Chaos im Kopf bis Mama die Reißleine zog
Meine schöne Kindheit lag gefühlt so weit hinter mir. Ich kam mir eine Ewigkeit einsam und verlassen vor. Ich war froh unsere Hunde zu haben. Mit ihnen fühlte ich mich gut, ich konnte mit ihnen reden, ihnen meine Gedanken anvertrauen, sie hielten immer zu mir.
Eines Tages, als ich mal wieder die Schule schwänzte, gab es da auf einmal Jugendliche, denen war es egal wie ich war. Die sagten, “komm‘ doch mit” – die streiften durch die Gegend, rauchten, kifften, haben Getränkeautomaten kaputt getreten, im Kiosk Kaugummis geklaut, andere provoziert und sich mit denen geprügelt. Klar hab‘ ich da mitgemacht. Das konnte ich auch. Und endlich hatte ich wieder Freunde.
Angst? Ich hatte keine Angst. Vor was auch? Ich fand mich cool. Ich fand es sogar geil, aggressiv zu sein, ich habe ja nicht gewusst, dass das FAS ist. Heute weiß ich, dass mein Hirn diese Gefühle in mir ausgelöst haben. Ich hatte auch Null Gefühl für Zeit und Raum. Ja, wirklich, ich sehe Zeit nur bildlich, zum Beispiel wenn die Eieruhr läuft. Orientierung habe ich auch keine. Wenn ich den Weg nicht kenne, bin ich verloren. Naja, und Gedanken über Konsequenzen, was ich da alles anstellte, machte ich mir nicht. So weit habe ich da gar nicht gedacht. Oft war ich wie im Rausch unterwegs. Es war irgendwie nichts so richtig greifbar für mich. Ich bekam Ärger und Probleme ohne Ende.
Dann hat Mama die Reißleine gezogen. Ich kam auf einer Förderschule. Wieder war alles neu, alles anders. Aber wenigstens klein. Es wurde ruhiger. Aber nicht lange. Dann passierte etwas, was mich bis heute in Panik versetzt.
Mein damaliger Freund, zumindest dachte ich, es sei mein Freund, überredete mich, ein Mädchen klar zu machen. So hieß das. Eigentlich wollte er sie klar machen. Sie wollte aber nur mit ihm, wenn ich auch Sex mit ihr hätte. Das stimmte, das wusste ich von ihr. Sie war schon länger verknallt in mich. Ich aber wollte das eigentlich nicht. Es fühlte sich falsch an. Ich habe es trotzdem getan, weil mein Freund mich so sehr bedrängt hat. Er hat nicht aufgehört mich zu bedrängen. Ich war nicht in der Lage mich zu wehren, nein zu sagen.
Also haben wir es getan. Es ging ganz schnell. Es war scheußlich.
Ein paar Tage später, ich war mit Freunden unterwegs, rief meine Mama mich an. Die Kripo sei bei uns. Ich solle mit einem Mädchen gegen ihren Willen geschlafen haben.
Ich bin sofort nach Hause. Ich war außer mir. Es stimmte ja nicht. Aber so, wie es die Polizei behauptete, klang es ganz anders. Die machten Hausdurchsuchung. Die glaubten mir kein bisschen, die waren knallhart. Ich hatte so Mühe, die Geschichte gut wiederzugeben. Ich war total gestresst. Ich fühlte mich wie im falschen Film. Ich war verzweifelt, wütend, todunglücklich. Meine Mama auch.
Und alle haben dem Mädchen geglaubt und nicht mir. Von Mitschülern und allen möglichen anderen Leuten, das hat sich ja rumgesprochen wie ein Lauffeuer, wurde ich als Vergewaltiger beschimpft. Die haben mich gemobbt und verprügelt. Ich habe mich keine Sekunde mehr vor die Tür getraut.
Einige Tage später bekamen wir mitgeteilt, dass das Mädchen zugegeben habe, dass es von vorne bis hinten gelogen hatte und jetzt eine Anzeige bekäme wegen Vortäuschens einer Straftat. Da war ich schon längst in einer Klinik. Meine Mama hat mich ganz schnell aus dem Verkehr gezogen. Sie hatte es schon länger geahnt, aber jetzt war ihr endgültig klar geworden: Mit mir stimmt etwas nicht.
In der Klinik haben sie aber nichts besonderes feststellen können. Sie sagten, dass das alles mit meiner Vorgeschichte, meinen schrecklichen Erlebnissen und der Adoption zu tun habe. Mama hat nicht locker gelassen. Sie brachte mich in eine andere Klinik, weit weg in Münster. Seitdem weiß ich, dass ich FAS habe. Ich weiß auch noch genau, wie Mama mir erklärt hat, was genau FAS ist. Als sie gesagt hat, dass man es nicht heilen kann, war ich sehr wütend und traurig zugleich.
Drei Monate musste ich in der Klinik bleiben. Ich bekam Medikamente und ganz viele verschiedene Therapien, alleine und in der Gruppe. In der Kunsttherapie zum Beispiel haben wir Sachen gemacht, um unsere Gefühle auszudrücken. Bewegung war täglich mehrfach angesagt: Spazieren gehen alleine mit Betreuer oder in der Gruppe, joggen, Sporthalle, ja und reiten. Erst wollte ich nicht, aber dann fand ich es doch schön. Ach, und der Klinikhund. Den habe ich leider zu wenig bei mir haben können. Besonders gut gefallen und gut getan haben mir die Einzelgespräche mit den Ärzten. Während dieser Gespräche habe ich viel gelernt über mich und wie ich mit mir umgehen muss. Es klappt aber leider nicht immer, auch wenn ich mir Mühe gebe. Vieles realisiere ich gar nicht. Ich habe keinen Raum dafür in meinem Kopf. Ich kann es wirklich nicht, auch wenn ich mir Mühe gebe. Deshalb läuft in meinem Leben immer wieder so einiges schief. Es ist aber kein Vergleich zu früher. Darüber bin ich sehr froh.
Im nächsten Blog erzählt Luca, wie schwer die Entscheidung war von zu Hause wegzugehen, um fortan in einer betreuten Wohngruppe zu leben, und wie mühsam es war, sich in seinem neuen Leben zurecht zu finden.
Autorin: Dagmar Elsen
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