser Zeit, es wird jedoch angenommen, dass diese keine bleibenden Schäden hinterlassen. Entweder können in dieser Zeit geschädigte Zellen noch durch pluripotente Zellen ersetzt werden oder die  toxische Wirkung führt aufgrund ihres Ausmaßes zu einer Störung des Trophoblasten und zum Frühabort, ganz im Sinne eines „Alles-oder-Nichts-Prinzips“. Ist und bleibt die Eizelle also stark stark geschädigt, nistet sie sich nicht in der Gebärmutter ein und wird, in aller Regel mit der nächsten Blutung, unbemerkt abgestoßen.

Im übrigen verbietet sich eine Spekulation auf eine Frühgeburt auch deshalb, da der erste Tag der Schwangerschaft in aller Regel nur rückwirkend festgestellt wird.

Quelle: www.uni-muenster.de

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Ich wünschte mir so sehr in eine Pflegefamilie zu kommen”

Für Elvira aus Berlin, 31 Jahre und Mutter eines neun Jahre alten Sohnes, steht fest: Hätte man sie ihrer Mutter weggenommen, dann wären ihr all die schrecklichen Erlebnisse, die sie zutiefst traumatisiert haben und mit denen sie bis heute zu kämpfen hat, erspart geblieben. Elvira versteht bis heute nicht, warum niemand geholfen hat. “Es haben alle gewusst”, betont sie, “es war den Lehrern bekannt, den Eltern, dem Jugendamt, den Nachbarn, den Ärzten.” Es war auch ein offenes Geheimnis, dass der Vater sich kurz nach der Geburt der Tochter das Leben genommen hatte. Man habe nichts tun können, hat man ihr erklärt, nachdem das Kind 15 Jahre einen einzigen Albtraum erlebt hatte, der erst mit dem Tod der Mutter endete.

“Seit ich mich erinnern kann, hat meine Mutter getrunken”, sagt Elvira. Jeden Tag, den ganzen Tag, gleich nach dem ersten Kaffee morgens ging es los. Da wurde das Bier in die Kaffeekanne geschüttet und hinter das Sofa gestellt. Am Nachmittag zog es die Mutter in die Kneipen. “Ich kannte sie alle in Tempelhof, die Kneipen waren meine zweite Heimat”, so Elvira. Da hat das kleine Mädchen dann gesessen zwischen “all diesen ekligen Suffis” und hat mit Bierdeckeln Türme gebaut, Fassbrause trinken und aus dem Automat an der Wand Nüsse ziehen dürfen. Manchmal hat ihr ein gut gelaunter Suffi die Musikbox angeschmissen. Dann hat die kleine Elvira dazu getanzt – ein kurzes Highlight im ansonsten traurigen Alltag des Kindes.

Denn ging es wieder nach Hause, war die Mutter “immer so sehr besoffen, dass sie nicht mehr richtig laufen konnte.” Dann musste Elvira warten, bis die Mutter ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Warten musste sie auch, bis die Mutter Hunger hatte. Denn nur dann gab es Essen, Essen aus der Konservendose. Ravioli. Und Gulasch. Vor allem Ravioli.

Gab es Freunde? “Nein”, sagt Elvira entschieden, “ich war immer allein.” Jeder wusste, dass Elvira’s Mutter eine starke Alkoholikerin war. Niemand wollte “mit so einer” was zu tun haben. “In der Grundschule haben sie mich deswegen gemobbt”, berichtet die junge Mutter. Das ging so weit, dass sie ihr Pinnadeln in den Körper stachen und sie damit über den ganzen Schulhof jagten. “Immer wieder haben sie mir an den Haaren gezogen. Einmal war es so schlimm, dass meine Kopfhaut verrutschte und mit sechs Spritzen wieder eingerückt werden musste”, lässt Elvira mit ihren Erzählungen erschauern.

Wieso wussten alle vom Alkoholismus der Mutter? “Wir hatten Grundschulfest und es wurde Alkohol ausgeschenkt. Meine Mutter hat sich total volllaufen lassen. Dann fiel sie kopfüber ins Gebüsch. Nur noch die Beine ragten heraus. Ich habe gebrüllt wie am Spieß. Ich fühlte mich total hilflos. Ein Pärchen hat uns nach Hause vor die Türe gebracht. Meine Mutter krabbelte dann auf allen Vieren die Treppe hinauf und ich musste die Tür aufschließen”, erzählt Elvira. Es war ein Erlebnis, das der damals Siebenjährigen die Augen öffnete: “Es war das erste Mal, dass ich das so richtig bewusst erlebt habe. Ich dachte, das ist doch nicht normal.”

Ab diesem Tag versuchte die kleine Elvira, was fast alle Kinder von Alkoholikern tun – den Alkohol zu entziehen, sprich, den Alkohol in den Ausguss schütten. Wie das endete, ist allenthalben traurige Realität: Es gab Schläge, in Elvira’s Fall besonders gern mit einem Teppichklopfer.

Als Elvira’s Mutter an den Folgen ihres Alkoholismus’ gestorben war, “haben sie sich beim Jugendamt mit Hilfspaketen für mich fast überschlagen.” Das arme Mädchen sollte alles nacherleben, was ihr entgangen war und bekam eine Einzelfallhelferin an die Seite. Untergebracht werden sollte sie bei ihrer Verwandtschaft. “Es wollte mich aber keiner haben”, sagt Elvira, “denn alle dachten, ich sei frech und respektlos.” Niemand habe ja gewusst, was das Mädchen erlebt hatte.

Und noch etwas hatte keiner in ihrer Familie gewusst – dass Elvira vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen war. “Das habe ich erst durch meine Einzelfallhelferin erfahren. Es gibt einen Bescheid vom Versorgungsamt Berlin aus dem Jahre 1996. Da war ich sieben Jahre alt. In dem Bescheid steht, dass ich einen frühkindlichen Hirnschaden mit proportionalem Kleinwuchs habe, eine Lernstörung und eine Störung der Grobfeinmotorik. Mir selbst ist zudem aufgefallen, dass ich eine extreme Matheschwäche habe, und es mir sehr schwer fällt, mir mehrere Dinge zu merken. Manchmal fühle ich mich bei zu vielen Anforderungen, die auf mich einprasseln, überfordert. Außerdem komme ich schnell von 0 auf 100”, berichtet die junge Frau.

So spät die FAS-Diagnose – das war ein Schock für Elvira. Auch wenn sie ihr hinsichtlich der Sprüche ihrer Mutter die Augen öffnete. Denn die Mutter hatte von ihr immer als dem “behinderten Kind” gesprochen. Man müsse bei ihr immer fünf Jahre zurückrechnen, da sie zurückentwickelt sei. Elvira: “Ich selber habe nie verstanden, was sie damit meinte und warum. Aber ich habe es ihr immer geglaubt, dass ich bei mir wirklich fünf Jahre zurückrechnen muss. Ich ertappe mich manchmal sogar immer noch dabei.” Elvira war als Kind selbst aufgefallen, dass sie stundenlang für fünf Matheaufgaben brauchte, manchmal sogar einen Tag. Und dass sie es als Qual empfunden hatte davor sitzen zu müssen, oder in der Schule ein Gedicht auswendig lernen musste – “der reinste Horror für mich.” Aber einordnen hatte sie ihre Defizite nicht können.

Tja, nun hatte Elvira zwar die Diagnose bzw. einen Schwerbehindertenausweis in der Tasche, aber wie sollte es weitergehen? Zunächst erbarmte sich einer ihrer drei deutlich älteren Brüder. Dieser sei aber hoffnungslos überfordert gewesen mit ihr. Elvira: “Wir haben uns nur gestritten.” Er habe sie dann ins Heim oder Internat stecken wollen. Das wollte Elvira auf gar keinen Fall und bettelte so lange, bis ihre Tante ein Einsehen hatte und Elvira bis zu ihrem 18. Geburtstag bei sich aufnahm. “Sie war die einzige, die trotz aller negativer Dinge, die über mich erzählt wurden, nie an mir gezweifelt hat. Und sie hat mich sehr verwöhnt, als ich bei ihr gewohnt habe” erinnert sich Elvira. In der Oberschule fand sie dann endlich auch eine Freundin, die sie seitdem an ihrer Seite weiß und ihr als beste Freundin durch manche schwierige Lebensphase hindurch geholfen hat.

Mit Beginn des Erwachsenenalters wollte Elvira möglichst schnell ihre eigenen Wege gehen. Sie schlingerte zunächst ganz ordentlich. Aber als ihr Sohn geboren wurde, bekam ihr Leben einen positiven Sinn. Die junge Mutter sagte zu sich selber: “Ich werde wirklich alles anders machen als meine Mutter damals.” Elvira holte und holt mit ihrem Sohn alle schönen Kindheitserlebnisse nach, die sie so selbst nie hatte und genießt ein zufriedenes und erfülltes Leben. Die glückliche und fröhliche Mama lebt mit ihrem Freund und Söhnchen zusammen in einer Drei-Zimmer-Wohnung, arbeitet als gelernte Hauswirtschaftshelferin im Öffentlichen Dienst, spielt gerne Tischtennis und Badminton und geht gerne ins Kino.

Zum Abschluss möchte Elvira noch einen Appell loswerden: “Kinder sollten in der Schule besser darüber aufgeklärt werden, dass sie das Recht haben aus ihren Alkoholikerfamilien herauszukommen. Sie sollten von Erziehern und Lehrern, die die Situation im Elternhaus kennen, bestärkt werden. Es sollte ihnen Mut zugesprochen werden, solch einen (sicherlich schwierigen, aber wichtigen) Schritt zu gehen.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Es wurde nichts beschönigt, es wurde nichts verschwiegen. Das ist elementar!”

Als der kleine Nick* im Alter von knapp drei Jahren bei seinen Pflegeeltern Isabel* und Paul* einzog, da war das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) bei ihm schon diagnosdiziert. “Wir haben alle Informationen über ihn erhalten. Uns wurden alle Berichte vorgelegt und das Krankheitsbild nochmals ganz genau erklärt. Es wurde nichts beschönigt, es wurde nichts verschwiegen”, sagt die 30 Jahre alte Pflegemutter. Für sie eine elementare Voraussetzung, sonst seien Pflegschaften oder Adoptionen für alle Beteiligten leidvoll und oft genug zum Scheitern verurteilt.

Es macht Isabel wütend, dass die Jugendämter nicht generell aufklärten, dass die Pflege- und Adoptivkinder FAS haben können. Die können gar nicht versprechen, dass die Kinder gesund sind, weil niemand sagen kann, ob die Mutter tatsächlich während der Schwangerschaft keinen Alkohol getrunken hat.”

Isabel und ihr 31jähriger Partner wissen das aus eigener Erfahrung. Die biologische Mutter ihres Sohnes streitet bis heute ab, als Schwangere Alkohol konsumiert zu haben.

Dabei hatte Nick schon nach der Geburt ausreichende optische Anzeichen, im Mutterleib von Alkohol geschädigt worden zu sein: verkürzter Nasenrücken, schmale Augenlidpartie, flaches Philtrum, eine nicht ausgebildete Ohrmuschel, dünne Oberlippe sowie körperlich extrem klein und dünn.

Kein Verdacht der Ärzte? Offensichtlich zunächst einmal nicht. Isabel erinnert sich: “Die Leiterin des Babyschutzes, in das das Baby mit einem Jahr kam, war es, die sofort skeptisch wurde und mit ihrem Verdacht auf FAS nicht locker ließ. Aber erst nachdem sie den Kinderarzt gewechselt hatte, öffnete sich der Weg zur richtigen Diagnose, die in der Fachklinik Walstedde vorgenommen wurde.

Der kleine Nick zeigte und zeigt sich obendrein zunehmend verhaltensauffällig wie auch entwicklungsrückständig. Eine extreme Bindungsstörung fiel schon im Babyschutz auf. Dieser legte sich aber im trauten Familienheim Nick’s neuer Eltern in kürzester Zeit – “für Nick war sofort klar, dass wir seine neue Mama und Papa waren”. Besonders belastend war für alle die Autoaggressivität, indem Nick penetrant mit dem Kopf gegen die Wand schlug und gegen tote Gegenstände rannte. Das sei sehr viel besser geworden. Auch haue und trete er kaum noch. “Er begreift inzwischen, dass das anderen genauso weh tut wie ihm, wenn ich ihm das erkläre”, berichtet seine Pflegemama.

Nach wie vor anstrengend ist seine “Frustrationsgrenze, die bei minus 100 liegt”. Da müsse er nur die Socke nicht richtig angezogen bekommen, dann ist das Theater groß. “Da bringt er mich schon auch zur Weißglut”, gesteht Isabel. Das sei manchmal wirklich schwierig auszuhalten. Ihre Strategie: Sie schnappt sich den kleinen Kerl und geht mit ihm und dem Hund, einem dem Kind gut tuenden Labrador, in den Wald. Die Stille und Ruhe der Natur sorgen für den notwendigen Ausgleich und wirkten beruhigend für alle.

Fortschritte macht der inzwischen Vierjährige auch mit seinem stark defizitären Sprachzentrum. “Als er mit knapp drei Jahren zu uns kam, konnte er nur fünf Worte sprechen: “Mama, Papa, Eis, Auto, ja und nein”, berichtet Isabel, “inzwischen redet er wie ein Wasserfall, auch wenn es nicht immer so klappt und Außenstehende Probleme haben ihn zu verstehen, weil er beispielsweise dielen statt spielen sagt.” Ebenso positiv entwickeln sich seine motorischen Fähigkeiten. “Nick konnte die Balance nicht halten und ist oft hingefallen”, erzählt die 30jährige. Er sei zwar immer noch tolpatschig, aber vieles Schwimmen gehen habe ihm sehr geholfen.

Nicht zuletzt entwickle sich langsam, aber dennoch postiv, sein emotionales Empfindungsvermögen. “Nick ist stark traumatisiert durch seine leiblichen Eltern”, sagt die Pflegemutter. Beim Besuchskontakt habe Nick sofort autoaggressiv reagiert. Wenn der Vater hereingekommen war, dann habe Nick mit seinem Kopf gegen die Wand geschlagen. Isabel: “Die darauffolgende Nacht hat er durchgebrüllt.” Insofern sind seine Pflegeeltern froh, dass die leiblichen Eltern inzwischen kein Interesse mehr haben ihren Sohn zu sehen. Es entspannt die sowieso schon herausfordende Pflege und Fürsorge des Jungen.

“Ja”, gibt Isabel zu, “ich habe mich oft überfordert gefühlt und bin es auch noch oft genug.” Wichtig sei, dass man sich das eingestehe, denn es sei menschlich. Und dass man zulasse, das Kind auch mal wegzugeben, damit man verschnaufen könne. “Anfangs hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn zu meiner Mutter gebracht habe. Ich hatte das Gefühl, ich schiebe ihn ab”, gesteht Isabel. Inzwischen hat sich das jedoch gelegt, zumal der Junge sowieso gerne zu seiner Oma geht.

Gut tut den Pflegeeltern obendrein die engagierte Anbindung an den freien Träger “Perspektive” in Dorsten: “Einmal wöchentlich telefonieren wir mit unserer Fachberaterin, einmal im Monat kommt sie zum Hausbesuch.”

Therapeutische Unterstützung für das Kind gibt es ganz selbstverständlich: “Wir haben noch um gar nichts kämpfen müssen”, konstatiert Isabel, wie man es sonst so oft höre und lese. Nick bekomme im additiven Kindergarten Logo, Ergo und Physio, außerdem eine tiefenanalytische Psychotherapie. Demnächst darf Nick auch zum therapeutischen Reiten. “Da freut er sich sehr darauf, das kennt er schon”, weiß seine Pflegemama.

Insgesamt also beste Voraussetzungen, um, so wie es sich das Elternpaar vorgenommen hatte, einem benachteiligten Kind eine Perspektive geben zu können. Dennoch umtreiben Paul und Isabel Sorgen und Ängste: Wird Nick es jemals schaffen, ein einigermaßen eigenständiges Leben zu führen? Wird er einen Job finden, der seinen Neigungen und Talenten entspricht? Wird er imstande sein Beziehungen zu führen?

Der Weg dorthin ist noch weit und steinig. Vor allem krankt es nach Isabel in unserer Gesellschaft daran, dass die Masse der Menschen noch nie vom Fetalen Alkoholsyndrom gehört hat. Das haben Isabel und Paul in ihrem eigenen Umfeld exakt so erlebt. Daraus ergäbe sich zudem, dass viele Menschen gar nicht wüssten, dass ihr Kind unter FAS leide. Das müsse sich dringend ändern, findet Isabel. Und selbst wenn eine Diagnose gestellt sei, würden viele Betroffene nicht darauf hingewiesen, dass diese Kinder einen Anspruch haben auf Pflegegrad und einen Behindertenausweis.

Und noch etwas verärgert Isabel: “Die meisten Personen des öffentlichen Lebens engagieren sich für Kinder in der Dritten Welt. Das ist auch gut und wichtig. Aber auch hier in Deutschland, Europa, den USA, gibt es Probleme. Ich würde mir wünschen, dass die Prominenten ihre Reichweite auch genau für dieses Thema hier nutzen.”

*Namen geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Wären Sie mal früher gekommen

Wie kann es sein, dass alle gewusst haben, dass meine Mutter Alkoholikerin und drogenabhängig war und das schon vor ihrer Schwangerschaft, und keiner hat etwas unternommen? Das kann und will die 24 Jahre alte Sandra* nicht begreifen. Alle, dass sind für Sandra die Mitarbeiter des Sozialamtes, des Jugendamtes, die Ärzte, die Familie,die Nachbarn; im Grunde alle, die sie sahen und erlebten.

Dass dem so gewesen sein muss, hat sie in den schriftlichen Unterlagen über sich nachgelesen. Erst als Sandra mit gut einem Jahr alt völlig verwahrlost, unterernährt und mit einer schlimmen Kopfverletzung in der Leipziger Kliniknotaufnahme abgegeben worden war, wurde gehandelt. “Ich war in einem so schlechten Zustand, dass man nicht einmal sicher war, ob ich es schaffen würde”, erzählt die Leipzigerin, “meine Mutter hatte mich nur mit Süßigkeiten gefüttert.”

Der kleine Wurm Sandra kämpfte sich durch und landete nach der Klinik zunächst in einem Kinderheim. Von dort ging es zu ihrer Tante, die mit ihrem Mann eigene Kinder hatteNach drei Monaten gab sie mit der Situation überfordert auf, denn Sandra benötigt besondere Aufmerksamkeit und Teilnahme. Inzwischen zwei Jahre alt, kam Sandra nun zu Pflegeeltern. Endlich kehrte Ruhe ein. Die Pflegeeltern, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, gaben alles, damit es Sandra gut ging und sie sich gut entwickelte. “Ich bin sehr behütet aufgewachsen”, sagt Sandra.

ABER! Da taucht es sofort auf, dieses unausweichliche ABER, wenn es um Alkohol in der Schwangerschaft geht, ob in großen Mengen konsumiert, oder kleinen. “Ich hatte eine Menge Probleme und die sind mit dem Alter immer schlimmer geworden”, berichtet die 24jährige. Es begann mit Verhaltensauffälligkeiten: hohe Aggressivität, extreme Wutausbrüche, emotionale Achterbahnfahrten, schlechtes Kurzzeitgedächtnis, ständige Diskussionen um alles mögliche, Antriebslosigkeit. Hinzu kamen Schlafstörungen, die Schwierigkeit den Fokus zu halten sowie eine gestörte Gefühlswahrnehmung. “Ich habe als Kind gebissen, um meine Zuneigung zu zeigen”, erinnert sich Sandra.

In der Schule zeigte sich alsbald, dass das Mädchen große Schwierigkeiten in Mathe hatte – Kopfrechnen beispielsweise geht bis heute nicht, weil Sandra sich keine Zahlen vorstellen kann. Es wurde eine Dyskalkulie diagnostiziertAuch das räumliche Denken ist deutlich unterentwickeltgenauso wie das Gefühl für Zeit. Ebensoder Umgang mit Geld wurde zum leidigen Thema. Mal funktioniere es, dann wieder lege sich urplötzlich ein imaginärer Schalter um, sagt sie. Obendrein ecke Sandra gerne an, weil sie über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verfüge, vieles anders sehe als andere und das nur allzu deutlich kundtue.

Ahnungslos und wohlmeinend wie die Pflegeeltern seinerzeit waren, setzte vor allem die Mutter, eine Lehrerin, das Mädchen unter Leistungsdruck. Sie sollte doch wenigstens den Hauptschulabschluss schaffen. “Meine Noten hat eigentlich meine Mutter geschrieben”, gesteht die 24jährige.

Der ständige Leistungsdruck blieb nicht folgenlos. Sandra rebellierte immer mehr, war kaum zu bändigen. Die Ärzte äußerten aufgrund “minimaler Anzeichen” den Verdacht auf ADHS.

Das Verhältnis zu ihrer Pflegemutter wurde zusehends schlechter. Hinzu kam, dass Sandra’s leibliche Mutter verstarb. Für die damals9jährige ein heftiger Schlag.Hatte sie doch stets die Hoffnung im Herzen getragen, eines Tages zu ihrer leiblichen Mutter zurückkehren zu können. “Mir ist nie richtig erklärt worden, was mit meiner Mama los ist. Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Und sie haben mich nicht auf meine Weise trauern lassen”, klagt Sandra.

Jetzt erst erfuhr sie, wie sehr drogenkrank ihre Mutter war, dass sie trotz ihrer Sucht noch drei weitere Kinder bekommen und zwei Fehlgeburtenerlitten hatte.“Wir haben alle einen anderen Vater”, weiß die 24jährige inzwischen. “Meine Pflegeelternwolltenmich beschützen”, ist Sandra heute klar, “aber es war der falsche Weg.”

Dieser führte dazu, dass Sandra das Haus ihrer Pflegeeltern verließ. Sie entschied sich für eine betreute Mädchen-Wohngemeinschaft, in der sie blieb, bis sie ihren 18. Geburtstag feierte. Die WG habe ihr gut getan, resümiert die junge Frau, sie habe ihr alle Facetten des Lebens aufgezeigt. Hier habe sie Selbständigkeit, das Erwachsen werden und den Alltag zu meistern gelernt.

Sandra’s persönliche Probleme jedoch blieben. Nur ihre Wutanfälle nahmen ab. Dafür bekam sie starkeDepressionenund Nervenzusammenbrüche, die an Intensität und Quantität zunahmen.Man verabreichte ihr Antidepressiva. Für Sandra ein Horrortrip: “Ich mutierte zu einem Zombie.” Daraufhin verweigerte sie Medikamente.

Die junge Frau kann es selbst kaum glauben, dass sie nach dem Hauptschulabschluss erfolgreich eine Lehre als Verkäuferin absolvierte. “Gefühlt wollte ich wohl fünf Mal abbrechen”, erinnert sie sich. Aber sie kämpfte sich durch und heuerte im Anschluss bei Leiharbeiterfirmen an. Eineinhalb Jahre hielt sie bei der letzten Stelle durch. Dann plötzlich streikte von jetzt auf gleich ihr Körper. Sandra brach während der Arbeit zusammen. “Seitdem bin ich arbeitslos”, berichtet sie, “ich halte keinen Druck mehr aus”.

Inzwischen lebt Sandra alleine mit ihrem Hund in einer Einzimmer-Wohnung. Er hat sie, wie sie sagt, aus ihrer tiefsten Krise geholt. Allein die Verantwortung für ihn motiviert sie, jeden Tag aus der Wohnung zu gehen, selbst wenn es ihr noch so schlecht geht. Und er spüre immer, wenn es ihr nicht gut gehe. Dann gibt er ihr Nähe und Zuneigung und sucht sie aufzumuntern. Gut tue ihr außerdem eine Gesprächstherapie, zu der sie regelmäßig geht. Und schließlich zeichnet sich auch endlich ab, was die Ursache für all ihr Unglück ist. “Ich bin gerade dabei diagnosdiziert zu werden”, erzählt die 24jährige.

Es war ihr Pflegevater, der vor einem Jahr von dem Fetalen Alkoholsyndrom gehört hatte. Er begann sich intensiv damit auseinanderzusetzen, besuchte Seminare und überredete Sandra einen entsprechenden Arzt aufzusuchen: Komm’, wir probieren es, sonst wirst Du immer nur in die Schublade geschoben, dass Du faul, dummund depressiv bist.

Als Erwachsene einen Diagnostiker für das Fetale Alkoholsyndrom zu finden und einen Termin zu bekommen – leichter gesagt als getan. “Wären Sie mal früher gekommen, haben wir zu hören bekommen”, berichtet Sandra verärgert. Inzwischen sind Pflegevater und Tochter in derUniklinik Erlangen angenommen worden und es sieht ganz danach aus, dass sich der Verdacht des Pflegevaters bestätigt. Einer der Tests hat Sandra besonders beeindruckt: “Bei einem Farbtest bin ich mit so vielen verschiedenen Farben gleichzeitig konfrontiert worden, dass ich plötzlich Lila gesagt habe, obwohl da gar kein Lila war. Mein Gehirn war vollkommen überfordert und hat die Notbremse gezogen.”

Ist die Diagnose eine Erleichterung für sie? “Nein”, stellt Sandra klar, “es ist lediglich eine Erklärung. Es ist schwierig, das anzunehmen. Ich bin immer noch am Reflektieren. Das alles zu verarbeiten, das braucht Zeit”. Für die 24jährige wird erst einmal “jeder Tag ein Kampf” bleiben. Sie hofft allerdings, dass ihr eine anstehende Medikation hilft, insbesondere ihre emotionalen Achterbahnfahrten und ihre Schlafprobleme etwas in den Griff zu bekommen.

*Name ist auf persönlichen Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Aufgeben ist keine Option

Zwei Monate wären es nur noch gewesen, dann hätte sie das erste Lehrjahr für ihre Ausbildung zur Schreinerin geschafft gehabt. Eigentlich schwingt da Stolz in ihrer Stimme mit, als sie das erzählt. Denn für Melissa aus Köln ist es keine Selbstverständlichkeit so weit gekommen zu sein. Sie ist mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf die Welt gekommen, dessen Auswirkungen sie in vielerelei Hinsicht behindern. Die 19jährige kann die Konzentration und Aufmerksamkeit nicht lange halten, sie hat kein Zeitgefühl, kann ihre Impulse nur schlecht regulieren und ihre Wahrnehmung ist eine andere als die anderer Menschen. Das führte in ihrer Ausbildung dazu, dass sie oft unpünktlich war, entweder zum Arbeitsantritt oder auch von den Pausen zu spät zurückkehrte. Sie brauchte mehr Pausen als die Kollegen, war nicht gleichermaßen belastbar. Melissa kann nur vier bis sechs Stunden volle Leistung bringen, nicht volle acht Stunden.

Ein dicker Dorn im Auge des Chefs. “Der hat mir immer gesagt, ich verarsche alle, ich hätte bloß keinen Bock zu arbeiten”, beklagt sich Melissa, “dabei mache ich das doch wirklich nicht extra, ich vergesse einfach die Zeit.” Falsche Unterstellungen machen wütend auf Dauer, ein Wort gibt das andere und das ist nicht immer passend. Das Ende der Schreinerlehre folgte kurz und schmerzvoll. “Dabei haben alle immer gesagt, dass das, was ich arbeite, sehr gut ist”, berichtet die 19jährige bekümmert. An ihren handwerklichen Fähigkeiten habe es nie Zweifel gegeben. Und da keimt er wieder auf, der Stolz. Der Stolz auf ihre unbestrittenen Fähigkeiten und der Stolz darauf, wie weit sie trotz ihres persönlichen Leidensweges gekommen ist.

Geboren von einer damals 19 Jahre alten Mutter, die bis heute stur und steif behaupte, in der Schwangerschaft nur zu Silverster ein Glas Sekt getrunken zu haben. “Ich bin am 14. Januar geboren, das kann gar nicht sein”, sagt Melissa. Schließlich hat die 19jährige noch viel mehr Beeinträchtigungen. “Ich lebe in einer Schwarz-Weiß-Welt”, erläutert sie. Sie könne sich nicht in andere einfühlen, nicht vorstellen, wie und was andere Menschen empfinden, wie sie die Welt wahrnehmen. Auch der Umgang mit ihren eigenen Gefühlen fällt ihr schwer. “Ich kann nicht zeigen, wenn ich mich freue jemanden zu sehen”, sagt sie. Menschen um sich herum kann sie nur bedingt ertragen. Melissa hat generell Probleme mit dem Erkennen logischer Zusammenhänge. Manche Dinge kann sich gut merken, andere sind schnell wieder weg. Sie benötigt Unterstützung deshalb in der Ausbildung und bei der Arbeit genauso wie bei der Bewältigung des Alltags. Hier Struktur hineinzubekommen, das schafft sie nicht allein. Hunger- und Durstgefühle, das sind bei ihr keine natürlich ausgeprägten Bedürfnisse.

Trotz der Vielzahl der richtungsweisenden Handicaps – die Diagnose des Fetalen Alkoholsyndroms bekam Melissa erst vor drei Jahren, nachdem sie vorübergehend in einer Erziehungsstelle betreut werden musste. Dort gab es entscheidenden Impuls. “Anfangs war es erst einmal ein Schock”, gesteht die 19jährige, “aber dann war es auch eine Erleichterung.” Endlich gab es eine Ursache, eine Erklärung, eine Entschuldigung. Melissa kehrte zu ihrer ursprünglichen Pflegefamilie zurück, bei der sie dank der Diagnose auch weiterhin wohnen bleiben kann. Darüber ist die die junge Frau froh. Hier fühlt sie sich wohl, sie empfindet ihre Eltern und die beiden älteren Brüder als eigene Familie. Kontinuität und Sicherheit spielen für Melissa eine wesentliche Rolle, war sie doch gleich nach der Geburt in wechselnder Obhut, da ihre Mutter sie behandelte “wie ein Spielzeug”. Mit 15 Monaten schließlich nahm ihre heutige Pflegefamilie Melissa auf.

Auch Melissa’s weiterer Lebensweg mit Ablehnung, Ausgrenzung in der Schule, ständiger Überforderung, dem Fehlen von echten Freundschaften, war steinig. Dennoch schaffte Melissa den Hauptschulabschluss und fand über das Berufsbildungswerk eine Lehrstelle. Und eigentlich wäre ihrer Auffassung nach alles gut, würde der Ausbilder das Fetale Alkoholsyndrom genauso akzeptieren wie Autismus oder den Behinderten im Rollstuhl. “Da zweifelt keiner an, dass die nicht länger als vier bis sechs Stunden arbeiten können. Bei mir aber schon”, erregt sich Melissa.

Dennoch, aufgeben ist für die junge Frau keine Option. Zu stark der Traum als Schreinerin zu arbeiten und in einer eigenen kleinen Wohnung mit einer Katze zu leben. Melissa muss jetzt nur noch einen Schreiner finden, der bereit ist, sich auf die Thematik des Fetalen Alkoholsyndroms einzulassen. Handwerklich fühlt sich Melissa jedenfalls über jeden Zweifel erhaben. Gefragt nach ihren Wünschen im Umgang mit dem Fetalen Alkoholsyndrom sagt Melissa: “Ich wünsche mir mehr Verständnis, mehr Aufklärung, mehr Unterstützung hinsichtlich Ausbildung und Arbeit. Aber ich wünsche mir auch Menschen an meiner Seite, die mir im täglichen Leben helfen mit der Wohnung, beim Einkaufen, mich aber auch bei Freizeitaktivitäten unterstützen. Es wäre schön, wenn da mal einer ist, der auch mal sagt ‘hey, das hast Du aber gut gemacht, vielleicht kannst Du es noch ein bisschen besser machen, aber das schaffen wir in kleinen Schritten’. Und ich wünsche mir, dass ich so akzeptiert werde, wie ich bin. So wie das meine Pflegefamilie tut.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Erst der Suizidversuch brachte die Diagnose

Das Kind kommt auf die Welt mit nur einem Ohr, der kleine Finger der linken Hand ist verkürzt, der linke Arm fehlgebildet, außerdem wird Skoliose diagnosdiziert, eine Wirbelsäulenverkrümmung.

Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom?

Nein!

“Es war bekannt, das meine Mutter Alkohol in der Schwangerschaft getrunken und Antidepressiva genommen hat”, sagt der Sohn.

Die Mutter streite das ab. Bis heute.

“Aber mein Vater wusste es. Der hat es mir erzählt. Der ist wütend”, sagt der Sohn.

Im Verlauf der Jahre stellt sich heraus, dass der kleine Justin* nicht nur unter körperlichen Beeinträchtigungen zu leiden hat.

Er kann sich nur sehr schlecht konzentrieren, vergisst sehr viel, kann nicht leisten, was er tun soll und fühlt sich oft genug hoffnungslos überfordert. Justin hat Probleme seine Impulse zu kontrollieren und seine Wutausbrüche sind legendär. Hinzu kommen Schlafprobleme, die Nächte empfindet er als Qual. “Gefühlt werde ich 999 Mal wach”, sagt er.

Wird inzwischen mal der Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom geäußert? Bekommt Justin Therapien, Medikamente?

“Nein”, merkt er kurz und knapp an, nur die Skoliose sei operiert worden.

Das Leben nimmt seinen Lauf. Es dauert nicht lange, dass die Eltern sich scheiden lassen. Justin bleibt bei seiner Mutter, einer Erzieherin, bis er 15 Jahre ist. Dann haut er ab und wohnt für fünf Jahre bei seinem Vater, einem selbständigen Unternehmer. Justin ist kreuzunglücklich, das Leben überfordert ihn in jeder Hinsicht, er bekommt Depressionen. Trotzdem schafft er den Hauptschulabschluss und beginnt eine Ausbildung zum Fachlageristen. Drei Monate vor der Prüfung schmeißt er hin. “Wegen der Psyche”, erklärt Justin. Er nimmt ein zweites Mal Anlauf Fachlagerist zu werden. Wieder Abbruch. Begründung dieses Mal: zu sensibel. Auch die Skoliose zollt Tribut.

Justin fängt an sich selbst zu verletzen. Erste Gedanken nicht mehr leben zu wollen befallen ihn. Justin hält es nicht mehr aus beim Vater und flüchtet zur Mutter. Doch auch hier geht es ihm nicht besser. 21 Jahre ist er, als er sich umbringen will. Der Suizidversuch mißglückt, setzt aber auf wundersame Weise innere Kräfte frei. Justin weist sich selbst in die Psychiatrie ein.

“Dort habe ich sehr viel über mich erfahren”, sagt er. Dort stellt man ihm auch endlich die Diagnose: Fetales Alkoholsyndrom im Vollbild, gepaart mit schweren Depressionen.

Wirkliche Hilfe bekommt er offenkundig nicht – es folgen weitere Aufenthalte in einer anderen Psychiatrie. Dort erhält er noch eine Diagnose on top: Borderline.*

Medikation? Begleitende Therapien? “Nur Antidepressiva”, berichtet Justin. Und weiter: ” Ich wollte das nicht. Dann habe ich sie doch genommen und bin voll abgeschmiert. Das ist mir nicht bekommen. Ich habe denen gesagt, dass sie mir Cannabis verschreiben sollen, weil ich damit im Alltag ganz gut zurecht komme.”

Inzwischen lebt Justin allein in einer Wohnung mit zwei Wellensittichen. Ab und an kommt eine Betreuerin vorbei oder er fährt zu ihr. Sie befürwortet einen Umzug in eine betreute Wohngemeinschaft. Bei einem seiner Elternteile zu wohnen ist keine Option mehr. “Sie kommen beide mit meiner Psyche nicht klar”, erklärt Justin. Und Justin möchte es auch selbst nicht: “Sie streiten so viel, das überfordert mich.”

Im August wird Justin ein drittes Mal Anlauf nehmen für eine Ausbildung. Dieses Mal zum Sozialassistenten. Das liegt ihm deutlich mehr: “Ich glaube, das passt gut zu mir, weil ich besonders gut darin bin mich in andere Menschen hineinzuversetzen und zuzuhören.”

Wenn Justin sein bisheriges Leben Revue passieren lässt, dann “wundert es mich schon, dass ich vorher nie in psychologischer Behandlung war” – Diagnose Fetales Alkoholsyndrom hin oder her. Die Beeinträchtigungen hat es ja schließlich gegeben und gibt es bis heute. Aber so, wie die eigene Mutter wider besseres Wissen abstreitet Alkohol während der Schwangerschaft getrunken zu haben, so verständnislos reagiert auch die weitere Verwandtschaft. “Es wird immer wieder gesagt, ich soll mich nicht auf der Diagnose ausruhen. Dabei tue ich das doch gar nicht. Ich habe es ihnen immer und immer wider erklärt, wie das ist mit FAS, inzwischen habe ich keine Lust mehr”, klagt Justin. Sein Vater sei sauer auf Justin’s Mutter, dass sie alles abstreitet. “Aber ich merke ihr an, dass sie ein schlechtes Gewissen hat”, sagt Justin.

Er selbst habe akzeptiert, dass er krank sei: “Ich rede da offen drüber.” Wenn man sich mit den speziellen Beeinträchtigungen auseinandersetze und entsprechend damit umgehe, dann “ist das Leben trotzdem ein schönes”.

Justin möchte möglichst vieles über das Syndrom erfahren. Als er liest, dass in Deutschland jedes Jahr 10.000 Babys mit Alkoholschäden geboren werden, dass inzwischen 300.000 Betroffene damit leben müssen, ist er maßlos entsetzt: “Bitte was? Ich dachte, das haben nicht so viele.”

P. S. Entsetzt ist Justin nicht zuletzt als er erfährt, dass er eine fragwürdige Doppeldiagnose – Fetales Alkoholsyndrom plus Borderline – bekommen hat. Schon seine Betreuerin hatte an der Diagnose Zweifel angemeldet. Nun will sich Justin an ausgewiesene Experten des Fetalen Alkoholsyndroms wenden; dies auch im Hinblick auf eine angemessene Medikation und Unterstützung.

In diesem Zusammenhang wird auf folgenden Beitrag hingewiesen:

https://www.researchgate.net/publication/318707736_FAS_-_die_nicht_gestellte_Diagnose_und_die_Konsequenzen_fur_die_Sozialpsychiatrie

*Name ist geändert

Autorin: Dagmar Elsen

Vom Ausnahmezustand zum doppelten Familiengefühl

Vater, Mutter, fünf Kinder, drei davon schwerhörig, zwei davon haben das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), hinzu kommen fünf Hühner und eine Katze. Die ältesten drei Söhne, Nono* (13), Mäx* (11) und Feivel* (6), sind leibliche Kinder, die beiden jüngsten hörgeschädigt, Pflegesohn Liu* (3) nicht, dafür seine leibliche Schwester Tia* (1). Die beiden Pflegekinder sind in ganz unterschiedlicher Form alkoholgeschädigt. Als Mutter Anine* und ihr Mann Hannes* ihren Sohn Liu in Pflege nahmen, wussten sie nicht, dass er schwere Hirnschädigungen aufgrund von Alkoholkonsum der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft davon getragen hat, geschweige denn eines Tages ein weiteres alkoholgeschädigtes Kind, das obendrein hörgeschädigt ist, in der Familie haben würden, die kleine Tia.

“Uns war klar, was das Fetale Alkoholsyndrom ist”, sagt die Sonderpädagogin. Deshalb hatten wir auch bei der Bewerbung für eine Pflegschaft für uns ausgeschlossen, ein Kind mit FAS aufzunehmen. “Aber was es exakt bedeutet, mit einem FAS-Kind zusammenzuleben, das wissen wir erst seit dreieinhalb Jahren”, gibt sie zu. Dennoch: “Es sollte wohl alles so sein und es passt genau”, sagt die 37 Jahre alte Mutter, die gemeinsam mit ihrem gleichaltrigen Mann, ebenfalls Pädagoge, die Herausforderungen des Lebens positiv angenommen hat. So verrückt es klingen mag, aber: “Genau diese Gesamtkonstellation vermittelt allen ein doppeltes Familiengefühl.”

Bis zu dieser zuversichtlichen Lebenshaltung, bei der, das soll nicht unerwähnt bleiben, nach wie vor die Angst im Nacken sitzt vor dem, was alles noch kommen wird, war es ein harter Weg. “Ja, wir mussten auf allen Ebenen kämpfen – um die richtige Diagnose, um Unterstützung, um Hilfsmittel, um den Pflegegrad … ich glaube, da ist auch erstmal kein Ende in Sicht. Im Widersprüche schreiben sind wir aber immerhin mittlerweile Profis“, stellt Anine mit einer fröhlichen Portion Zynismus klar.

Bezeichnender Weise war es der 09.09.2015, dem offiziellen Tag des alkoholgeschädigten Kindes, an dem der damals sechs Monate alte Liu in das Leben der Kölner Familie trat, und dieses nachhaltig verändern sollte. Anine und ihr Mann spürten von Anfang an Etwas, aber dieses Etwas konnten sie nicht dingfest machen. “Dieser Blick, der irgendwo zwischen ganz tief in die Seele und durch einen durchsehen lag, manchmal neugierig, manchmal teilnahmslos wirkte”, erinnert sich die Sonderpädagogin. Dabei sei es ein augenscheinlich gesunder Junge von normalem Gewicht gewesen. Rückblickend glaubt die Fünffach-Mama, dass man es von Anfang an hätte realisieren können. Vielleicht sei man ja sogar schon vorher über gewisse Auffälligkeiten gestolpert – den starken Tremor nach der Geburt, das bedürfnislose Verhalten des Säuglings, die syndromtypischen Gesichtsmerkmale, die ersten Stereotypen.

Möglicherweise würde es jetzt schon die alles entscheidende Unterschrift der leiblichen Mutter geben, wenn sich “mal jemand getraut hätte, nicht um den heißen Brei herumzureden”, stellt die 37jährige klar. Statt dessen spielten sich zu Hause kräftezehrende Dramen ab. Die Familie lebte im permanenten Ausnahmezustand. Das Kind schrie immer wieder am Tage wie in der Nacht von jetzt auf gleich völlig hysterisch los und ließ sich kaum beruhigen, es schlug mit dem Kopf gegen Wände, es biss sich selbst und riss sich die Haare aus. Der Junge litt unter Schlaflosigkeit und täglich wiederkehrenden Panikattacken. Als er mit zehn Monaten laufen konnte, schmiss er sich dauernd mit dem Gesicht nach vorn ohne Schutzreflex auf die Erde, nichts war vor ihm sicher, er konnte keine Sekunde sich selbst überlassen bleiben. Das arme Kind stand ständig unter hohem Stress, wahrscheinlich die Ursache für seine Stoffwechselprobleme. Sie führen bis heute dazu, dass er bis zu sieben Mal am Tag das große Geschäft in die Windel erledigt. “Wir waren nur noch in Bereitschaft, immer dem Kind hinterher”, beschreibt Anine die Situation. Reaktionen der Außenwelt? “Neben Unverständnis wurde unsere Erziehungsfähigkeit zum Teil in Frage gestellt”, erzählen die beiden und bekamen obendrein unterstellt, dass es mit leiblichen Kindern bestimmt anders laufen würde. Ein Schlag ins Gesicht.

“Nach einem Jahr waren wir an dem Punkt, an dem wir nicht mehr wussten, ob wir das schaffen”, gesteht die 37jährige. Es war eine innerliche Zerreißprobe. Schließlich gab es noch die anderen Kinder und es gab das Ehepaar selbst. Man konnte und wollte nicht riskieren auseinanderzubrechen. “Wir stellten uns noch einmal neu in Frage. Unter Tränen entschieden wir uns ein zweites Mal für Liu”, erzählt Anine. Dies jedoch unter der Prämisse, dass alle Unterstützung und Hilfe mobilisiert werde, die das Sozialsystem hergebe – ohne Wenn und Aber, ohne persönliche Selbstzweifel.

Sagt sich so leicht, war es aber nicht. Es artete in einen kräftezehrenden Ärzte- und Klinikmarathon mit -zig Teildiagnosen aus, denn noch verfügte das Kölner Ehepaar nicht über eine FAS-Diagnose. “Unserem Jugendamt fehlten zeitliche und fachliche Ressourcen, um uns ausreichend zu unterstützen und aufzufangen“, stellt Anine klar, “die Mitarbeiter dort waren zwar persönlich sehr nett, aber mit dem Umfang der für uns notwendigen Unterstützung definitiv überfordert.” Durch Glück gelangten sie an einen kompetenten Arzt in der Frühförderung, der die entsprechenden Weichen stellte. Die nächste gewinnbringende Beratung erhielt das Elternpaar bei dem Verein “Wir für Pänz” in Köln**. Inzwischen sind Anine und ihr Mann bei einem auf das Fetale Alkoholsyndrom spezialisierten Träger angedockt, dem Erziehungsbüro Rheinland***. Hier erhalten sie hilfreiche Supervisionen, gibt es Arbeitsgruppen und Fortbildungen.

Das erleichterte die Herzens-Entscheidung, als es im vergangenen Jahr um die Frage ging, ob man die leibliche Schwester von Liu, die kleine Tia, auch noch aufnehmen solle. “Bauchschmerzen hatten wir schon dabei”, gesteht Anine. Aber zulassen, dass die Geschwister getrennt voneinander untergebracht und aufwachsen würden? Nein!

Das Schicksal hat es am Ende des Tages gut gemeint mit der Kölner Großfamilie: Während Liu immer mit Vollgas unterwegs ist, ist die kleine Schwester ein zartes, eher ruhiges Mädchen. “Sie ist ein Segen”, sagt die Mutter, “sie ruht in sich und nimmt alles ganz gelassen.” Alle Kinder sehen sich als Geschwister an. Niemand genießt eine Sonderstellung. Jeder hat sein Lieblingsgeschwisterkind wie das in anderen Familien auch so ist, wobei die beiden Jüngsten eine ganz besondere Bindung zueinander haben. Und dann gibt es natürlich noch das besondere Band, das die Familie zusammenhält: aufgrund der Schwerhörigkeit von gleich drei Kindern die besondere, bilinguale Kommunikation mit deutscher Laut- und Gebärdensprache untereinander, das wohl wissende Verständnis füreinander aufgrund der verschiedenen Handicaps und der familieneigene Humor, der sich entwickelt hat, um der Tragik des Lebens zu trotzen.

 

Drei leibliche Kinder, zwei Pflegekinder, hörgeschädigte Kinder, Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom – wie wird das Elternpaar Anine und Hannes hinsichtlich der Ihrer Erziehung allen gerecht? Habt Ihr ihn ändern müssen?

“Ja, wir mussten unseren Erziehungsstil ändern, oder eher erweitern. Wir müssen für Liu viele Entscheidungen treffen, die die anderen Kinder in dem Alter selbst getroffen haben. Ein Kind mit FAS bindungsorientiert zu erziehen, ist eine besondere Herausforderung. Liu braucht von uns eine ganz klare Verlässlichkeit, die keine Ausnahmen beinhaltet, oder nur solche, die wir zur Not immer tragen könnten. Er braucht einen klaren, nicht verhandelbaren Rahmen, in dem sicher gestellt ist, dass er andere nicht verletzt, der ihn aber ebenso schützt – vor sich selbst und vor den anderen. Das ist ein ganz besonderer Erziehungsauftrag, der unserer Meinung nach aber leider auch oft genug gegenüber behinderten Kindern zu autoritär ausgeführt wird.

