Die Diagnose, die wie ein Fallbeil wirkt

„Es war ein trockener, sonniger Sommertag im August. Eigentlich ein herrlicher Tag. Doch ich, ich saß wie steif gefroren auf einem Stuhl vis-à-vis dem Arzt, der mein Kind stationär in der Klinik von Kopf bis Fuß über drei Wochen durchgecheckt hatte. Immer wieder hatte ich während dieser Zeit Fragebögen ausfüllen müssen, Lehrer meines Kindes hatten Fragebögen ausfüllen müssen, eine knappe Woche lang war auch ich immer wieder vor Ort zu Gesprächen mit und ohne mein Kind gebeten worden. Ich ahnte schon, was kommen würde. Flach atmend, aber gefasst, nahm ich die gefürchtete Diagnose entgegen: ‚Ihr Kind hat das Fetale Alkoholsyndrom. Vollbild.‘ Der Satz ‚Sein Hirn ist durchlöchert wie das eines Vollalkoholikers‘, donnert mir bis heute nach. Den werde ich auch niemals vergessen. Es war brutal. Beim Wort Vollalkoholiker liefen ostentativ Bilder in meinem Kopf ab. Bilder von heruntergekommenen Menschen, die irrationale Gedanken aussprechen, mal wirr, mal klar sind, in ihrer eigenen Welt leben, oft unfreundlich sind, viel vergessen, mit dem Leben nicht klarkommen.

Natürlich kam diese Diagnose für mich nicht überraschend. Ich war darauf vor- bereitet worden. Aber wenn sie dann ausgesprochen wird, diese Diagnose, die wie ein Fallbeil wirkt – bekommt alles, aber auch alles eine andere Dimension. Ich konnte dem Arzt gar nicht mehr richtig zuhören, sah ihn nur noch wie durch einen Schleier. Ich fühlte mich, als stürze der Himmel ein. Ich spürte, wie mir plötzlich das Blut durch die Adern schoss, als ich an die Endgültigkeit der Schäden im Hirn mei- nes Sohnes dachte. Meine Gedanken kreisten: FAS ist irreparabel. Mein Kind wird sein Leben lang mit den Folgen seiner schweren geistigen Beeinträchtigungen zu kämpfen haben. Mein geliebtes Kind wird nie selbstständig sein können. Es wird immer auf Hilfe angewiesen sein. Was soll das alles bloß werden?

Immer wieder irrlichterten Fragen durch meinen Kopf, während der Arzt zu mir sprach: Wird er überhaupt einen Schulabschluss scha en? Wird er in der Lage sein, eine Ausbildung zu absolvieren, einen Beruf ergreifen können? Wie wird sein Leben? Wird er mit seinem Schicksal klarkommen? Oh mein Gott, was wird bloß aus ihm werden? Wie lange werde ich ihn beschützen können? Ich scha te es ja jetzt schon nicht mehr allumfänglich. Es waren doch schon so viele schreckliche Dinge passiert.

Und auch diese stumme Frage tauchte vor mir auf: Was wird das alles mit mir ma- chen, mit unserer Familie? Können wir es verantworten, ihn zu Hause zu behalten? Werden wir ihn weggeben müssen? Und wohin dann? Wie wird unser Verhältnis zueinander sich verändern? Werden wir ihn gar verlieren? Die Sorgen und Ängste schnitten mir die Kehle zu. Tief in mir spürte ich, dass ich am Ende meiner Kräfte war, meine Ressourcen waren schlicht erschöpft. Ich hatte lange genug gekämpft. Die Gedanken an die Zukunft brachen mir das Herz.“

Adoptivmutter Leonie hat ihr 14 Jahre altes Kind auf dringendes Anraten der Ärzte, Pädagogen und Therapeuten nach einem dreimonatigen Klinikaufenthalt in eine Wohngruppe mit 24-Stunden-Betreuung in der Nähe ihres Wohnortes gegeben. Die familiäre Anbindung blieb intensiv. Das Verhältnis zwischen Leonie und ihrem Sohn ist bis heute liebevoll und innig, auch wenn sie im Verlauf der Jahre viele Täler zu durchqueren hatten.

Leonies Sohn ist ein klassisches Beispiel für Tausende von Kindern, denen die feta- len Alkoholschäden nicht schon bei der Geburt ins Gesicht geschrieben sind, von denen dem Arzt nicht bekannt ist, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Und so bleiben die alkoholbedingten Behinderungen oft genug bis ins Schulalter hinein unerkannt. Den Kindern und ihren Eltern, sowie allen anderen Menschen in ihrem Umfeld ist zwar bewusst, dass sie beispielsweise Verhaltens- und Lernstörungen haben, manches nicht gut oder gar nicht können so wie andere. Dennoch führen die Kinder jahrelang ein „normales Leben unter normalen Menschen”. Als behindert gelten andere, jene, denen man ihr Handicap sofort ansieht oder anmerkt. Und dann kommt der Tag, an dem die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern plötzlich die Schockdiagnose ereilt: Fetales Alko- holsyndrom!

Weder Eltern noch ihren Sprösslingen ist dieses Krankheitsbild in aller Regel besonders vertraut. Sie betreten ein Neuland, das obendrein sehr komplex und kompliziert ist. Zudem ist das Fetale Alkoholsyndrom eine Diagnose, die das Leben aller Beteiligten für die Zukunft komplett verändert. Ängste und Sorgen beherrschen die Gedanken.

Dazu gibt es ein Interview mit dem FASD-Experten Dr. Khalid Murafi , Chefarzt der Klinik Walstedde – Seelische Gesundheit für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene: https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2018/12/03/ploetzlich-die-schockdiagnose/

Quelle: “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein