Die zwei Trugschlüsse zum Fetalen Alkoholsyndrom
Gut zwei Jahrhunderte lang wurde das Fetale Alkoholsyndrom in der Wissenschaft äußerst stiefmütterlich behandelt. Nicht einmal die Folgen der berühmten Gin-Epidemie im 18. Jahrhundert in England, die die Londoner Gesellschaft beinahe völlig in den Ruin getrieben hatte, vermochte die Geister der Forscher zu wecken. Hundertscharen von Kindern kamen damals mit teils derart schwerwiegenden Alkoholschäden auf die Welt, dass sie entweder nicht lange lebten oder ein Leben als Schwerbehinderte fristeten.
Erst sage und schreibe 1973 kam es in den USA zum populären Durchbruch. Die beiden US-Amerikaner David Smith und Ken Jones legten den Begriff Fetales Alkoholsyndrom fest. Schnell gewannen sie für das Thema eine hohe Aufmerksamkeit, die auch nach Europa schwappte. Nun betätigten sich auch deutsche Mediziner auf diesem Feld, allen voran Professor Ludwig Spohr von der Berliner Charité. Zu dieser Zeit und noch viele Jahre später glaubte man allerdings fälschlicherweise, dass sich leichte Formen des Fetalen Alkoholsyndroms auswachsen würden. Und erst 2013 gab die Weltgesundheitsorganisation Leitlinien für die Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms heraus.*
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich in den Köpfen der Menschen falsche Vorstellungen über den Genuss von Alkohol in der Schwangerschaft und seine Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes manifestiert haben.
Trugschluss 1: Das Fetale Alkoholsyndrom betrifft nur Suchtkranke
Noch über viele Jahrzehnte der neueren Zeit waren sogar Wissenschaftler und Mediziner der Überzeugung, dass geringe Mengen Alkohol in der Schwangerschaft keine nachhaltigen Folgen haben würden. Im Gegenteil. Man riet den Frauen sogar, gegen Kreislaufschwäche Sekt zu trinken, oder zur Beruhigung und Weheneinleitung Rotwein.
Folgerichtig wurde das Fetale Alkoholsyndrom vorzugsweise den Suchtkranken zugeordnet, Frauen also, die permanent und in großen Mengen Alkohol während der Schwangerschaft konsumierten. Außerdem jenen Frauen, die über mehrere Wochen nicht gewusst hatten schwanger zu sein, und größere Mengen Alkohol getrunken hatten. Schließlich gab es hinter vorgehaltender Hand noch die Fälle, wenn beispielsweise der Spaß beim Schützenfest ins sogenannte Binge-Drinking ausuferte.
Aber die Schwangeren, die gelegentlich ein oder zwei Gläschen zum Essen, zum abendlichen Genuss, zum Anstoßen bei der Taufe oder dem Geburtstag Alkohol getrunken hatten, die waren über jeden Zweifel erhaben. Nein, ein Schlückchen, das schadet nichts. “Und schau”, sagt die Mutter zu ihrer schwangeren Tochter, “aus Dir ist ja auch etwas geworden, obwohl ich während der Schwangerschaft mit Dir hin und wieder Alkohol getrunken habe.”
Das genau ist der Teufel im Fetalen Alkoholsyndrom: Weltweit weiß bisher keiner, welche Menge Alkohol unter welchen Umständen ungefährlich ist oder eben zu leichten bis hin zu schweren Behinderungen des Kindes führt. Es gibt Frauen, die sogar hochprozentigen Alkohol wie Wodka während der Schwangerschaft trinken und es passiert nichts. Andere trinken mal ein Gläschen Wein und es hat Folgen. Das bestätigen die Ergebnisse einer Studie der Forscherin Christina Chambers von der University of California. Dem New Scientist sagte sie: “Manche Frauen trinken ein Viertel Glas Wodka jeden Tag und das Kind kommt ohne Fetales Alkoholsyndrom auf die Welt.” Es gelte zu erforschen, was den Fötus im Mutterleib vor den Auswirkungen des Alkohols schützt.
Fakt ist und bleibt: “Wir wissen, dass nicht nur Kinder von alkoholkranken Müttern FAS bekommen, sondern die Kinder der Mütter mit mäßigem Alkoholkonsum FAS-typische Verhaltensweisen aufzeigen”, bestätigt der deutsche FAS-Forscher Dr. Reinhold Feldmann von der Uni Münster. Ab welcher Menge Alkohol “definitiv erste Schäden beim Baby entstehen, ist noch unklar”, sagt die Ärztin Elena Leineweber vom Hamburger Marienkrankenhaus.
Aus diesem Grund sind sich Experten weltweit einig: Nur der vollkommene Verzicht auf Alkohol während der Schwangerschaft gibt die Sicherheit, dass das Baby ohne Schäden auf die Welt kommt, die dem Alkohol zuzuordnen wären.
Trugschluss 2: Das Fetale Alkoholsyndrom ist ein Gesellschaftschichtproblem
“Es ist ein absoluter Trugschluss zu glauben, dass Frauen mit einem höheren sozialen Status oder aus akademischen Kreisen davon ausgenommen werden könnten. Ganz im Gegenteil. Studien haben ergeben, dass jede fünfte Frau mit hohem sozialen Status einmal die Woche riskante Mengen Alkohol trinkt”, stellt die Ärztin Elena Leinweber klar.** Dies bestätigt auch Dr. Reinhold Feldmann: “Alle Bevölkerungsschichten sind betroffen.” Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sei vor allem in gut gebildeten Kreisen verbreitet. “Die Bankiersgattin trinkt in der Schwangerschaft statistisch gesehen mehr als eine Frau aus einem sozialen Brennpunkt”, sagte Feldmann in einem Gespräch mit dem Schweizer Magazin WirEltern. Das liege daran, dass sogar Frauen in den gehobenen Bildungsschichten nicht bewusst sei, dass jedes Glas Alkohol während der Schwangerschaft zu viel sei, konstatierte auch der Mediziner und Entertainer Eckart von Hirschhausen in einer Gesprächsrunde des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv. Und weiter: “Es ist vielen Frauen nicht bewusst, dass Alkohol ein Zellgift ist und die Organe des Ungeborenen schädigen kann.”
Leider ist aber nicht nur die Unwissenheit der Grund. Gerade ältere und höher gebildete Frauen zeigen sich kritischer gegenüber Richtlinien, die absolute Alkoholabstinenz in der Schwangerschaft empfehlen, hat eine Forschergruppe um Angela Lupatelli von der Universität Oslo herausgefunden. Unter anderem deshalb, weil sie nach früheren Schwangerschaften, während der sie geringe Mengen Alkohol konsumierten, gesunde Kinder zur Welt brachten.
*mehr zur Historie des Fetalen Alkoholsyndroms unter https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2018/09/23/wann-fas-zum-thema-wurde/
**siehe dazu auch das Video “Schwanger mit Doktor Ela – Teil 2” auf unserer Homepage
Autorin: Dagmar Elsen
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns Deinen Kommentar!