Ein Schlüsselsatz aus dem Buch “Herausforderndes Verhalten vermeiden” von Bo Hejlskov Elven (dänischer Psychologe) ist: “Menschen, die sich richtig verhalten können, werden es auch tun.” Darin steckt so viel Botschaft: Dass herausforderndes Verhalten erst einmal mich herausfordert, und nicht, wie es oft suggeriert wird, automatisch provozierendes Verhalten ist. Nur weil es mich persönlich provoziert, muss es nicht die Intention des Kindes sein mich zu provozieren. Es gilt herauszufinden, was das Kind braucht, um sich anders zu verhalten, und dann darauf aufzubauen zu können. Es ist wichtig, von dem Gedanken wegzukommen, wer denn Schuld trägt an dem Verhalten. In den Augen der Lehrer und Erzieher sind es die unfähigen Eltern; und umgekehrt. Und so dreht man sich im Kreis und wird sicher keine Lösung finden. Kreatives Querdenken ist da definitiv die bessere Lösung.

Dass wir für die beiden Jüngsten klare und strukturierte Verhältnisse schaffen, bedeutet aber nicht, dass wir als Familie einen völlig durchgetakteten Alltag haben. Im übrigen haben die drei Älteren ja das Recht, durchaus auch mal Chaos und Leichtigkeit zu erleben. Wir versuchen es für alle schön zu machen im Leben – da muss eben mal der eine, mal der andere Kompromisse eingehen.”

Was fehlt Euch ganz besonders während des Lebens und für das Leben mit FAS-Kindern?

Anine: “Aufklärung!

Viele Menschen wissen nichts oder sehr wenig über das Fetale Alkoholsyndrom. Die, denen es etwas sagt, können meist nur von gescheiterten Pflegefamilien-Verhältnissen und später suchtkranken und kriminellen Jugendlichen erzählen. Eine Realität, die ich nicht verdrängen möchte, die aber nicht in Stein gemeißelt sein muss.

Insgesamt betrachtet ist FAS eine unglaublich tabuisierte Behinderung. Betroffene werden vorverurteilt und abgelehnt, oder ihre Behinderung als Modeerscheinung degradiert. Das macht sie und ihre Familien zu Einzelkämpfern.

Ich glaube, mit dem richtigen Netz aus Hilfsangeboten können auch FAS-Kinder viel erreichen. Damit meine ich eher Schutz- und Begleitungs-, als Therapiekonzepte. Bei jedem Therapieangebot für FAS-Kinder muss sich immer wieder bewusst gemacht werden, dass die Behinderung durch keine Therapie der Welt ‘wegtherapiert’ werden kann. Wechselnde Therapien, Außer-Haus-Termine – all das ist sehr anstrengend für ein FAS-Kind. Weniger ist oft mehr.”

 

Die Kinder:

+ Der 13 Jahre alte, leibliche Sohn Nono erfreut sich bester Gesundheit, mag Fußball und Volleyball und geht aufs Gymnasium

+ Mäx, leiblicher Sohn, ist 11 Jahr alt und besucht die Realschule für Hören und Kommunikation, denn er ist verschlechternd tieftonschwerhörig. Sein Herz schlägt für Move Artistic.

+ Der dritte leibliche Sohn Feivel ist 6 Jahre alt, besucht die Vorschule einer Förderschule für Hören und Kommunikation. Er hat AVWS (Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung) mit Verdacht auf verschlechternde Tieftonschwerhörigkeit. Außerdem erlitt er unter der Geburt eine Asphyxie (drohender Erstickungszustand durch Absinken des arteriellen Sauerstoffgehalts) aufgrund einer Schulterdystokie. Wenn Feivel nicht gerade draußen spielt, dann schnitzt, hämmert und leimt er mit Vorliebe an seiner Werkbank.

+ Der 3jährige Pflegesohn Liu hat FAS mit folgenden Auswirkungen: autistische Züge, frühkindliche Traumatisierung, entwicklungsverzögert mit Impulskontrollstörungen, selbststimulierendes und selbstverletzendes Verhalten, kaum Gefahrenbewusstsein, Echolalie, Stereotypien, demenz-ähnliche Zustände. Liu erfüllt im diagnostischen Zwei-Säulen-Modell 100 Prozent auf der Verhaltensebene, hat aber wenig äußerliche Auffälligkeiten und kaum körperliche Einschränkungen; lediglich im feinmotorischen Bereich. Er hat FAS-typische Gesichtszüge, aber einen sehr großen Kopfumfang. Er schielt und ist weitsichtig, weshalb er eine Brille trägt. Er ist schwerbehindert mit 80 Prozent und den Merkmalen G,B,H und Pflegegrad 3. Liu spielt gerne Fußball, mag Eisenbahnen und Busse.

+ Pflegetochter Tia ist ein Jahr alt und leidet an Innenohrschwerhöhrigkeit mit Hörbahnreifeverzögerung. Sie durchlitt nach der Geburt einen Amphetaminentzug, der im ersten Jahr monitorüberwacht wurde. Die Beeinträchtigungen durch das Fetale Alkoholsyndrom bisher sind zwei mittlerweile verwachsene Löcher im Herzen, deutliche Nierenvergrößerung, aber mit guter Rückbildung. Tia ist körperlich deutlich hypoton und leicht entwicklungsverzögert. Positiv: Ihr bisheriges Bindungs- und Sozialverhalten ist sehr gesund.

*Namen sind zum Schutz der Familie geändert

** “Wir für Pänz” in Köln ist eine Beratungseinrichtung, die sich seit 25 Jahren um Familien mit Kindern kümmert, die chronisch krank sind, behindert oder entwicklungsverzögert. www.wir-fuer-paenz.de

*** Freier Träger Erziehungsbüro Rheinland: www.erziehungsbuero.de

Autorin: Dagmar Elsen

Zehn Jahre emotionale Achterbahnfahrt

Die Geschichte der Familie Schubert aus Bremerhaven ist eine, bei der man sich schwer tut mit der Entscheidung: Welcher Aspekt ist der wichtigste und gehört in die Headline? Ist es die beeindruckende und für andere mutmachende Tatsache, dass das Ehepaar Sabine und Michael Schubert gleich drei Pflegekinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom aufgenommen hat? Ist es die Tragödie, eines dieser Kinder im Alter von 10 Jahren tränenreich weggegeben haben zu müssen, weil die Zustände die Familie fast auseinander gesprengt haben?

Oder ist es der unglaubliche Vorwurf an das Jugendamt, bewusst verschwiegen zu haben, dass die leibliche Mutter des damals drei Monate alten Babys nicht nur Drogen, sondern auch reichlich Alkohol getrunken hat, um eine Akte weniger zu haben? Es könnte auch der Kampf der Eltern gegen den Sinneswandel der Behörden sein, FAS sei eine Modediagnose. Eltern wollten ihr Kind krank machen, nur um Geld abzusahnen. Dabei sei es vielmehr so, dass sie offensichtlich als Eltern versagt haben?

Auch folgende Aussage von Sabine Schubert ist von enormer Tragweite, da Hoffnung für Pflegeeltern und FAS-Kinder gleichermaßen: “Es war für uns undenkbar, noch einmal ein FAS-Kind anzunehmen. Und jetzt bin ich total glücklich. Von Bethel im Norden bekommen wir eine selbstverständliche Unterstützung, die ich mir für andere Eltern und ihre Kinder nur wünschen kann. Hätten wir die von Anfang an gehabt, wäre alles anders gekommen.”

Die emotionale Achterbahnfahrt der Schuberts beginnt im Krankenhaus von Bremerhaven im Mai 2005. Sabine bekommt von einer Sozialarbeiterin ein drei Monate altes süßes Baby in den Arm gelegt. Diese erklärt den freudigen und aufgeregten Pflegeeltern, dass es sich um das Kind einer drogenabhängigen Frau handele. “Von Alkoholkonsum der Mutter kein Wort”, erinnert sich Sabine. Mit der Liebe einer Familie würden sich solche Kinder ganz normal entwickeln, habe die Sozialarbeiterin prophezeit. “Plötzlich machte diese Druck”, weiß Sabine noch ganz genau, “sie forderte uns auf, dass wir uns sofort entscheiden müssten, da es eine Menge anderer Paare gäbe, die Schlange stünden, das Kind haben zu wollen.” Mit einem süßen Baby im Arm, wer sage da schon nein, fragt die leidenschaftliche Vollzeit-Mama.

Das süße Baby Anna* entwickelt sich zu einem sehr hübschen, aber nicht zu einem “normalen” Mädchen. Es ist hochaggressiv mit einer Neigung zu gewalttätigen Übergriffen und überdurchschnittlich intelligent. Eine für FAS eher ungewöhnliche Kombination – mit fatalen Folgen. Anna kann täuschen und manipulieren, dass sogar Fachleute auf sie hereinfallen. Jugendamt, psycho-sozialer Dienst schenken den Eltern des vordergründig sprachgewandten, hilfsbereiten und höflichen Mädchens keinen Glauben. Immer wieder heißt es “Sie versagen als Eltern”, erzählt Sabine. Bei einem Polizeieinsatz im trauten Familienheim ziehen die Polizisten kopfschüttelnd wieder ab, weil sie den Eltern nicht glauben wollten, dass dieses liebe Mädchen derart gewaltbereit ausgerastet sein sollte, dass die Eltern und der inzwischen hinzu gekommene Pflegesohn Taylor* um ihr Leben fürchteten.

Bis zu diesem Zeitpunkt, als sich sowohl tags als auch nachts nur noch Randale abspielte, hatten die Schuberts schon eine lange Odysee hinter sich, Unterstützung für ihr Kind zu bekommen. “Ich hatte von einer Studie der Uni Münster gelesen, bei der es um die geistige Entwicklung von Drogenentzugskindern ging”, erzählt Sabine. So lernte das Ehepaar 2008 den FAS-Spezialisten Dr. Reinhold Feldmann kennen. Die FAS-Diagnose für Anna folgte auf dem Fuße. “Wir kontaktierten die leibliche Mutter”, berichtet die heute 39jährige. Diese habe sich sehr ehrlich und auskunftsfreudig gezeigt und zum Nachweis alles aufgeschrieben, was sie an Drogen konsumiert hatte. Auf der Liste stand neben Tabletten, Reinigungsmitteln, diversen anderen Drogen auch Alkohol. Trotz Vorlage dieses Nachweises und eines Gutachtens Dr. Feldmanns verlautete es beim Jugendamt Bremerhaven: FAS ist eine Modeerscheinung. Sie wollen Ihr Kind nur krank machen, um sich Vorteile zu erschleichen. Den Pflegeeltern stockte der Atem. Starker Tobak. Bei diesen Kommentaren verpuffte die Erleichterung über die FAS-Diagnose, die den Eltern bescheinigte, nicht schuld an den schweren Verhaltensstörungen des Kindes zu haben, allzu schnell.

Es wandten sich auch Freunde und Familienmitglieder ab, solche die meinten: Lasst’ das Kind doch einfach mal sein wie es ist. Das Ehepaar Schubert solidarisierte sich mit anderen Pflegeeltern. “Untereinander müssen wir uns nichts erklären. Jeder versteht den anderen”, sagt Sabine. Sie und ihr Mann kämpften weiter. Für Anna. Und für sich selbst als Familie. “Wer gibt schon gern sein Kind wieder weg? Wer gesteht schon gerne ein, dass er es nicht geschafft hat?”, bekennen die Eltern.

Zehn Jahre dauerte der Kampf, der einer Zerreißprobe gleich kam. In der Zwischenzeit hatten die Schuberts ein weiteres Pflegekind angenommen, einen neun Monate alten Jungen, von dem bekannt war, dass seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hatte. Taylor bekamen die Schuberts über den Hamburger Förderverein für Pflegekinder und ihre Familien Pfiff***. “Wir dachten, ein ‘normales’ Kind würde nicht passen”, erklärt Sabine, die mit großer Leidenschaft Mutter ist. Taylor ist normal intelligent und alles andere als aggressiv. Er verspürt keinen inneren Druck wie seine Schwester, die in allem immer die Beste sein will. Und er teilt für sein Leben gern. “Nicht wie Anna”, erzählt die Mutter, “die schon völlig ausgerastet ist, wenn man ihr Lego nur von weitem angeschaut hat.”

Mit Taylor und “Pfiff” erlebt das Ehepaar, wie es auch anders geht. Die Diagnose wird ohne Misstrauen und Diskussionen anerkannt. Die Einrichtung weiß um die Bedeutung und Schwere der Beeinträchtigungen durch FAS. Lediglich als Taylor eingeschult wird, müssen die Schuberts um eine Schulassistenz kämpfen, was aber daran liegt, dass die Zuständigkeit inzwischen nicht mehr in der Hand von Pfiff liegt.

Das Leben mit Anna indes bleibt schwierig und turbulent. Dr. Feldmann zieht die Notbremse und vermittelt 2014 eine vollstationäre Therapie über fünf Wochen bei seiner renommierten Kollegin Dr. Heike Hoff-Emden, die das Sozialpädiatrische Zentrum in Leipzig leitet. An deren Ende entsteht ein eindrucksvolles Gutachten, das die ernüchternde Klarheit bringt: Das Mädchen wird höchstwahrscheinlich die Familie sprengen. Ein Notfallplan wird erstellt, der beinhaltet, dass Anna beim nächsten Übergriff die Familie verlassen muss. Der ultimative Showdown lässt nicht lange auf sich warten. Anna muss von jetzt auf gleich zu einer Notpflegemutter. Auch da kommt es nach wenigen Tagen zur Eskalation. Anna, wieder einmal in unbändiger Wut, will dem anderen Pflegekind, einem Baby, mit dem Messer den Kopf abschneiden. “Das Baby war ihr zu laut”, erzählt ihre Pflegemutter, um klar zu stellen, was bei Anna ausreicht, um völlig auszurasten.

“Jetzt endlich glaubte uns das Jugendamt”, berichtet Sabine. Schweren Herzens verabschieden sich die Schuberts von ihrem ersten Kind, das in einer Wohngruppe untergebracht wird, bleiben aber ihre sorgenden Eltern. Das werde sich auch nicht ändern, versichert Sabine. Aber dass Anna irgendwann wieder nach Hause zurückkehren kann, halten die Schuberts für ausgeschlossen.

Inzwischen haben die Schuberts, die mit Leib und Seele Pflegeeltern sind, noch ein alkoholgeschädigtes Kind angenommen: den nunmehr zwei Jahre alten Joel. “Acht Wochen dauerte der Entzug in der Klinik”, erzählt Sabine, “ich hatte ihn den ganzen Tag am Körper, er brauchte permanente Nähe”. Ihn vermittelte die Organisation Bethel im Norden. “Die kümmern sich um alles, so, als wäre Joel ihr eigenes Kind, es gibt keine Diskussionen um Fördermaßnahmen oder entlastungsfreie Stunden für die Eltern”, schwärmt die engagierte Mutter und mutmaßt: “Wenn ich das bei Anna gehabt hätte, wäre alles anders gekommen.” Das belastet Sabine Schubert immer noch. Außerdem auch die Tatsache, dass für Pflegekind Taylor inzwischen das Jugendamt Bremerhaven zuständig ist. Seitdem heißt es wieder kämpfen, kämpfen kämpfen; zur Zeit gerade um die Fortsetzung der Schulassistenz. Dennoch kann Sabine Schubert mit voller Inbrunst sagen, dass sie glücklich ist.

*Die Namen der Kinder sind geändert

**Bethel im Norden (www.bethel-norden.de) gehört zu den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

*** Pfiff für Pflegekinder und ihre Familien e.V. (www.pfiff-hamburg.de)

Autorin: Dagmar Elsen