Wut auf mich. Und Wut auf die Gesellschaft
Der Klassiker: über Wochen hinweg nicht gewusst zu haben, schwanger zu sein. Wie gnadenlos das Schicksal zuschlagen kann, zeigt die Geschichte von Claire (Name geändert). Claire und ihr Mann wünschten sich so sehr ein Kind. Im Lauf der Jahre erlitt die heute 35-Jährige sechs Fehlgeburten. Als dann on top der Arzt eine Krebsdiagnose an den Eierstöcken diagnostizierte und dem Paar eröffnete, dass Claire nicht mehr schwanger werden könne, dachte sie, okay, dann kann ich es ja auch mal wieder krachen lassen. Bislang hatte sich die selbstständige Eltern- beraterin mit Alkoholkonsum zurückgehalten. Aber jetzt? Jetzt konnte sie ordentlich feiern gehen.
Als Claire erzählt, dass sie doch schwanger wurde, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Es war ein Wunder und ein Schock zugleich. Claire bemerkte die Schwangerschaft erst spät. Ihr Sohn ist inzwischen sieben Jahre alt. Diagnose im Alter von sechs Jahren: fetale Alkoholschäden. Drei Jahre nach ihrem ersten Kind brachte Claire noch einen zweiten Sohn auf die Welt. Er ist gesund, da sie früh wusste, wieder schwanger zu sein.
Als Du gesehen hast, dass Du doch schwanger bist, was schoss Dir als Erstes durch den Kopf?
Claire: Ich habe sofort gedacht, Scheiße, ich habe gedacht Scheiße, weil ich eine Zigarette in der Hand hatte. In der einen Hand hatte ich den positiven Test und in der anderen die Zigarette. Ich guckte die Zigarette an und guckte diesen Test an, und dann dachte ich, verdammt, du hast letzte Woche noch Alkohol getrunken. In völliger Panik bin ich noch am selben Tag zum Arzt. Der beruhigte mich erst mal mit den Worten: Da brauchen Sie sich keine Gedanken machen, das wird keine Auswirkungen haben. Dabei war ich schon in der 13. Woche plus 3. Ich sah dieses kleine Würmchen im Ultraschall und war voller Angst. Aber der Arzt meinte: Nein, Sie wussten ja nicht, dass Sie schwanger sind, und as Kind hat es ja geschafft. Er ist wohl davon ausgegangen, dass sich das Ei sonst gar nicht eingenistet hätte. Auch weil ich ja schon vorher Fehlgeburten hatte.
Die Vorstellung, was der Alkohol anrichten kann, war zu diesem Zeitpunkt für Dich noch diffus?
Claire: Ja. Ich wusste nur, Alkohol ist nicht gut. Aber was da wirklich passiert, das war mir nicht klar. Und dem Arzt wohl auch nicht.
Hast Du dem Arzt vertraut, dass nichts passiert sein kann, oder hattest Du unterschwellig Sorge während Deiner Schwangerschaft?
Claire: Ich habe es tatsächlich völlig weggeschoben. Wahrscheinlich habe ich deshalb auch Wochenbettdepressionen bekommen, weil ich unterschwellig geahnt habe, dass ich meinem Kind etwas angetan habe. Während der Schwangerschaft war ich immer alleine. Ich durfte nicht arbeiten gehen, weil ich permanent Sodbrennen hatte. Ich hatte keine Freundinnen, die auch schwanger gewesen wä- ren. So war ich wirklich immer auf mich alleine gestellt. Es ist alles so verschwommen in der Erinnerung, so vernebelt. Wie in so einer Blase.
Wann hast Du gemerkt, hier stimmt etwas nicht?
Claire: Nachdem wir von der Entbindung zu Hause waren, ab da hat mein Kind nur noch geschrien. Das ist immer schlimmer geworden. Er hat immer mehr und immer noch mehr geschrien – bis zu zwölf Stunden am Tag.
Wie hat Dein Umfeld reagiert?
Claire: Alle haben immer nur gesagt – na ja, das ist halt so. Und ich war nur noch müde. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das ausgehalten habe. Selbst mein Mann weiß es nicht mehr, wie wir das alles überstanden haben. Ich weiß nur noch, dass ich mich komplett abgeschirmt habe, dass ich niemand mehr an mich rangelassen habe. Es gab dann auch viel Streit mit meinem Mann.
Warst Du mal in einer Schreiambulanz?
Claire: Ja, die haben mir das Schreien angeraten, ich soll ihn schreien lassen. Später, ab dem 6. Monat kam auch eine Familienhebamme. Die hat dann Druck gemacht. Okay, du musst alles dokumentieren – wie viel Brei isst er, wie viel schläft er, und gab mir auf: Du legst ihn hin und lässt ihn konsequent schreien.
Niemand kam auf die Idee, auch kein Kinderarzt, es könne sich um FAS handeln?
Claire: Nein. Obwohl ich immer wieder darauf hingewiesen habe, dass ich Al- kohol während der Schwangerschaft getrunken habe. Sechs Jahre haben wir gekämpft, bis wir einen Arzt gefunden haben, der die richtige Diagnose gestellt hat. Unfassbar war, dass die Hebamme glaubte, ich sei gewalttätig gegenüber meinem Kind. Ab diesem Zeitpunkt habe ich keine fremde Hilfe mehr angenommen. Dann ging es weiter, dass er in der Krippe verhaltensauffällig war. Er war sehr aggressiv. Immer! Er hat sich auch selbst verletzt. Außerdem ist er auf Zehenspitzen gegangen. In der Krippe meinten sie, er sei Autist.
Alle sagten immer, wir seien schuld, wir würden zu viel klammern, wir würden zu viel streiten. Ja, wir haben uns gestritten. Aber das lag natürlich auch daran, dass wir völlig überlastet waren. Das Kind war immer fordernd. Immer!
Wir haben dann einen Integrationshelfer beantragt. Und wir sind ins Sozialpäd- iatrische Zentrum. Aber wir bekamen ständig nur zu hören: Sie sollten mal Ihre Erziehung ändern. Als mein Sohn zwei Jahre alt war, hieß es, er muss doch jetzt mal trocken sein, und der Schnuller muss weg. Ich sagte nur, wenn der keinen Schnuller haben darf, dann rastet der total aus. Ich bekam nur noch Zweifel an mir selber wegen der Erziehung.
Dann kam die entscheidende Wende. Ich stieß auf Instagram auf die Kampagne „Happy Baby No Alcohol“ und begann zu recherchieren.
Ihr seid zu einem FAS-Spezialisten gegangen. Wie habt Ihr die Diagnose aufgenommen?
Claire: Die Diagnose kam per Post. Der Arzt hatte aber schon die Vermutung geäußert. Ich nahm den Brief mit ins Bad. Dort war gerade mein Mann. Ich setzte mich auf den Badewannenrand. Ich war total aufgeregt. Wie schon bei der Dia- gnostik. Denn ich dachte, jetzt passiert das, was mein Gefühl mir schon immer gesagt hat.
Ich fange an, diesen Brief vorzulesen, und merke, wie mir lautlos die Tränen aus den Augen schießen, ich den Badewannenrand runterrutsche, vor lauter Tränen gar nichts mehr sehen und dann auch nicht mehr sprechen kann. Mein Mann guckt mich an und sagt: Schatz, ja, das ist schlimm, aber du hast keine Schuld. Ich weiß, dass dir das unheimlich wehtut. Aber du kämpfst, und du bist so stark. Es war so unfassbar. Er war so toll zu mir. Aber ich war total verkrampft und nur noch am Weinen.
Ich erlebte solch ein Gefühlschaos, das sich im Kreis drehte: Du hast dein Kind geschädigt, du bist eine schlechte Mutter. Aber du hast es doch nicht mit Absicht gemacht. Sobald du erfahren hast, dass du schwanger bist, hast du sofort aufgehört, du hast penibel drauf geachtet, was du isst. Du hast ja auch bei dem anderen Kind nicht getrunken, weil du viel früher wusstest, dass du schwanger bist. Und der Junge ist gesund. Du musst dir keine Vorwürfe machen. Gott sei Dank haben wir jetzt die Diagnose, die Bestätigung, dass es nicht an mir liegt, dass das Kind nicht so funktioniert, wie die Gesellschaft es gerne möchte. Gott sei Dank haben wir jetzt jemanden, von dem ich weiß, dass ich Hilfe bekomme.
Wer hat Dich aufgefangen?
Claire: Besonders der Arzt. Der hatte mir im Gespräch gesagt: Claire, Sie sind in 15 Jahren die dritte Mutter, die dazu steht, dass sie in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Alleine schon dafür gebührt Ihnen viel Respekt. Sie haben verdammt viel durchgemacht, jetzt sind Sie aber hier und wir unterstützen Sie. Und ich war so am Heulen. Ich könnte immer wieder heulen, weil der Arzt mich so aufgefangen hat.
Wichtig sind auch mein Mann und meine Mutter. Sie sagen mir immer wieder: Du hast keine Schuld. Du wusstest es nicht.
Du hattest mal mit dem Gedanken gespielt, das Kind wegzugeben, an eine Pflegefamilie. Wie kam es dazu?
Claire: Ich habe immer wieder so Phasen, wo es mir ganz ganz schlecht geht, wo ich so denke, vielleicht ist es doch besser, er lebt woanders, denn ich bin ja schuld, dass er so ist wie er ist. Wieso sollte ich dann gut für ihn sorgen können?
Auch Überforderung war ein Grund und der ständige Druck vom Kindergarten, sowie die Vorwürfe, das Kind falsch zu erziehen. Und dann noch die Sprüche anderer Menschen, von wegen „Wenn man so ein Kind hat, dann kriegt man doch kein zweites“, oder „Du musst dich halt hinten anstellen.“
Wie reagierst Du auf die Attacken?
Claire: Einerseits möchte ich aufklären, möchte ich es in die Welt schreien, wie könnt ihr nur einer Mutter, die einen Fehler gemacht hat, wie könnt ihr ihr auch noch Vorwürfe machen? Andererseits möchte ich das Kind nur beschützen. Es ist so anstrengend.
Wie haben Deine Familie und engere Freunde reagiert, als klar war, das Kind ist schwierig, weil hirnorganisch geschädigt, weil Du Alkohol getrunken hast in der Schwangerschaft?
Claire: Eigentlich gar nicht reagiert. Es gab gar nichts, keine Äußerung wie, oh, schön, dass ihr endlich eine Diagnose habt, schön, dass ihr jetzt Hilfe bekommt.
Auch kein Mitgefühl?
Claire: Nee, gar nicht. Es wird einfach totgeschwiegen!
Aber es ist doch eine Diagnose, die ein ganzes Leben verändert.
Claire: Tatsächlich ist das den Leuten nicht bewusst, was das bedeutet. Die sehen zwar, dass das Kind auffällig ist, aber sie meinen und fragen mich: Ist das nicht alles ein bisschen übertrieben, was du da machst? Suchst du die Aufmerksamkeit?
Es gibt aber auch Leute, die interessiert hinterfragen, warum ich zum Beispiel einen Schulbegleiter für das Kind habe. Es ist sehr sehr unterschiedlich.
Freunde haben wir im Prinzip gar nicht mehr. Eine Freundin gibt es, die ist immer für mich da. Aber sonst, nein. Mitgefühl gibt es gar nicht. Mein Kind ist abgestempelt seit dem Kindergarten und ich auch – dass das Kind verhaltensgestört ist, weil ich es schlecht erziehe.
Wann ist Dir klar geworden, was die Diagnose für Dein Leben bedeutet?
Claire: Das war ein schleichender Prozess, dass mir bewusst geworden ist, dass er sein Leben lang mehr Aufmerksamkeit brauchen wird. Er wird nicht alleine einen Haushalt führen können. Im Laufe der Zeit ist mir bewusst geworden, dass mein Leben anders verlaufen wird als geplant. Ich habe jetzt eine andere Verantwortung. Aber ich habe immer schon in meinem Leben Verantwortung tragen müssen. Ich hatte auch immer ein besonders ausgeprägtes Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein. Nicht umsonst bin ich aktiv bei der Freiwilligen Feuerwehr.
Verspürst Du auch manchmal Wut?
Claire, mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen: Ja, die habe ich. Wut gegenüber der Gesellschaft. Wut gegenüber mir selbst. Also Wut ist ganz prägnant. Ich bin aber dankbar, dass ich so gut damit umgehen kann, dass die Wut einfach nur in Weinen übergeht. Ich bin wütend auf die Tatsache, dass ich gar nicht mit meinem Kind überfordert bin, sondern mit dem ganzen Drumherum – wenn ich sehe, wie Leute mein Kind behandeln, wenn ich sehe, wie Leute mich beschimpfen, die mich nicht kennen.
Realisieren Deine Kinder, dass der eine gesund ist und der andere geschädigt?
Claire: Der Große hat Gespräche mitbekommen. Er hat gefragt: Mama, was ist denn FAS? Oder: Mama, du hast Alkohol in der Schwangerschaft getrunken und deshalb ist mein Hirn kaputt, richtig? Wir haben ihm ganz klar gesagt, dass sein Kopf anders funktioniert als andere. Weswegen das so ist, das haben wir ihm noch nicht erklärt. Ich bin der Meinung, er ist noch nicht so weit, dass wir ihm alles darüber sagen können. Er ist erst sieben Jahre alt. Große Angst davor ihn aufzuklären habe ich nicht. Aber davor, dass er sicherlich in eine Phase kommen wird, in der er mich hassen und mir Vorwürfe machen wird. Ich glaube, das wird die schlimmste Phase in meinem Leben. Aber ich glaube auch, dass er sehen wird, wie ich mich für ihn eingesetzt habe und wie ich für ihn kämpfe.
Merkt Dein Kind, dass es abgelehnt wird?
Claire: Ja, das merkt er schon, weil sich andere verabreden, aber mit ihm nicht. Er bettelt. Wir als Familie können ihn recht gut auffangen. Aber er wird nicht von anderen zum Geburtstag eingeladen, oder er lädt ein und keiner kommt. Meine weitere Familie holt ihn nie zu sich, nur seinen kleinen Bruder. Das trifft auch mich. Obendrein habe ich deshalb null Unterstützung. Du musst mal ruhiger werden. Bekomme dann aber vorgeworfen, ich sei überfordert.
Quelle: “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, von Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein