Unter Tränen sagt die dreifache Mutter: Jetzt erklärt sich so vieles
“Letzte Woche wollte ich mir zwei Rubbellose kaufen, hatte meinen 12jährigen Sohn dabei, und musste den Ausweis zeigen. Das passiert mir ganz oft. Freitag wurde ich von der Polizei angehalten, ob ich überhaupt Auto fahren darf. Das war nicht das erste Mal. Jetzt habe ich mir schon extra die grauen Haare rauswachsen lassen, damit man sieht, dass ich älter bin. Und trotzdem werde ich angehalten, weil man meint, ich sei noch keine 18 Jahre. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.”
Michaela*, 40 Jahre alt, Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS). Sie lebt in Nordrhein-Westfalen mit ihrem Mann und den drei Kindern. Sie ist nur 147 Zentimeter groß, leidet, wie sie selbst sagt, unter eingeschränkter Merkfähigkeit, globaler Intelligenzminderung, Konzentrationsschwächen, einem dreifachen Nierenbecken, Bindegewebsschwäche und steht mit Mathe auf Kriegsfuß.
Dennoch habe sie, wie sie stolz erzählt, in ihrem Leben einiges erreicht. Vier Abschlüsse hat sie gemacht: in Kinderpflege, Heilerziehungspflege, Krankenpflegehilfe und Bürokauffrau. Dafür hat sie aus eigenem Antrieb nach der Hauptschule den Realschulabschluss nachgemacht und schließlich auch das Fachabitur abgelegt. Das Arbeitsamt nötigte sie zu einer Ausbildung als Bürokauffrau. “Das war sehr anstrengend für mich. Aber ich musste das machen, weil ich keine Arbeit gefunden habe”, erläutert Michaela.
Sie habe einige Jahre Vollzeit in der Krankenpflege gearbeitet, erzählt die 40jährige, sei aber vom Arbeitgeber bis zur Erschöpfung ausgenutzt worden: “Ich habe beispielsweise ein Jahr sämtliche Feiertagsdienste von 12 bis 20 Uhr übernehmen müssen, obwohl ich kleine Kinder hatte. Und ständig Extra-Schichten geschoben. Man drohte mir mit Kündigung, wenn ich das nicht mache.”
Irgendwann konnte sie nicht mehr. Sie fühlte sich permanent überfordert. War chronisch erschöpft. Eines Tages schmiss sie den Job. Sie nahm alle möglichen Jobs an. Selbst als sie als Ferkel-Hebamme gearbeitet hat, sagte sie zu ihrem Mann: “Alles besser als der Pflegedienst.” Und der Job auf dem Schweinehof war beileibe kein Zuckerschlecken: “Bei 60-80 Sauen, die in der Nacht gleichzeitig ferkeln, habe ich aus der Sau die Viecher rausgeholt und die toten platten weggeräumt und die Nachgeburten entsorgt. So ‘ne Sau kriegt im Durchschnitt 13-14 Ferkel und Du musst aufpassen, dass sie von der Mutter nicht platt gelegen werden. Das ist ja eng da in der Box und so ‘ne Sau wiegt 140 Kilo. Außerdem musst Du gucken, dass die Ferkel nicht im Geburtskanal stecken bleiben. Da musste ich mit dem Arm bis zur Schulter in die Sau rein und die rausholen.”
Doch auch bei diesem Job, so wie schon bei allen anderen, holte Michaela nach einiger Zeit das Thema Überforderung wieder ein. Sie haderte mit ihrem Schicksal, wollte wissen, warum. Bis dato wusste sie nicht, dass sie FAS hat. “Meine Adoptivmutter”, die, wie sie betont, ihre tatsächliche Mutter ist, “die hat immer gesagt, da könnte etwas sein.” Es war bekannt, dass die biologische Mutter Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat.” Michaela wurde aber nie daraufhin untersucht. In den 80er Jahren sei FAS noch nicht so im Fokus der Öffentlichkeit gewesen. “Es ist ja heute noch ein Tabuthema”, konstatiert und kritisiert Michaela.
Außerdem seien Kindheit und frühe Schulzeit unproblematisch verlaufen, so dass sich nie Handlungsbedarf aufgetan habe. Die Eltern, die noch ein leibliches Kind haben, das zu 100% geistig und körperlich behindert ist, lebten früh den Inklusionsgedanken und förderten ihr Adoptivkind positiv. Montessori heißt das Zauberwort. Die schwerstbehinderte Schwester sei eine der ersten gewesen, die eine Regelschule besucht habe.
Nun aber, Michaela ist 38 Jahre alt, will sie es wissen und lässt sich in der FAS-Erwachsenendiagnostik in Essen untersuchen. Unter Tränen sagt die dreifache Mutter: “Jetzt erklärt sich so vieles.”
Inzwischen bekommt die 40jährige auch psychologische Unterstützung: “Ich habe ganz ganz viel Furcht und heule sehr viel, weil ich mir selber nichts zutraue, was man mir nicht anmerkt, weil ich mir eine Fassade aufgebaut habe, wo man nicht so an mich ran kann.”
Was lässt die Tränen versiegen? “Mein Mann, er nimmt mich wie ich bin. Wir sind vor 18 Jahren zusammengekommen und seit 2005 geheiratet. Wir wussten einfach: das passt! Ich bin so froh, dass ich ihn habe.”
*Vollständiger Name ist der Redaktion bekannt
Autorin: Dagmar Elsen